Tuesday, January 26, 2016

Behandlungszeitraum 2011
















The Russian Policemen in KaWe (218) 
29.Januar 2011, Königs-Wusterhausen/Katakombe 

„Scheiße, hab ich was falsch gemacht?“ fragt der junge Mann im eingeschüchterten Affekt Doktor Makarios am Eingang zur heutigen Konzertauftaktstätte, der Katakombe in Königs-Wusterhausen. Das Tourauto parkt direkt hinter ihm ein. „Nee, falsch gemacht, wieso?“ entgegnet Doktor Makarios. „Ach ich dachte, ihr wärt die Polizei“.  Nun ja, klingt auch nicht schlecht: The Russian Policemen. In Gedenken an Igor Pavlowitsch, dem großen Kriminalisten aus Pratajevs Werk.  Aber es  wäre des Unguten zu viel, Doktoren müssen es sein und heute wird Neuland geheilt. Königs-Wusterhausen, von allen hier schlichtweg KaWe genannt. Frei von Schnee waren vorab die Autobahnen, klirrend indessen die Kälte und so kommt der Kaffee im Jägermeister-Topf gerade zur Gemütlichkeit und Ausruhe recht. Freund Kalf hat es sich vor einem Aschenbecher bequem gemacht, der Wirt steht am Arbeitsplatz und das ist wunderbar. Rasch mal schauen, wie der Livesaal so ausschaut. Beachtlich! Vorne gleich eine unverzichtbare Schnapsbar, hinten die Bühne; zwischen blondkühlen Bedurstigungen und dem Soundcheck verliert die Uhr wenig Zeit. Nur den Pegel am Mischpult hätte man besser nicht gen Null austarieren sollen. Das rächt sich später kurzweilig, wenn keiner mehr dran denkt.

Fast zeitgleich mit interessanten Schalen vom örtlichen verschwINDEN-Business für hungrige Doktoren füllt sich dito alles Katakombige. Sogar die tschechischen Schneegrabengrenzfahrer Silvi und Stone sind mit von der Partie. Silvi überreicht Doktor Pichelstein stante pede Spitzwegerichschnaps, selbst gebrannt. Die Flasche lässt sich kaum öffnen; später, vom Inhalt zehrend, wusste besagtes Behältnis genau, warum und was sie damit gutes tat. Pure, leckere Medizin. Aber - vielen Dank dafür (mittlerweile ausgetrunken). Und ja, dann geht’s los in KaWe; das Intro zieht’s Publikum aus Ecken und Kanten. Mitte der „Männer die am Feldmänner stehen“ reißt Doktor Makarios beschwingt den Mischpultregler hoch.

Bemerkenswert die Fülle, das Wippen und später gar Tanzen. Pratajevs Texte flirren energetisch durch den Saal bis zum Pausenschnaps und darüber lange hinaus. Becherovka auf Eis! Herrlich! Doktor Pichelsteins Arbeitsgerät beweist Wallungswert und Königs-Wusterhausen wird komplett geheilt. Nur jene bleiben diesbezüglich außen vor, welche dem Nachwuchs dieser Stadt Vornamen wie „Heydrich“ geben. Die sollen draußen bleiben und am Ende unterschreiben The Russen Docs virtuell beim glücklichen, herrlichen Wirt die Option fürs nächste Konzert in der Katakombe. Unbedingt und immer wieder.

Brandenburg, du bist ‘ne Schöne. Und Helga Bauer, genannt Peitscha, Geliebte Prumskis und Pratajevs, wohnte einst nicht weit von hier. Unter solchen Gedanken nebst anderen biegt der Kalf-Chrissi-Van mit den Doktoren im Schlepptau um Zernsdorfer Ecken. Ein Haus am See ist das Ziel, ein schlafender Makrokosmos. Und süßer Likör, betrachtet man es aus dieser Warte, bildet einen leckeren, magischen Teil des Mikrokosmosses am Küchentisch. Bis der letzte Tropfen bezwungen ist.       

Kichererbsen bis Chemnitz (219) 
30.Januar 2011, Chemnitz/Arthur  

Europark, Zimmer 16, große Pension am Stadtpark im Herzen des zentrumsnahen Stadtteils Altchemnitz. Öffentliche Verkehrsmittel (Straßenbahnen ohne Fahrgast-TV. Unvorstellbar! Wo soll man denn hingucken?), Einkaufszentrum (war’s ein Penny oder Diska?), Sportzentrum (für Integrationsstreber, ohne Worte) und Gaststätten (altbacken) vor der Tür. Anreise rund um die Uhr möglich (Radeberger, warm, bitte sehr). Die Zimmer sind freundlich (ausstaffiert mit Fernseher, Decken, an denen man sich nicht aufhängen kann, weil kein Seil der Welt derart lang ist, Bett, Tisch und 2 Stühle) eingerichtet und werden gern von Geschäftsreisenden (Autotransfer gen Ost?), Firmen (Blumenhandel „Wollen Rose“) und auch Privatleuten (Mittagspause mit der Klofrau aus Minsk) genutzt. Die Sanitärräumlichkeiten befinden sich in Zimmernähe (kommt irgendwie auf die Lage des Zimmers an)… Ja, aber bis dorthin, irgendwann ab nächtlicher Kreuzung zweier unmittelbarer Tage, ist es noch sehr lange hin. Europark, welch edler Name – wer da lediglich an Paris in Frankreich denkt, sollte wissen, dass in Altchemnitz alles eher an Minsk in Weißrussland gemahnt. Minsk liegt eben auch in Europa.

Lange Stunden zuvor, am Zernsdorfer Mittag des Tages, füttert Doktor Pichelstein die possierlichen Käfigratten im Haus am See („Doktor Pichelstein füttert die Ratten im Haus am See“ würde eher seltsam klingen). Es plagt ihn dabei ein kleines, schlechtes Gewissen. Materialermüdung führte nämlich eben erst zum Zusammensturz des Duschvorhanges. Könnte man meinen. Andererseits ging der Gitarrendoktor gewiss nicht filigran ans Werk. Ein leckeres Mittagsmahl folgt dem Frühstück und Kalfs Kichererbsen darin werden beiden Doktoren noch lange in olfaktorischer Erinnerung bleiben. Erst bei Ankunft im Chemnitzer Jugendclub „Arthur e.V.“ lassen die kleinen Bösewichte von Makarios und Pichelstein ab - die sich späterhin erleichtert, schadlos mühen, alles Kofferverpackte galant aus dem Autostauraum zu hiefen.

Über ein größeres Permafrost-Eishockeyfeld geht’s damit hinein in den Club. Schön warm hier, feine Menschen,  und Holm, der Solche, kommt nicht. Brach sich gehend den Fuß und liegt daheim. Fein wär‘ die Nacht bei ihm gewesen, doch nein, es sollte nicht sein. Moderieren wird den Abend nun ein Unifreund. Eigentlich sollte es auch Radio geben, eine Liveschalte, doch es sind eben oder bestimmt Studenten, die hinter so etwas stecken. Man will es ihnen nachsehen, beim nächsten Mal klappt’s bestimmt mit allem, was die Welt so bietet. Ähnliches vermag dito der Arthur-Verantwortliche denken, nur was lässt ihn zweifeln, dass es heute Abend voll wird? „Na ja, sonntags kommen nicht so viele. Deshalb auch nur 3 € Eintritt…“ Von wegen. Nicht mit den Doctors, nicht hier, in Chemnitz.

Als hätte es einen ominösen Pratajev-Gruftruf gegeben: Binnen weniger Viertelstunden platzt der Club aus allen Nähten. Man kommt nicht vor, nicht zurück. Und das ist Grund, warum Doktoren so gerne am Rande des Erzgebirges, in Chemnitz, spielen. Dem Abend, der Nacht wird Balsam gereicht. Die Fliehenden-Sturmfreunde sind da, Vertreterinnen der Pratajev-Sektion Frankenberg, das halbe Subway-to-Peter feat. Godfather-DJ Herr B. aus C. wird gemutmaßt uvm. Ach, herrlich. Schnell noch Flüssigkeit in den Orkus kippen, dann geht’s mit dem Intro auf die Bühne. Es folgt rasch das „Loblied der Miloproschenskojer Wirtsleute“ – etwas durcheinander geraten, aber beide Doktoren nehmen sich vor, den mitleidigen Text des Pratajev-Wirtes Brantweijn in Zukunft bei allen nachfolgenden Konzerten weiterhin live zu proben. Dann gibt’s das Interview; viele Fragen werden zu Gehör beantwortet und lassen noch viel mehr Fragen im Raum stehen. Macht nichts. Weiter im Set, in der Pratajev-Geschichte. Irritiert blickt lediglich das (vorwiegend weibliche) Arthur-Stammpublikum. Eine Pause soll’s nicht geben, weil morgen Montag ist. Der Tag der Einkehr in die neue Woche, als schlimme Kichererbse unter den Wochentagen ist er verschrien. Und das mir Fug und Recht. Ja, so geht’s lang und heiter weiter; ein bühnendargereichtes Terpentingetränk reinigt den Magen endgültig. Bis die letzte Zugabe verklungen ist und sich die ersten Menschen im Raum das neue Haus aus Stein Nummer 5 glücklich ans Revers heften.           

Ferien auf dem Lande (220) 
18. Februar 2011, Nickelsdorf bei Crossen an der Elster/Rittergut   

„Das Jugendgästehaus Nickelsdorf ist ein ehemaliges Rittergut. Es liegt in Thüringen, dem Grünen Herzen Deutschlands. Wälder, Wiesen, Bäche und Flüsse, Dörfer und Städte bieten in der Region vielerlei Möglichkeiten zur Erholung und aktiven Freizeitgestaltung. In der näheren Umgebung gibt es die vielfältigsten Ausflugsziele für Jung und Alt (…)“. Quelle: www.jugendgaestehaus-nickelsdorf.de.

Tja, lieber Herr Doktor K.T. Freiherr zu Guttenberg, hier können Sie mal lernen, wie Recherche-Quellen in einer Doktorarbeit sichtbar gemacht werden und zwar ohne Anstoß dabei zu erregen. Im engeren Sinne beschreibt unser Tourbuch schließlich auch Doktorarbeiten, von einigen wenigen gar als „Doktorspiele“ bezeichnet. Im weitesten Sinne dürfen wir gar behaupten: „Pratajevs Texte hat Pratajev selbst geschrieben.“ Dreiste Plagiatoren und wirre Ghostwriter sind wir nicht; diese Schuhe soll sich wer anderes über löchrige Socken streifen. Wie dem auch sei: Aufrichtigkeit ist eine Tugend, Ehrlichkeit ihr Unterpfand und das Erreichen des ehemaligen Rittergutes Nickelsdorf ein Wunder. Kopfsteinpflaster, Serpentinen bei 11%igem Berganstieg. Leider ist es schon dunkel, als das Tourauto keuchend den Ländlichen Kerne e.V. erreicht. Da muss der heilende Rundblick eben weit in den nächsten Tag geschoben werden.

Denkmalschutz treibt zuweilen seltsame Blüten und verhinderte bei der Sanierung des Gutes den Einbau wärmender Gusskörper. Die Tenne, Auftrittsort der Russian Doctors, glüht dennoch herrlich warm vor sich hin. Heiße Luft wird hineingeblasen, trifft sich in hölzerner Mitte, wo eine tote Katze am Birkenbaum hängt. Zwar wurde sie modellgetreu aus Bast nachempfunden, dennoch fühlen sich Makarios und Pichelstein gleich sehr russisch, damit Pratajev sehr nahe, beinahe heimisch. Die Herzensdamen der Veranstaltung wollen wir hiermit, ob ihrer großen Gastlichkeit, auch gleich zu Anfang loben. Ein Galan von Licht- und Tonmischer sei ebenso erwähnt. Selten wurden Pratajevs Weisen besser in Bühnenszenen gesetzt. Ja und so in Nebelfeld, unter eisblauen UV-Strahlern beim Intro, das gibt’s auch nicht allzu häufig. Wie in Trance startet ergo der erste Konzertblock: Schick, fein gesättigt, grüne Kräuterschnäpse intus und mit der Welt zufrieden. Die Gäste jubeln, klatschen und holen Bänke aus den Tenneschlunden hervor. „Herzlich Willkommen zum Konzert der Russian Doctors im Rittergut Nickelsdorf“. (Quelle: Getränke- und Speisekarte vor Ort, 18.02.2011)

Das „Loblied der Miloproschenskojer Wirtsleute“ erschallt fälschungssicher und echt in der Causa Brantweijns. Pratajevs Bühnengeschichte treibt bereits Frühlingsblüten. Nach der Pause, den Zugaben, zwischen Peperoniwodka-Cola (O-Ton-Doktor Makarios: „Ich hatte eigentlich Whiskygeschmack erwartet, dann brannte der ganze Mund“) und neuerlichem Grünschnaps (Doktor Pichelstein), malt der Nachtnebel das Nickelsdorfer Rund draußen silbern. Es herrscht eine Stille, die nur das Wiehern eines Regenwurmes durchbrechen könnte. Doch die Würmer stecken alle tief im Kompost und ob sie wiehern können, weiß nur der Wind. Dann leeren sich die Gläser wie die Tenne auch. Gleich um die Ecke, im Jugendgästehaus, warten kuschelige Decken und dann ist der Tag mit seiner heutigen Doktorarbeit endgültig aus.             

Das kälteste Konzert der Russian Doctors (221) 
19. Februar 2011, Großenhain/Conny-Wessmann-Haus    

Beide schwarz-rosa Hausschweine fordern imposante Andacht; Doktor Makarios ist gleich mit zwei prallen Maiskolben zur Stelle. Die Hofetikette verlangt’s beim geschichtsträchtigen Rundgang durch Stallungen und gerne wäre man mit den Katzen im heißen Ziegenheu verschwunden. Bitterlich fegt eisiger Wind übers Rittergut. Weiter müssen die Doktoren gleich, satt gefrühstückt und teilgeduscht. Aufgetragen wurde zudem ein Tourdeo namens Russian febreze, duftet nach Birkenwald und Kräutersud. Mit kleinen Trommelschritten überm Schnee fährt’s Tourauto von dannen, 11% bergab. Vorbei am Schloss in Crossen, einer Stadt, die einem wie ein Sprung durchs Zeitfenster gen Mittelalter vorkommt. Sogar die umherlaufenden Bewohner erwecken den Eindruck, frisch der Filmmaske eines Ketzerfilms entsprungen zu sein. Jugendliche gibt es auch, halb vermummt vorm Schlecker zu erspähen. Abgangszeugnis dritte Klasse - aber sieben Handyverträge, das möchte irgendwie gemutmaßt werden. Über gleich drei, weiterhin so genannte „neue Bundesländer“, geht’s Richtung heimatlichem Zwischenstopp.

Der Feuerwachturm hinter Katzenberg, dort, wo Großenhains erste Begrüßungsblitzer die Bundesstraße säumen, ist hell erleuchtet. „Erstaunlich“, entfährt es Doktor Makarios. „Und das bei dieser Jahreszeit.“ MDR Antenne Sachsen droht ein Peter-Alexander-Spezial an. Das ist selbst den Schlagerfreunden Makarios und Pichelstein zu viel des Unguten. „Aber das Lied mit der kleinen Kneipe, da steckt viel Wahrheit drin“, wird dennoch angeregt. Sicher: Die kleine Kneipe in unserer Straße /  Dort wo das Leben noch lebenswert ist (…) – hach, die Wehmut dieser Zeilen gilt all jenen, die an die falsche Frau gerieten. Vergleiche: „Der Raucher von Bolwerkow“.  Doch genug. Eine weitere Doktorarbeit steht an, im Conny-Wessmann-Haus soll Geschichte geschrieben werden. Niko Biberowitsch begrüßt Pratajevs Wanderer zusammen mit der heute kochpotenten Klosterfrau. Von den Clubverantwortlichen ist nur ein milchiger Mann mit Schlabberhose und Mütze aus der Kleiderspende zu sehen. Irgendwer muss auch eine Anlage zur Beschallung des Publikums lieblos in den Saal gelegt haben. Und diesen, ob der sabotierten Heizkörper, rasch ins Nirgendwo verlassen haben. „Ans Handy geht er nicht“, ruft Biberowitsch und beide Doktoren üben sich in Langmut. Dick eingemummelt werden Kabellagen und Mischpultregler gedrückt, gerückt und schließlich kommt die Fehlermeldung: „Es ist die DI-Box, mein Doktor. Völlig hinüber, schluckt alle Bässe“. Darauf ein Hansa-Pils aus der Flasche. Mit Handschuhen getrunken. „Wenn jetzt auf einmal fünfzig Gäste kämen und allesamt stetig ausatmeten, könnte man die Minustemperaturen sicherlich in erträgliche Grade wandeln“, denkt es im Doktor Pichelstein optimistisch. Aber nein, soll nicht sein. Bleibt eben folgende Wahrheit: Nicht die Quantität der Gäste ist entscheidend, sondern deren Qualitäten!  Trost spendet derweil Niko Biberowitsch mit leckersten Voda-Geheim-Vorräten. Die Klosterfrau-Soljanka wird ebenso zum Quell der Freude.

Schon viele Rekorde wurden bei Konzerten der Russian Doctors gebrochen. So gab es bis dato etwa das „nasseste Konzert“ (Pirna 2010), das „Konzert, von dem Doktor Pichelstein nichts mehr wusste“ (Laubegast 2005), das „ergreifendste Konzert“ (Großhennersdorf 2004), das „heißeste Konzert“ (Dresden, 2005) oder das „Konzert mit den meisten Knoblauchschnäpsen“ (Chemnitz, wird Jahr um Jahr gesteigert). Heute sprechen wir vom „kältesten Konzert“ und erst nach einer Stunde schält sich Doktor Pichelstein aus dem bis eben getragenen Wollschaf plus Sakko. Einfach, weil die Schwitzflüssigkeit darunter mitunter fies erkaltet war und in kleinen Rinnsalen gen Hose plätscherte. Aber dennoch ist die Stimmung prächtig, muss sie auch, denn wer einfach so steht, wird spätestens am Montag fiebrig bis bettlägerig sein. Ein Grund mehr, so schnell, wie es eben geht, zu spielen. Doktor Pichelstein drückt auf die Tube, denn jede Erzählpassage des Sangesdoktors Makarios führt zu Eiszapfen am Gitarrenhals.

Die Zugaberufe sorgen für ein atmendes Nebelfeld vor der Bühne; ein kleines Wunschkonzert schließt sich an, doch dann nichts wie rein in die warme Küche. Einen murrenden Blick auf den milchigen Mann mit der Schlabberhose und der Mütze aus der Kleiderspende hat Doktor Pichelstein beim Abholen weiterer Hansa-Flaschenbiere noch übrig. Dann nichts wie hinein mit der Dortmunder Plörre und danke, Ihr tapferen Gäste dieses eisigen Abends. Möge die Nacht heiße, innige Versöhnung finden.        

               

Das erste Konzert der Russian Doctors, vor dem gebadet wurde. Oder: Gebadet gefallen sie mir am besten (222) 
20. Februar 2011, Berlin/Duncker   

Nachtspeicherheizungen sind so eine Sache. Abends wirken sie recht verlockend, hach, wie schön warm! Und bereits wenige Augenblicke später klirrt der Frost, hockt das Winterwunderland unmittelbar in Nasennähe herum. Doktoren bibbern ergo  halbschlafend durch die Nacht. Am nächsten Mittag jedoch, da lockt die Wärme -  ein paar Häuserblöcke gen Tornadodurchzugsgebiet entfernt. Und dank Niko Biberowitsch werden beide Pensionsgemächer, ausgestattet mit neuster Flachbildfernseherei (O-Ton Doktor Makarios: „Ich hab alles versucht, alle Knöpfe auf beiden Fernbedienungen gedrückt. Nichts! “) gen Frühstück mit Meerrettichaufstrich gerne verlassen. Schön! Gedeckter Tisch! Lecker und ganz lieben Dank an dieser Stelle ans besagte Ehrenmitglied, natürlich nebst Gattin, der Pratajev-Gesellschaft.

Söhnchen Kieran, dem Krabbelalter insofern entsprungen, dass bereits beim Pichelstein-Gitarrenbesaiten hilfreich zur Seite gestanden werden kann, bekommt zum Aufbruch noch das Lied von der Katz‘ gesungen.  (…) „Sang doch der Kieran vorhin etwas über eine Katze die weg ist, also hat euer Mittagsständchen ihm gefallen,“ schreibt Biberowtisch dann auch wenige Tage nach dem kleinen Küchenkonzert der Erben Pratajevs. Die müssen aber nun weiter wandern; an gebrochenen Baumkronen, abgedeckten Tornado-Häusern und eingestürzten Fabriktürmen vorbei fährt’s Tourauto wie von selbst Richtung Berlin. Doktor Pichelsteins schaltet den Autopiloten ein; der plakatierte Wegesrand zeugt von einer ganz neuen, wirklich tollen CD unseres Howard Carpendale. Gut sieht er aus, doch ein Kaiser, ein Roland wird er nie sein und werden. Dafür fehlt ihm einfach die Joana in der Stimme (geboren um Liebe zu geben / verbotene Träume erleben / ohne Fragen an den Morgen).

Ganz in diesem Sinne liegen Doktoren späterhin gemütlich und nacheinander, mit jeweils frischem Öl- und Schaumwasser, in einer Berliner Badewanne. Die Lichterkette glimmt, der Kaffee dampft, die Pizza schmort im Ofen, Bettruhe wurde verordnet. Weitaus besser, als die noch verbleibenden Stunden bis zum verabredeten Duncker-Soundcheck in einer Friedrichshaier Grünen-T-Stube mit Kinderwagendiktat zu verbringen (früher sagte man „Eckkneipe“). Manjoschka Gnatz, u.a. im Zuständigkeitsbereich „Lektorat“ der Pratajev-Bibliothek im Verlag Andreas Reiffer zu suchen, machte all dies möglich. Den Doktoren gefällt’s und so kann mit Fug und Recht abermals ein Erstling pratajevscher Doktorarbeit verkündet werden, nämlich: „Das erste Konzert der Russian Doctors, vor dem gebadet wurde.“

Hendrik, Jürgen, Steffi, der harte Duncker-Wirt – alle Lieben sind schon da und emsig geht’s auf Parkplatzsuche. Denn seit dem die Konjunkturpakete selbst in der Hauptstadt ausgepackt wurden, müssen Absperrgitter, Warnbaken und natürlich Parkverbotsschilder wirklich knapp geworden sein. Die Suche endet dennoch, zwar im Strafzettelgebiet, jedoch nicht in Abschleppszenarien. Gut so. Rasch ein Berliner Pilsener und noch eines, Bühne verkabeln, Soundcheck, rauchen, stehen, sitzen, Mensch, hallo! Lange nicht gesehen – Die Herren um Eademakow und weitere Pratajev-Freunde treffen ein. Hochverehrt, Euch alle hier zu sehen. Und ja, der Duncker ist so schön warm, kein Heizungslapsus Marke CWH wie gestern, herrlich.

Die heutige Schönegeisterschau beginnt mit eröffnenden Worten des Neu-Pratajev-Forschers H. Peetersowitsch (vielleicht wird dieser Name noch überarbeitet bis zum nächsten Almanach „Haus aus Stein“), das Rund sitzt geschlossen und bestens mit sich gefüllt zwischen Bühne, Wänden und Schnapsbar. Die Raucherlonge ist verwaist und nach zwei Doktoren-Liedern gibt’s Doktor Pichelstein mal gitarrenbefreit, lesend, das irrlichternde Phänomen „verschwINDIEN“ betreffend. Dann wieder Doctors Live, des Forschers Eingebungen – abendlicher Höhepunkt für Makarios und Pichelstein, ohne Frage! – Pause, Doctors, Makarios liest „Pratajev – Meine Mutter“  und schlussendlich das abschließende Konzert, bestehend aus jenen Werken Pratajevs, die die meisten der Duncker-Gäste zum vielstimmigen Kanon animieren.

Vor der Zugabe verschläft Doktor Pichelstein den anvisierten Showeinspieler, erst ein versprochener Eck-Jägermeister lockt ihn zu sich, dann geht’s weiter und weiter und letztlich doch nicht mehr. Punktlandung, Wende hin zum Abbau und endlich auch der Jägermeister. Nichts vom duftenden Badeschaum bleibt. Dafür sehr später noch die Reise mit dem Bus ins Futteral der Gemütlichkeit.    

Als das Publikum die Doctors mal nicht nur mit Schnaps rettete, hinterher aber doch alle betrunken waren (223)
25. Februar 2011, Velten/Mic’s Bar    

Wo liegt Velten? Ganz einfach. Richtung Berlin fahren, dann brandenburgisch abbiegen und schon herzt sich die ehedem berühmte Ofenkeramikstadt ins ausflugshungrige Navigationssystem gen Tonstraße, nebst passender Museumslandschaft, ein. Zwanzig Tage vor den Russian Doctors fand das letzte Konzert in Velten statt; die unverwüstlichen Puhdys gastierten „Am Katersteig“. Nicht „Am Katzensteig“ wohlgemerkt. „Wer die Puhdys-Konzerte kennt, weiß um ihre Gewaltigkeit – hier gibt es immer Rock ungeschminkt“, verrät dann auch ein kleiner Flyer oder Freier. Jedenfalls von irgendwo her scheint diese Information zu kommen. Ist ja auch nicht so wichtig, der Bundeskanzlerin schon lange nicht. Und so regiert die „Diktatur der Deppen“, wie die Financial Times neuerlich treffend titelt, puppenlustig ohne Doktortitel weiter. Pratajevs Erben ficht das nicht an; denn echte Doktoren, echte Veterinäre stammen meistens aus Murmansk und dort erwirbt man seinen Titel erst nach der 314. Kuhgeburt in Steißlage.

Mic’s Pizza, Mic’s Bar, das Veltener Gasthaus leuchten hell in den bitterkalten Abend hinein, als das Tourauto sein Ziel erreicht. In der Bar soll gespielt werden, Doktoren-Freund Steffen grüßt mit dem Freitagspils in der Hand, lange nicht gesehen, seit August letzten Jahres nicht, beim legendären Biker-Konzert in Oranienburg. Seinerzeit ebenfalls anwesend: Eine Anlage zur Beschallung des Publikums, denn die scheint im vorbereitenden Informationsfluss irgendwie untergegangen zu sein. Doch Velten wäre nicht Velten und Steffen wäre nicht Steffen, diesen Sender-Empfänger-Defekt alsbald reparieren zu wollen. Handys glühen, ratlose Zigaretten folgen frohgemuten, erst mal ein Stehaufbier, dann eine Sitzpizza, rüber in den Gasthauskeller. Aber nichts passt zunächst zusammen. Dann geht der Samariter Nummer 1 ans Telefon, ein DJ an seinem freien Abend. Doktor Makarios verhandelt den Anlagenpreis, DJ fährt vor. Und nochmal weg, mehr Equipment braucht die Not, denn selten werden akustische Gitarren in Kopfhörereingänge gehörig eingestöpselt. Der Preis steigt, der erste Becherovka schmeckt wohlverdient. Der verehrte Baumfreund Ekmel spendet eine
Flaschenpost Holunderschnaps in Memoriam Bergsdorf 2010. Herrlichen Dank dafür! Vater Baumfreund wird freudig begrüßt,  auch Bermasik Junior, Holzlöffelschnitzer der Pratajev-Gesellschaft, ist mit dabei. Ach und wer noch alles! Selbst Achselshirt-Fetischisten sind darunter. Sehenden Auges verbessert sich die spätere Livesituation der Doctors. DJ und Doktor Pichelstein schrauben, verklinken was das Zeug hält. Letztlich strömt der Gitarrensound aus einer Monitorbox, die mit passender Übertragungswelle ans Pult gekoppelt wird. Kurzer Soundcheck, Sennheiser-Mikros toppen die mitgebrachten SM 58er. Egal warum auch was geschieht: es klappt und mit welch großer Erleichterung die nächsten Kaltgetränke geschüttet werden, vermag sich jeder vorstellen. Und mit fast ebenbürtiger Erleichterung sammelt tatsächlich das Publikum (verneig, verneig) den Aufpreis für den Anlagenbau zusammen. Weihnachten fällt heute auf Ostern in Velten und alle haben jahrelange frei. Wenn nur nicht der Merchstand ein weiteres Mal umziehen müsste, doch selbst das koffert sich lächelnd wie von selbst.

Im Raucherzimmer von Mic’s Bar wird Geburtstag gefeiert. Ein Kontrastprogramm zum mittlerweile aufbrandenden Doctors-Konzert. Die juvenilen Damen tragen Hackschuhe und entsprechen – nicht nur in Mimik und Gestik - dem landläufigen Sprachgebrauch so genannter „Ischen“. Die Peergroup der Männer könnte einem aufklärerischen Werbespot der Gorch Fock entsprungen sein. „Wehe dem, der meine Ische anguckt“, steht es ihnen in den Gesichtern geschrieben. Doch wir wollen das alles gar nicht ab- oder bewerten, sondern lieber auf Pratajevs Gedichte „Junge Burschen tanzen“ und natürlich  „Der Raucher von Bolwerkow“ verweisen.

Das Verhältnis Lied zu Schnaps dürfte mittlerweile bei 2 zu 1 stehen. Mitte des ersten Sets fordert Doktor Makarios vom Gitarrendoktor eine entsprechende Dopingprobe ein. „Mein Doktor, die Gitarre geht mit mir durch“, ruft Pichelstein flehentlich und bekommt Pfefferminzleckerli eingeflößt. Das Publikum geriert sich textsicher, auch hier fließen die Pinnchen, auch hier steigt der Geist Pratajevs aus allen verfügbaren Flaschen bis zum Pausentee. Doch selbst der ist ein Metaxa. Um nicht zu sterben, wie einst in Chemnitz oder nach dem 200. Konzert im Leipziger Flowerpower, wird Pichelstein nach der Pause auf Schnapsdiät gesetzt. Doch die Endorphine haben längst alle Überhand gewonnen, drum Prost und Danke und alle lieben Grüßen dieser Welt. Auch dem „Beim Bücken von hinten Zuseher“, Pratajev-Neumitglied Nummer 53 in seiner Funktion als „Kuhflüsterer“.

Sehr spät lassen sich die Holztreppen im Veltener Gasthaus auf der anderen Seite des Kreisverkehres erklimmen. Sehr erschöpft sitzt man da und grinst.      

Gott sei Dank nicht in der Fastenzeit (224) 
26. Februar 2011, Wittenberg/Irish Harp Pub     

Wie Baumfreund Ekmel späterhin treffend skizzierte, wurde in Velten selbstredend wild bis hemmungslos getanzt, besonders nach der Pause. Doch nun heißt es: Abschied nehmen, den gemütlichen Gasthof verlassen. Nach Frühstück und dankenswertem Bettverbleib bis hinein in die erste Mittagsgeisterstunde. Sachsen-Anhalt ist das Ziel, genauer: die Lutherstadt Wittenberg. Das „Rom der Evangelen“, wie Doktor Makarios treffend bemerkt. Der Plan ist es, die samstägliche Bundesligakonferenz einmal ohne die in Tourtagebüchern viel zu oft vertretene Ohrverkleisterin Sabine Töpperwien erleben zu dürfen. Heißt: Eine Sky-Sportsbar muss her. Telefonisch werden zwei davon vor Ort ausgemacht. Eine davon, als „Pogobar“ am Handy missverstanden, wird sich nach getaner Reise über Wege (und vor allem Umwege) gar selbst als Poker-Sportsbar im Vereinsheim des Landesklassenvertreters Einheit Wittenberg (aktuell: Abstiegskampf) wiederfinden.

Nun kann man sich sicherlich denken, was einen da so erwartet. Beeindruckt von echten, gestandenen DDR-Männern, die vornehmlich einen Plastekamm in der Arschtasche und ein Beutelchen aus Lederersatz mit sich herumtragen, setzt sich Doktor Pichelstein an den Rundtisch. Der Becher Kaffee lässt nicht lange auf sich warten. Schön wäre zwar ein Bier gewesen, aber das geht noch nicht – der abendliche Irish Harp Pub wird erst in 90 Minuten, nach Spieleschluss, angesteuert werden können. Nürnberg führt auf Schalke, Kaiserslautern gegen Hamburg und die Besucher der Poker-Bar spielen laut schimpfend auf sich, bzw. andere, und somit gegen sich selbst. Sagt ein Kammträger zum nächsten: „Halt die Fresse, wir wollen Fußball gucken“, blickt dabei aufmunternd, um Zustimmung buhlend, beide Doktoren an. Vornehme Zurückhaltung ist angesagt. Die Frage: „Was sind das nur für Leute?“ kann man schließlich auch ins Tourbuch hineinschreiben oder laut denken, als Schalke und Hamburg jeweils ausgleichen oder als der erste Alt-Betrunkene arg verschwenderische Bierglasinhalte gen Holzboden verteilt. Nichts wie an die frische Luft, ans erste Kaltgetränk, immer wieder ein Höhepunkt, das Spielen im Irish Harp.

Die Bühne steht in wenigen Minuten soundgerecht zum Haps aus der Speisekarte, Guinnessblumen blühen schaumwärts und Miss Wittenberg hat Geburtstag. Ein Umstand, der allen im Pub im Laufe des Abends noch viele Hingucker bescheren wird. Taucht die holde Hoheit der örtlichen Gefesselt-Fraktion beim Konzert schließlich als Schwesternschülerin auf und fühlt Doktorenpulse. Herrlich. Boris Brutalowitsch, Pratajev-Neumitglied Nummer 52 in seiner Funktion als „Werwolfjäger“, platziert den Konzertmitschneider, Doktor Pichelstein frohlockt ob einer feinen Holunderschnapsflasche, dankbar gespendet von Begleitung Silvi und die himmelblaue Spendendose für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje thront, mittlerweile bereits anständig gut gefüllt, über der Abteilung Merch. Die Tür öffnet sich im Sekundentakt; schnell platzt der Pub aus allen Nähten. Der Wittenberger Pfarrer schafft es, einen der raren Sitzplätze in Ausschanknähe zu ergattern und ein Geheimnis kommt ans Licht. Jenes, warum es beim letzten Doctors-Konzert hier nur halb so voll war. „Da war Fastenzeit, jetzt spielt ihr hier vor der Fastenzeit…“ Aha. Na da muss man erst mal drauf kommen.

Das Konzert startet via Intro; die Bässe darinnen kollidieren mit den Ausgangsboxen der Konservenmusik. Die PA dagegen ist eine Wucht, klingt auch so, und fanatisch peitschen sich beide Doktoren durchs erste Set bis in die Pause hinein. Doktor Pichelstein scheint vom Sieg der Dortmunder gegen Bayern München auf Red Bull zu sein, doch so was trinkt der ganz gewiss nicht. Boris Brutalowitsch sorgt für gerechten Nachschub, ein Guinness, ein ganz leckeres, ein kaltes fließt in den ausgemergelten Gitarrenweltmeister hinein. Und nach der Pause geht’s genau so weiter, fallen Zugaben auf die Bühne. „Gefesselt“. Natürlich, das Lied der Wittenbergerinnen, darf nie und nimmer fehlen. Aktiver Fetisch muss sein, schließlich befinden wir uns außerhalb der Fastenzeit.

Viel später beschleicht die Nacht ein Müdgefühl, längst sind Gitarren, Koffer und Kabel verstaut. In die Bierstuben geht’s. Nicht um dort zu trinken, wie vermutet werden dürfte, nein, dort wird geruht und gehofft, dass der nächste Mittag ein Erbarmen hat.

Es sei am Schluss dann noch erwähnt: Die Heimreise klappte ohne Unterlass, wenn auch mit freudiger Verwunderung vorbei an einer Senioren-Pension namens „Zum Biber“. Über Frostschäden, weniger über Belag, ging es unbeschadet heimwärts. Sonntag, du Wohl der Woche. Auf zum Eishockey, bzw. zum Mexikaner.                      

Im Wohnzimmer der Enthusiasten (225) 
18. März 2011, Leipzig/PaperOne-Salon  

Leipzig, aus Messeanlass heute mal wieder Bücherhauptstadt, macht es seinen Einwohnern und Gästen nach wie vor schwer. Das war schon immer so, sagen die, die es wissen. Das wird immer unglaublicher, sagen die, die es besser wissen. Fangen wir beim Irrsinn einer Olympiabewerbung an, nehmen die Umweltzone hinzu, umfahren allerorten jene Asphaltschlagloch-Minenfelder im Geiste Gaddafis, besehen den Braunkohleuntergrund mit seinem U-Bahnunsinn, rufen dann noch irgendeine debil besetzte Behörde an, in der sich ehemalige LPG-Kuhstallabsolventen zu Abteilungsleitern hochmelken konnten, schlagen die Zeitung auf und fragen uns, warum der Westen seine wirtschaftlichen Überflieger ständig über dem hiesigen Rathaus zum Absturz bringen muss. Nur zwei Beispiele der jüngsten Epoche: Import aus München: Wasserwerke-Heininger, aus Köln: LVB-Hanss. Näheres dazu (Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Gesamtschaden in Millionen etc.) via Gerichtsprocedere. Dagegen hilft Lächeltherapie; wer mag, darf demonstrieren, zornige Leserbriefe schreiben oder einfach in ein Wohlfühl-Wohnzimmer der Enthusiasten eintauchen. Eines davon lädt ins Stadtteil Lindenau ein - in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wege e.V. gelegen, befindet sich der Lesesalon des Poetenverlages PaperOne. Dass jener Verein sich um das Wohlergehen psychisch Erkrankter bemüht, soll an dieser Stelle eine ehrenhafte Randnotiz bleiben.

PaperOne-Chef Olli herzt The Russian Doctors im Frontstage, engagiert für den musischen Part des Leseabends. Getränke gibt’s an der Bar, im Klo glimmt eine Kerze auf Holz, nur ist besagter Raum (Tampons zum Mitnehmen auf dem Fenstersims) von innen verriegelt. Sollen darüber Brandschutzsorgen aufsteigen? Nein, keineswegs. Hauke von Grimm ist ein Poet der Tat, entsprechendes Werkzeug wird angetragen, bald bricht schon die Tür. Derweil lesen Klaus Märkert, Myk Jung, Michael Oertel, HC Roth  aus Worten, Fernsehern und Werken. Im Hausflur gemahnt die Verwaltung: Miete ist fällig! Kann auch bar bei Frau S. eingezahlt werden. Gefüllt ist’s Wohnzimmer mit Andacht und Menschen und letzten Endes sitzen auch Makarios und Pichelstein dem Auditorium vor. Gedichte aus Pratajevs Zyklus „Lila Nina“ paaren sich mit Setperlen des aktuellen Feldmänner-Programms, münden allenthalben im nach oben offenen Zustimmungsbarometer. Schön warm ist’s und heiß gar im Wünsch-Dir-Was-Obolus. Das Elend der Welt ist nicht tastbar und draußen, bei den Verlagspartys der Helene-Hegemann-Tollfinder, wird damenweise Lipgloss nachgetragen. Mehr Aufregung ist unverzeihlich. 

Eine kleine Bergpredigt oder: Gottes Ordnungsamt auf Erden (226) 
21. April 2011, Leipzig/Flowerpower

Wenn man sich das heutige Datum, 21. April 2011, auf der Zunge zergehen lässt, dürfte kaum an der Welt gezweifelt werden. Wird indessen etwas genauer hingeschaut, aha, dann ist Gründonnerstag. Der Tag vor Karfreitag. Und was wird dem ganzen Land an diesem Tag verwaltungsrechtlich verordnet? Richtig, Ruhe und Andacht sollen sein. Und zwar ab Mitternacht. Gott will es so, der Papst und seine Prügelbischöfe auf Erden auch.

Wir wollen gar nicht gegen die katholische Kirche zu Felde ziehen, wollen uns nur rasch wundern, welche Strahlekraft der Sterbetag eines Menschenfischers (eines Anglers in der Dämmerung) so mit sich bringt. Und erkennen: Einen Bescheid des Leipziger Ordnungsamtes. „Strafe zahlen soll der, welcher Unheil über die Nulluhrmarke zum Karfreitag hinwegbringt und zwar 500 Silberlinge“. Darauf kann es heute nur eine Antwort geben: Selig sind die, die Pratajev huldigen. Selig sind die Schnapsmutigen unter den angereisten Völkern. Selig sind The Russian Doctors und das Leipziger Flowerpower mitsamt Gefolge. Selig sind die Gäste aus Pirna, aus Chemnitz, Torgau, Ilmenau und dem Rest der Republik. Selig sind sogar die sehr jungen Magdeburgerinnen. Selig sind drei leckere Bagel
vorm Auftritt. Selig sind Silvi und Stone (danke für die kleinen, feinen Gelbschnaps-Geschenke und der Rundblick ist eine Wucht). Selig ist Anatolij Sabberowski II jun. (danke für Pratajevs Roten aus Vodka und Himbeere & für die Entdeckung alten Pratajev-Schellacks). Selig ist Strobi am Zapfhahn. Selig ist die wummernde Technik auf der Bühne. Selig sind all jene, die das Flowerpower von Null auf Gleich mit sich füllen. Auf dass sie gefüllt werden. Selig sind die Schnäpse mit dem Nährwert eines guten Bauernfrühstücks. Selig ist die POFF-Belegschaft (zu attraktivsten Teilen versammelt).Selig sind die Frauen, Wunder der Beweglichkeit vor der Bühne. Nach der Konzertpause erst recht. Selig ist SEB (danke für die Videos auf Youtube). Selig ist die heilige Fraktion des Fliehenden Sturms. Selig ist die Frau-Krause-Geburtstagsrunde. Selig ist eine Band, die heute niemand mehr kennt (steht hier wegen des Reimeffektes). Selig ist der schnellste Akustikgitarrist der Welt. Selig ist Pratajevs Entdecker am Mikrofon. Selig ist Wallgold II jun., der von Ferne das Große Lexikon des „Puschkin von Miloproschenskoje“ vergoldet. Selig ist der Unbill des Lebens (auch wenn er heute draußen auf der Riemannstraße bleiben muss). Selig ist Helga „Peitscha“ Bauer. Selig sind die Holzlöfflerfamilien. Selig sind alle, aber wirklich alle Raucher von Bolwerkow. Selig sind die Sektierer an der Bar. Selig sind die Komsomolzen aus den russischen Teilrepubliken am Bühnenrand; ihr federnder Schritt ist nicht nur dem Inhalt großer, nunmehr leerer Flaschen zu verdanken. Selig sind die Siechenden, an der Bar wird ihnen gerne geholfen, wird Wasser zu Schnaps verwandelt, werden Schnapslästerer schiefkrumm beäugt. Selig ist und selig sind sie heute alle. Bis besagte Uhr sich gefährlich nah an Gottes Heilig-Geiststunde heranpirscht.

Wir wollen an dieser Stelle aber keineswegs verraten, wann die letzte Zugabe der Russian Doctors denn nun tatsächlich über den Jordan, bzw. über den Ölberg ging. Römische Legionäre stießen jedenfalls nicht dazu und nahmen Makarios & Pichelstein zur Kreuzigung mit. Drum soll niemals Ruhe sein, sollen Doctoren spielen, wann immer man es will, soll laut und heftig getanzt werden. Sollen die Reliquien schweigen, fasten und höchstens einen Biber braten. Denn ein Biber ist ein Fisch, der kam immer schon auf den Priestertisch. Gottes Ordnungsamt auf Erden, trinken wir trotzdem auf deinen Unsinn, der dich antreibt. Bis so gegen Vier in der Früh. Und danach ein leckeres Steak vom Flowerpowergrill. Da beißt man gerne die Zähne zusammen, sofern man welche hat. Ach ja und selig soll auch der Taxifahrer sein, auf dass kein Unheil ihn jemals beschleiche.


So plötzlich! (227) 
24. Juni 2011, Elbhangfest Dresden/Alte Feuerwache

Seltsam. Geruhte eben noch die Sonne recht kräftig aufs Autodach zu scheinen, gewinnen aktuell unwetterartige Wolkenmassen aus Richtung Großenhain die Oberhand. Während Doktor Pichelstein nassen, autobahnigen Wetterlaunen - mit Vollgas vorbei an mäandernden LKW-Wänden - zu entfliehen versucht („Schnell weg hier, mein Doktor, das gibt bestimmt gleich einen Tornado, rechts hinter uns ist alles pechschwarz“), treibt das Wolkenungeheuer bereits tropfschwere Blüten. Was bleibt einem da in Zeiten viel beschworener Klimawandelei? Heimatsender einschalten, Schlager hören und beizeiten sogar mitsingen. Schade nur, dass es das berüchtigte Leipziger Duo, Geheimtipp für jung, alt und den Rest der Familie, Svenni & Holgi („Weine nicht, kleiner Bär“) immer noch nicht in die honorigen Playlisten von Radio Antenne Sachsen geschafft hat. Ein wenig Liedgut aus dem Repertoire: „4 Jungs auf der Autobahn / wollen schnell nach Hause fahren / denn da wartet die Liebste / hat schon viel geweint (…)“.  

Bis Dresden geht das so. Das Blaue Wunder ist das Nahziel und der durstige Wunsch nach einem leckeren Bier an diesem Freitagabend, dem insgesamt mittlerweile 8. Elbhangfest für die Russian Doctors, greift immer mehr um sich. Dann wird ausgestiegen, ist die Alte Feuerwache erreicht, verursacht das erste Rothaus glühende Bäckchen. Ganz so wie’s Flaschenetikett verspricht.

Die Bühne steht bereits, nur der Regen hört nicht auf, doch übers andere Elbufer ziehen bereits lichtere Wolken verlockende Bahnen. Nach dem zweiten Kaltgetränk ist plötzlich wieder Sommer. So schnell kann’s gehen. Der Merchstand leuchtet, der Soundcheck ist getan, die ersten Gartengäste werden geschüttelt und gerührt geht man zum Handschlagwerke über. Schön! Doch dann die erneute Apokalypse: Noahs Arche, Weltuntergang, Reg dich nicht auf (wenn es mal regnet), Elbeflut, das 7. Zeichen – Doktor Pichelstein geht derlei vieles durch den Kopf, als Platten, CDs und Bücher flinker Hand zurück in Kisten gestopft werden, als grobe Hagelkörner gestandene Bierbecher umstoßen, als Setlisten von der Bühne fliegen und der Sturm am Dache reißt. Dann die Erlösung: Ein doppelter Regenbogen zieht auf und mit ihm schallt’s Intro der Russian Doctors durch die Höhen und Tiefen des Elbtals: Es ist unheimlich hart, der Beste zu sein…

Beginnen die „Feldmänner“ noch im strömenden Herbstregen, setzt bereits vier Pratajev-Weisen später das blauhimmelige Sommeridyll wieder ein. Und so geht’s dann weiter, wild und heftig. „So plötzlich“, wird gerufen. Immer wieder. Gemeint ist damit das Lied über die Gefrierkatastrophe von Bolwerkow aus dem Jahr 1960. „Man registrierte einen Temperatursturz von +12 Grad Celsius auf -38,2 Grad Celsius innerhalb von 24 Stunden. Das Gefriergebiet hatte eine Ausdehnung von zehn Kilometer nördlich, 2,5 Kilometer südlich, 1,9 Kilometer westlich und 4,2 Kilometer östlich – vom Bolwerkower Dorfplatz aus gesehen (…)“ weiß das
Große Pratajev-Lexikon darüber zu berichten. Oft wird in der Folge also „Als das Eis kam so plötzlich“ gespielt. Nur die „Schnapsbar“ toppt keiner, die gibt’s vor jedem Zugabeblock – und bis auf wenige, zum Teil nahezu vergessene, somit kaum mehr spielbare Titel aus dem Repertoire Pratajevs, wird das Große Pratajev-Liederbuch, komplett gespielt. Recht rasant, möchte man meinen, und irrt damit keineswegs. Selbst als der allerletzte Schlussakkord längst verklungen ist, entsprechend schöne Dosenmusik bereits an Langmut gewonnen hat, sollen die Doktoren – mitten im Publikum - unplugged weiterspielen. Es gibt noch „Der edle Mann“ – und  nein, das Kanapee mit dem Girl drauf, das klappt dann keineswegs mehr. Zurück auf der Bühne bleiben leere Schnapsfläschchen, Geschenke des Fliehenden Sturms, einst gefüllt mit Kräutern aus dem Wald. Du meine Güte, was für ein Abend. Sehr vielen, vielen, vielen Dank dafür!   


Daumenblut (228) 
25. Juni 2011, Elbhangfest Dresden/Grottenwirtschaft

Der Spatz wird gemeinhin als Punkrocker unter den Gartenvögeln wertgeschätzt. Sein kräftiger Gesang, einzig aus drei burschikosen Dur-Akkorden bestehend, könnte lieblicher kaum sein. So lauschen die Doktoren im Terrassenbereich ihrer Elbhangferienwohnung den gefiederten Freunden, nippen am Kaffee und lassen sich selbst durch die Urschreie eines Kampfhahnes vom Nachbargrundstück nicht aus der Ruhe bringen. Denn solche tut Not, der Samstag war schließlich Bummeltag und wie’s beim Bummeln unter hoher Getränke- und Gastrodichte so zugeht, lässt sich in etwa erahnen. Umzug war auch auf dem 21. Elbhangfest. Ein Motto des späteren Mundwasser-Erfinders und Magdeburger Kaufmannsohnes Karl August Lingner zollte den meisten Wagen Tribut: Odole Mio. Was bisher unglaublich erschien und nicht nur im Westen der Republik bestimmt kaum jemand weiß: In Dresden wurde Ende des 19. Jahrhunderts dem berüchtigten Mundstink der Garaus gemacht, ergo: antibakterielles Mundwasser erfunden. Aus Lingners Erlösen ließen sich daraus später sogar prunke Schlösser bauen.

Doch zunächst wird alles dafür getan, dass ein Produkt wie Odol am Tagesende zum Nonplusultra voranschreitet. Kesselgulasch hätte man gerne, doch das muss erst aufgetaut werden. Bockwürste helfen in der Frühstücksnot und ganz klar, heute, am Festsonntag, ist Eltern-mit-Kindern-Tag. Zu tausenden sickern sie ein. Das Wetter ist durchwachsen und wartet mit seinen Sonnenausläufern brav auf den Beginn des heutigen Konzertes der Russian Doctors an der Grottenwirtschaft. Dr. Hendrik, mittlerweile leicht geschwächt von bisheriger Küchenarbeit stöhnt beglückt: „Fischbrötchen belegen war bis jetzt das Schlimmste“. Steffen und Freunde stimmen bei und  begrüßt werden die Russian Docs (teilweise erstversorgt mit tschechischen Rauchwaren) zum sozialistischen Soundaufbau. Der voran propagierte Satz „Die Grottenwirtschaft ist der ideale Platz, um das größte Stadtteilfests Dresden entspannt zu erleben“ spricht alle Ankündigungen wahr. Schnell noch zwei Bier, dann steht die Bühne, wird’s auf den Publikumsseiten voller und doller (von Pirna bis Chemnitz, Großenhain und von überall), kommt schüchtern die Sonne raus. 15:00: The Russian Doctors, 17:00: Edith Böhm Combo, 19:00: Cosmic Noise. Ein tollkühner Plan. „Na dann mal los“, ruft Doktor Makarios seinen Gitarrendoktor zur Saiten-Arbeit heran. „Wir haben hier neuen Schnaps aus der Brennerei Kaktus“, ruft Pichelstein zurück. „Katzenblut“. Ein großes Dankeschön dafür an die kleine Ostelbiendelegation um Gurt Kaktus. Sehr lecker! Beinahe schnurrend im Abgang, somit ebenso besonders geeignet für weibliche Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft.

Da erstaunlicherweise mutmaßlich jede Band des Vorabends eine eigene Anlage zur Beschallung des Publikums mit sich geführt gehabt haben muss (welch ein verschrobener Unsinn), stapelt sich entsprechendes Equipment hinter den Doktoren. Ganz im Überschwung des Freitagauftritts an der Alten Feuerwache startet’s Konzert, beschleunigt sich durch die nicht immer heile Welt Pratajevs, mitsamt ihren weitreichenden Facetten. Doch jene Welt geriert sich rasch zu allem Wohl, formiert Thekenschlangen, lässt Mundgerüche und den Wecker eines jeden Montages vergessen. Selbst jene unter den Elbhangbesuchern, die meinen, mit dem Rad überall durchkommen zu können, stocken, lauschen Doktor Makarios Sangesweisen und werden (wenn auch nur wenige Minuten eines sonst gewiss sehr tristen Lebens) nachdenklich. Ja, der „Raucher von Bolwerkow“, so ist’s, denkt unter ihnen mancher Mann. Derweil „Gefesselt gefällt sie mir am besten – macht er doch nicht“, hingegen manche Frau.

Dann kracht die dicke A-Gitarrensaite Doktor Pichelsteins rechten Daumennagel in zwei Stücke, welcher wiederum den Schlagdaumen an sich in Mitleidenschaft zieht. Das Blut tropft gemächlich auf den Boden und die Pflasterversorgung lässt auf sich warten. In solchen Momenten gehen einem Gitarristen folgende Sätze durch den Kopf: Hagen wollte Siegfried im Krieg gegen die Dänen speziell schützen. Da sagt ihm Kriemhild das Geheimnis: Er sei verwundbar an der Stelle zwischen den Schulterblättern, wo ein Lindenblatt verhindert hatte, dass das Drachenblut, in dem Siegfried badete, ihn unverwundbar machte, da dort die Hornhaut nicht gewachsen sei (…). Nun denn. Es folgt der Rest vom heutigen Spielplan und sehr froh ist Doktor Pichelstein beizeiten, dass die letzte Zugabe auf der Ersatzgitarre unfallfrei zu Ende schwingt. Mit musischen Hufen scharrt bereits die Edith Böhm Combo. Zeit für einen großen Schluck Katzenblut und Zeit genug, sich an dieser Stelle beim Team Grottenwirtschaft vorzüglich zu bedanken. Druschba!


Schnapsgestähltes Kabarett (229) 
01. Juli 2011, Fürstenwalde/Club im Park

Im Parkclub läuft das Notprogramm und natürlich gehören Pratajevs Erben dahin eingeladen, welche Frage. Während der Heimattiergarten gleich um die Ecke nicht mit prachtwertem Ausstellungsbuntmetall geizt (Adler und Eule am Eingangstor  werden allerdings jeden Abend wieder abgeschraubt und weggetragen). Ein langer Weg war es bis hierher. Mal wieder ging’s durch alle Wetter hindurch, Leipzigs Plagwitzer Straßen stauten sich zur Weißglut. Aber so das nun mal, wenn man in der Großstadt wohnt. Immer wollen alle alles mit sich voll machen. Und nie kommt man deshalb pünktlich irgendwo an. Wie schön’s doch dagegen zur Abwechslung im Fürstenwalder Park ist.

Der Club befindet sich in den letzten Ausläufern einer langatmigen Renovierungsphase; schuld daran seien unberechenbare Naturausläufer, berichtet Freund Sebastian und übernimmt die Führung. Und wahrlich! Sieht toll aus und wunderbar gestaltet sich’s Ambiente. Selbst notdürftiges zu verrichten, ist richtig angenehm (im Vergleich zu früher). Nur die Schnäpse sind noch dieselben, all die feinen Kaltgetränke aus dem Backstage-Monsterkühlschrank in neublau. Sehr gut. Wollen wir mal einen Blick in die moz-Zeitung wagen:  

Fürstenwalde. Nachdem in der vergangenen Woche endlich die Bauarbeiten an den Außenanlagen des Parkclubs wiederaufgenommen wurden, hat das Team um Ingo Taboga und Sebastian Bernhardt ihr sogenanntes „Zurnotprogramm“ fertiggestellt. Natürlich könne es passieren, dass einige Öffnungstage aufgrund von Bauarbeiten an den Ein- und Notausgängen nicht stattfinden können, so Sebastian Bernhardt. Weiter geht es am 1. Juli mit einem Kabarett-Musik-Programm der Russian Doctors (…)

Aha. Kabarett-Musik-Programm also. „Nun mein Doktor, hast du denn schon lustige Witze über das aktuelle, politische Geschehen im Land auf Lager?“ fragt Pichelstein, als er sich nach dem Soundcheck den rechten Blutdaumen verbindet. „Von wegen Kabarett“, kommt’s zur Antwort und weiter: „Genau wie im Facebook gepostet: Wir sind ne schnapsgestählte High-Speed-Folk-Punk-Kapelle.“ In einschränkender Weise muss indes hinzugefügt werden: Dr. Makarios entwickelte zuletzt eine leichte Allergie gegen Schnäpse mit +50%. Warum das so ist, soll nicht im Verborgenen bleiben und lässt sich unmittelbar an der ersten Übergabe einer Spende für die notleidenden Wirtsleute von Miloproschenskoje messen. Ende Mai/Anfang Juni weilten beide Doktoren u.a. deswegen an der portugiesischen Algarve und fanden zwei Nachfahren besagter Wirte, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, hochprozentige Erkenntlichkeiten aus dem Hut, resp. aus Brennerei & Schnapsbar zu zaubern. Und das bereits ab 12 Uhr mittags bei geschätzten 35 Grad im Schatten.

Grüne Eier aus dem Brandenburger Land spendieren Kalf und Chrissi, gesund und gewiss lecker, hinterher dennoch sicherheitshalber im Club belassen. Auf Nachfrage sollen sie gut gemundet haben. Der Berliner Pratajev-Forscherpreisträger Eademakow wird heiß bei Ankunft umjubelt & vom Gitarrendoktor Pichelstein mit jenem Dresdener Plektrum beschert, welches unmittelbar am Grottenwirtschafts-Massaker beteiligt war. Schon eine Ehre, wenn nicht gar eine Ähre, einen Preisträger der Pratajev-Gesellschaft, somit einen honorigen Mitbürger, in seiner Nähe zu wissen. Der Vorstand des Männerchores CONCORDIA Teschendorf sollte sich glücklich schätzen. Und jenes Glück der Erde liegt bekanntlich auf dem Rücken der Kräuterschnäpse (später, während des Konzertes, wird es noch einen Zusammenstoß Frau gegen Schnaps geben, wobei der Schnaps eindeutig an Menge verlieren wird - konträr zur Bekleidung der holden Weiblichkeit). All das weiß auch Baumfreund Ekmel und steckt sich zur Sicherheit am Merch die allerletze LP „Funeral Entertainment“ der Gruppe Die Art ein.

Auch ansonsten füllt sich das Rund, füllen sich Ecken und Kanten und weil’s dann so weit ist, geht’s los mit dem schnapsgestählten Kabarett, fallen die Feldmänner über alle her bis zur Pause, in der sehr skeptisch an einer Flasche, gefüllt mit dem dem Gesundbrunnen brauner Bionade, gerochen wird. „Hm, riecht wie Erbrochenes“, wird teilweise festgestellt, hernach besser der Weg zur Schnapsbar eingeschlagen. Über diesen Weg würde der Kabarettist Xavier Naidoo eine Menge wissen, nuscheln und mit den Händen dabei ganz komische Bewegungen machen. Jedenfalls würde er gemeinhin sagen: „Also ging ich diese Straße lang und die Straße führte zu mir. Das Lied, das du am letzten Abend sangst, spielte nun in mir“. Ist nur ein Zitat. Aber was für ein Unsinn, nahezu ein Paradoxon. „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer, nicht mit Vielem wirst du dir einig sein. Doch dieses Leben bietet so viel mehr.“ Zumindest mit dem letzten Satz lässt es sich leben. Genauso war‘s schließlich bei Pratajev und genauso geht’s Konzert der Russian Doctors weiter und weiter bis zur letzten Zugabe. Denn am Wegesrande, Herr Naidoo, trinkt man nämlich aus der Flasche. Dann ist der Weg auch nicht so steinig und schwer.  

Froh ist Doktor Pichelstein, dass alle Pflaster hielten, was sie vorab kaum versprachen. Ganz sehr würden sich übrigens alle freuen, wenn der Männerchor CONCORDIA Teschendorf das Lied „Tote Katzen im Wind“ in Bälde geschlossen, trinkfest und stimmig zu Gehör bringen würde.

Veterinäre wissen: Der Kuh (und dem Gerrit) geht’s gut (230) 
02. Juli 2011, Wechselburg/Zum Schulzenhof

Schlimm ist’s, wenn morgens der Handywecker zum Frühstücksappell ruft. Diesen Augenblicken fehlt es eindeutig an Charisma und man versucht ihrer wenig zu gedenken. Doktor Pichelstein ist froh, dass eine Schnapswahrsagerin ihm vorm Zubettgehen empfahl: Geh lieber nachts noch in die Dusche, morgen früh wird das nichts mehr. So sitzen die Doktoren schließlich am gedeckten Park-Pensions-Tisch und gehen zum überdachten Rauchen ein bisschen Spreegucken mit Anglerbötchen obenauf. Mutig kreucht die Nussschale übers Wasser. Von oben dauert Regen hinein und hinterrücks naht ein dicker polnischer Schleppkahn namens Louise.

Nun gut, die Spuren der Nacht eindrucksvoll im Gesicht tragend, wird der Bus am Club gestartet. Landstraße bis zur Autobahn, die Scheibenwischer wuseln im Schweinsgalopp wie geschmiert. Und an der ersten Raststätte sehen die u.a. aus Bussen quellenden Rentner sehr nach Überschreiten des Verfallsdatums aus. Einer der ihren wird vom Nachwuchs vermisst. „Vatter, allet klar?“ ruft es ins Männerklo hinein. „Jaja, dauert noch“, kommt flehend jene Antwort, die man besser überhört hätte. Es gibt eben sehr viele Gründe eben nicht jene Örtlichkeiten einer Vielbereistheit aufzusuchen. Und wenn doch, kriegt man davon Gedankenherpes.

Gefühlte kurvenreiche, schlaglochumringte Ewigkeiten später (ausgerechnet: kurz vorm brandenburgischen Einfallstor Großenhains musste die Autobahn staubedingt verlassen werden), dringt der Tourbus in die Flora und Fauna des Muldentals ein. Der Weg gen Wechselburg ist das Ziel. Dort, wo Sühnezeichen und Mordsteine das Landschaftsbild prägen, wo dem Porphyr am Vers gelutscht wird, die Kühe im satten Gras stehen, wo ruhmreicher Bergwald eine Stadt namens Mittweida gebar. Leider, möchte man sagen. Leider, Mittweida.

Im Mietschutzportal www.wowirwohnen.de finden wir da etwa den Eintrag 1025496 vom 24.01.11 (hochwertig) über die  Lutherstraße 54: (…) es handelt sich hierbei um einen Neubaublock. Er gehört zu einer Genossenschaft. Die kümmert sich sehr um diese Wohngegend, es wird versucht es trotz Neubaublock schön zu machen, auch ringsherum. Es gibt dort hauptsächlich Rentner und einen Teil ausländische Mitbürger. Die Grundschule ist gleich nebenan, und der Kiga ist auch nicht weit entfernt. Nah ist auch das Stadtzentrum und die Hochschule. Man hat geringe Heizkosten, wenn man so ziemlich in der Mitte wohnt. Die Mitarbeiter der Genossenschaft sind sehr nett, bis auf eine Ausnahme: wenn man die Wohnung nicht perfekt hinterlässt, dann wird dieser Herr gleich ausfällig und hat fast rumgeschrien, furchtbar eingebildet und arrogant! (…) 

Da steckt viel Wahrheit drin und gerne würde man all die Rechtschreibschwächen übertünchen, doch das wäre ja dann eine Fälschung, eine Verzerrung der Wirklichkeiten in Mittweida. Fraglich ist natürlich, was es damit auf sich hat, eine „Wohnung nicht perfekt zu hinterlassen“. Doch genug der selbstredend schlimmen Disserei eines beleckten Städtchens im frischen Landkreis Mittelsachsen. Auf geht’s zur umgeleiteten Hauptstraße Richtung Topfseifersdorf. Rechtskurve voran, Fenster auf und gute Sachsenluft schnuppern. Rochlitzer Hügel im Nacken, Zeitzeugen durchstreifen die Landschaft mit einer Konsum-Tüte voller leerer Flaschen. Nicht mehr weit kann’s sein bis Königshain-Wiederau, der wahren Auster des Muldentals. Hier stellt man sich Pratajev vor. Wie er mit seinem Lieblingsveterinär J.P. Kuhin über die Felder streift, Kühe impft und die Nase rimpft. Wo jedes Dorffest zwischen Göhren, Mutzscheroda, Nöbeln oder Zschoppelshain zum Diskant
ausartet. Wo mit Schnaps-Schüssen auf Schwein und Reh gegangen wird und im Weiher die Frauen ihre Wäsche vergessen. Alles eine Frage des Naturells. Dann wird die Praxis des Ehrenmitgliedes Nummer 38 unserer Pratajev-Gesellschaft - in seiner Funktion als Pferdelungen-Transplanteur – erreicht und die Zeit knappt sehr. Mitgeführte Geschenke zum Ehrentag bleiben ergo uneingepackt. Aber das macht nichts. Herzlich schön ist der Empfang, Veterinär Gerrit strahlt im Glanz des Sektes. Kuchenzeit ist Schnittchenzeit und Doktor Pichelstein wird’s gestattet, die Konzertgitarre auf dem Behandlungstisch neu zu besaiten. Viel gibt’s rundum zu entdecken. Später auch die Pension „Zum Hirsch“. Hier soll tief nachts der müde Augenschluss geschehen und betrachtet man es aus der Retrospektive: sehr gut war’s dort auszuruhen, zu speisen und dem Sommerregen bei seinem Tagwerk zuzusehen. Gespielt wird heute Abend im renommierten Ballsaal „Zum Schulzenhof“. Die Tische sind gedeckt, Sekt reicht sich fleißig von Hand zu Hand, die Feierreden sind gespickt mit edler Poesie und man erfährt auch sehr viel über das Freizeitverhalten, das Zünden von Böllern in Küchen der Kindheit, insgesamt übers Leben und Wirken eines Veterinärs, unseres Veterinärs, denn er lebe hoch. Natürlich auch im Tourtagebuch der Russian Doctors.

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Vorab schraubten deren Repräsentanten Makarios und Pichelstein Technik und Bühne zurecht. Welch ein Rundblick! Bis zum unglaublich leckeren Buffet am anderen Saalende ließ es sich von dort oben aus sehen. Dann die letzte Zigarette vorm Intro und los geht’s mit der ersten Lehrstunde Pratajevs in Sachen Landleben und (natürlich) Veterinärmedizin. Dem „Tierarzt“ folgt die „Pferdelunge“ und so weiter bis fort zur Schnapsbar es geht. Nicht ohne Heilkräuterbühnenversorgung durch Ehrengastgeber Gerrit. Und dass es dem heute gut geht, beweisen all die lieben Gäste im Saal. Der charmante Fluglehrer unter ihnen diskutiert mit Doktor Makarios lang übers Pilzgeschehen an sich und lobt Leipzig für seine Seenlandschaft von oben. Bis der nächste Ramazotti seinem Gläschen entweicht und das zweite Set der Doctors mit dem „Rotarmisten“ beginnt. Wippende Füße, schlotternde Beine sind auszumachen; letztlich gibt’s seit langer Zeit mal wieder live und in Farbe Pratajevs Lied über „Die Geburt“. Herrlich. So könnte es immer sein. Große Feierstunden wie diese hier finden wahrlich viel zu selten statt. Danke, lieber Gerrit, für diese hier!      
  
„Wo die Sonne steht, da steh auch ich“ oder: Wenn Gitarren sprechen könnten (231 & 232) 
06. August 2011, Pirna/Hofnacht, 1. Konzert 

Seitdem Jörg Kachelmanns Schürzenjäger-Schlagzeilen ihn von seiner rettenden Froschleiter im Wetterbildschirm bisweilen leider beinahe komplett vertrieben, ist einfach kein Funken Verstand mehr ins Wetter zu bringen. Gut, der Sommer ist dafür vielfältiger bis artenreicher (Mücken! Wespen!) geworden und Glück hat ein jeder, der ihn nimmt, wie er ist. Doch wenn noch irgendwer das Wort „Klimawandel“ in den Mund nimmt, wenn das noch einer sagt, dann geht’s ohne Frühstück ins Bett. Darauf hat man Lust, wie das Schwein aufs Messer.

Heute aber, man glaubt es kaum, heute läuft alles nach Pratajevs Gusto und in der Tourbuch-Überschrift steht’s gerecht geschrieben: „Wo die Sonne steht, da steh auch ich“. Endlich. Es ist schwül, heiß und stickig. Im Tourbus dürften‘s 40 Grad sein, die Schokolade schmilzt und Doktor Pichelsteins neues, schwarzes Sonov-T-Shirt ist bereits beim Einladen der Anlage ein einziger nasser Wischlappen. Zur Qualität spezieller Stoffe aus tschechischer Produktion sei noch angemerkt: Bei Hitzeentwicklung verliert das Ursprungsmaterial viel Farbe, welche sich wenig später in den Hautporen als krümelige Dreingabe wiederfindet. Frauen, die noch heute am Weiher waschen müssen, kennen das Problem und greifen vor Verzweiflung in der Folge gerne zur Flasche. Die Folgen sind bekannt.

Nachdem gefühlt 100 mobile Wohnanhänger mit holländischen Kennzeichen erfolgreich umkurvt wurden, kommt PirNatürlich (offizieller Rathaus-Slogan) immer näher und die Freude aufs erste Kaltgetränk in Reinkultur wächst mit jeder Minute. Hofnacht im Sommer, anders war’s im letzten Jahr, und in Ulfs Langer Straße grinsen sie breit. Alles läuft wie eh und je, locker bis ungestresst. Der Kühlschrank macht einen hervorragenden Job, der Rosenbowle werden letzte, liebliche Tropfen hinzugefügt und Doktor Makarios beklebt Weinflaschen. Womit, mit welchem Label, das verrät die nächste Überschrift des Tourbuches. Denn was zu diesem Zeitpunkt, so gegen 19 Uhr auf der Hutbühne zu Pirna, noch niemand ahnt: Heute wird alles gespielt, fast alles. Die anderen drei Stücke der Russian Doctors fallen dem Schnaps anheim. Ergo: Zwei Konzerte werden es, eines heftiger als das andere. Kommen wir zum Ersten, zu den Höhepunkten.

Doktor Pichelsteins neue Gitarre erlebt die Feuertaufe. Tja, wenn Gitarren sprechen könnten. „Eben stand ich noch ganz harmlos bei Musik Produktiv in diesem Kaff Laggenbeck bei Ibbenbüren herum, dachte mir, na gut, da kommt dann wieder ein langweiliges Langhaar, einer dieser Frauenversteher, und zupft so, puh, wenn ich das schon höre,  rein sessionmäßig auf mir herum, und beschwert sich dann, ich sei zu leicht und vielleicht zu teuer und was weiß ich? Aber dann nimmt mich der schnellste Gitarrist von ganz – was noch mal alles? -  einfach aus dem Ständer, stöpselt’s Kabel an die Box und spielt Biber auf mir. Wir wurden dann schnell gute Freunde und ich glaub, ich hab ihm da auf der Hutbühne keine Schande gemacht. Na okay, nach zwei Stunden Konzert riss die erste Saite. Aber das lag an der Saite, woran denn sonst?“ Tja, wenn Gitarren sprechen könnten. Es spricht aber zwischendrin meist nur Doktor Makarios und es singt das dichtgedrängte Publikum den Katzenchor. Herrlich, das hat’s bisher noch nie gegeben. Und so folgt Lied auf Lied, unterbrochen von einer kleinen Pausesause mit Hüftschwung zur Schnapsbar. 23:30. Zwei Stunden pures Glück, Ende des ersten Konzertes. Ulf, Jürgen, Enrico und allen, allen andern ein Hofnachtdank!        

My colour is red (232) 
06. August 2011, Pirna/Hofnacht, 2. Konzert 

Was sollte jetzt noch Erwähnung finden? Die Überschrift erklärt sich mit dem Besten, was Weinberge, wörtlich gemeint, so drauf haben. Ein leckerer roter, trockener, ein Die-Art-Wein eben. Neue Edelmarke, Doktor Makarios wird zum Mundschenk.

Während beide Doktoren, ob gedacht getaner Arbeit, recht erschöpft auf Bänken vegetieren, ist die Unruhe im sich mitterweise fast komplett neu gemischten Publikum deutlich spürbar. Der rettende Satz: „Na wir haben doch bis gerade erst gespielt“ gilt immer weniger und als dann Ulfs C-Hooligan-Betreuer vom Dynamo-Spiel aus Fürth in der nunmehr im Lampenschein vegetierenden Szene erscheint, da muss es eben sein: „Mein Doktor, es geht weiter,“ sagt ein Erbe Pratajevs dem anderen. Schon springt man in die neue Runde …so plötzlich. Mit diversen Dopplungen sind es am Ende knapp über 80 Titel. Hach und dann geht gar nichts mehr. So muss sich Tutukin, der Radfahrer, gefühlt haben, als er die Bergstrecken des Mittleren Urals bezwang. Reif für die Reha, doch einen guten Wein dabei in der Hand. Kaum zu schaffen sind die wenigen Meter bis zur Pension und vorausschauend sei an den mittlerweile drei Stunden langen Sonntag gedacht: Wie soll’s mit dem nur weitergehen?   

Ein Märchen im Garten (233) 
31. August 2011, Leipzig/Café Mule, Hochzeit  

So geschah es und sie sagten „Ja“ zu allen Welten, Meeren und in erster Linie zu sich selbst; der Hofstaat, die Familien gerührt von glücklichen Tränen, folgte ihnen durch den quirligen Sonnentag. Manches Glas Wein ward darin munter vertrunken. Prinz und Prinzessin, charmant, bekannt im Künstlerreich waren fortan König und Königin und sind es bis jetzt: Ein abendliches Stelldichein im Garten des Café Mule bringt die Zeitenwende ins aktive Geschehen. Darin werden Gitarren gelüftet, Knappe Shiva, Narr Pichelstein, die Edelleute umliegender Ritterburgen rüsten sich für die Geselligkeit, bewundern Braut und Bräutigam und wünschen all das Glück dieser Welt.

König Vincent (im feinen Ornat) und Königin Tina (vom zart wölbenden Schleier in Weiß bedeckt) eröffnen alsbald Fest und Buffet. Die Schwätzchen aller Reihen geben ein schönes, lockeres Stelldichein, Flüsse von Wein werden verzehrt, Kohlen glühen unterm Suppentopf und Doktor Makarios erhebt sonor die Stimme zu Pratajevs Dichterwerk.

The Russian Doctors beginnen mit „Da hält der Wind den Atem an“ – denn wer hätte von diesem Tag, vor langer Zeit, je Wind bekommen, wenn nicht der damalige Prinz seine Prinzessin via Kontaktanzeige kennen und schätzen gelernt hätte? „Suche Schlagzeuger“ lautete diese und gewiss, ja, das ist Schicksal. Denn wahrscheinlich, wahrlich und eigentlich gewiss hatte der Prinz bei Abgabe seiner unspektakulären Annonce eher mit einem durchgeschwitzten, un-heiratbaren Langhaarstudenten aus Leipzig-Connewitz gerechnet. Doch es kam anders, dauerte einige Weiten und Weilen und es wurde gut, sehr gut. So dass Pratajevs Text über die 5 Gebote der Liebe heute erstmals (seit der Hochzeit von Bürgermeister Krupkin in Miloproschenskoje, Jahr und Tag sind nicht überliefert) wieder ans Licht der geneigten Öffentlichkeit gelangt.

Das Publikum swingt mit, fotografiert, filmt, applaudiert; vor der Bühne lodert ein imaginärer Zauberspiegel, aus dem fleißige, gute Feen dem Brautpaar Glücksblitze ausrichten. Um die Fabelhaftigkeit an dieser Stelle zu übersetzen: Einer der Glücksblitze hinterlässt die Aufschrift „Zwei Wochen Algarve/Portugal“. Ein weiterer: „Ich muss raus an die Schnapsbar“ – womit die Doktoren ihr kleines Konzert beenden und nach kurzem Weinschwenk die Band Lizard Pool dem Fest im Garten Stoffgebundenheit feinster, britischer Gitarrenklänge vermittelt. „Herrlich, das mal wieder erleben zu dürfen“, sagen selbst Mittezwanzigjährige zueinander und verneigen sich. Der König derweil singt, spielt wie ein junger Gott - im letzten Song trommelt gar die Königin. Was will jedermann mehr? Nichts, gar nichts und somit darf dieser Tag bis ans Ende aller Tage gelobt werden. Der 31. August des Jahres 2011 wird mit diesen Worten selig und heilig zugleich erklärt.       
      
Das schwarze Loch (234) 
16. September 2011, Berlin/Schokoladen-Mitte    

Erstaunlich, Doktor Makarios scheint die Strapazen der letzten Wochentage recht kühn weggesteckt zu haben. Als da waren diverse ART-Konzerte, zwischendrin ein Goldeck-Master-Mix, die Aufnahmen zur neuen ART-Platte und natürlich eine - den bisherigen Schilderungen zur Folge - außergewöhnliche Filmdrehung zu Bad Doberan. Konfrontiert man diese Stadt am Meer übrigens mit dem automatischen Word-Rechtschreibeprogramm, wird, das sei am Rande erwähnt, u.a. ein Vorschlag namens „Dobermann“ geliefert. Nun, über all dies soll Doktor Makarios berichten. Heute ist Wrap. So nennt sich ein Abdrehausklang feat. Party und die findet praktischerweise, mitunter sehr prominent besetzt, im Schokoladen-Mitte statt. Die Crew nebst Band Die Art ist früh zugegen und mittenmang stehen furchtlose Pratajev-Forscher allerbeste Güte. Heißt: Voll ist’s im Laden, dem wir hiermit alle Daumen der russischen Seelenwelt drücken. Möge er lang noch leben und allen BRD-Kiez-Spekulatiussen kraftvoll die rio-reisersche-punkrockende, nassforsche Stirn bieten.

Doktor Pichelstein samt Navigator in schick reisten aus Leipzig an, froh darüber dem Stauticker einigermaßen glimpflich entkommen zu sein. Es drücken sich Doktoren ob des Wiedersehens und ja, was ist das? Gurt Kaktus steht im Soundcheck vorn, bewaffnet mit frisch geernteten Runkelrüben, einem Sack Kartoffeln und vielerlei Trinkflaschen. Herrlich. Rasch wird die Bühne zum Leuchtfeuer-Feldrand, an dem die jungen Burschen später tanzen; eine Dame im Arm, so muss es sein, und wird es glatt werden. Swingend, singend, feiernd - die Arbeit ist für heute getan. Allerorten verfolgt vom Odeur bulgarischer Brennereikunst trinkt sich der Abend ins Konzert hinein. Eademakow und Winogradow haben darüber spirituelles vor. „Pratajev war Teilzeit-Homosexueller“, sprechen sich Rätsel frei. Da wollen wir mal sehen, wohin solcherlei abstruse Theorien führen. Und ob nicht Pratajev im Jenseits der Gruftrufe etwas dagegen haben könnte.  

Nach acht geht’s los; Doktor Pichelstein, vorher flattrig bis fettnapfig in Aussage und Wirkung, Beispiel: Dialog mit einer ersten Maskenbildnerin: „Ich bin die (Frau nennt Namen)“ - Pichelstein spricht: „Maskenbildnerin klingt aber schöner“ -  und kurzsichtig wie er eben ist, kaum die Gegend einordnend, mehr noch überrascht vom vielgesichtigen Rummel an der Schnapsbar, legt an und Feuer frei heißt‘s fürs komplette Pratajev-Set. Pausen fallen Straßennachbarn zum Opfer, denn im Schokoladen muss früher als sonst Schluss sein mit lauterer Kultur. So ist das heutzutage, wenn in Gegenden wie Mitte plötzlich der Biobauer seine Ernte an die grüne Mittelschicht bringt. Und dann wird sie verlost, die Gurt-Kaktus-Schnapsflasche im bühnesken Feldrandgebiet.

Wir befinden uns mittlerweile im Fetisch-Block; die Ankündigung, dass jener oder jene, welcher/welche ein Lied der Doctors auswendig vortragen kann, den Kaktus-Schnaps gewinnt, trägt schwankende Früchte. Eademakow traut sich „Beim Bücken“ zu und es wird großen Applaus geben. Eben noch eine Kamera in Händen, schon ist’s die Schnapsflasche und (wir wollen es vorweg nehmen): ein Tausch, der gar mit dem Komplettverlust der Technik im weiteren Verlauf des Abends einhergehen wird. Sollte also jemand besagten Apparatschik gefunden haben, möge er ihn doch bitte dem Postfach der Pratajev-Gesellschaft unter dem Vermerk: „Schwarzes Loch“ zukommen lassen. Denn an solch schadhaften Stellen wird es weiterhin nicht mangeln.

Kleiner Exkurs, wer oder was alles außerdem spurlos verschwand: Eine Flasche Schnaps (im euphorischen Orkus des Eademakow), Frau des Whiskeymannes aus Potsdam (weg war sie kurz nach dem dritten Zugabeblock), Gurt Kaktus (schrieb am Folgetag: Ich musste den Zug noch erwischen – das las sich beruhigend, kein weiteres Schnapsopfer), Winogradows Auto- und Wohnungsschlüssel (was dazu führte, dass eine gewiss längst schlafende Gattin 45 Minuten Nachtwegstrecke bevorstanden, was weiterhin zur Frage führte: Wo ist Eademakow?) und ja, Eademakow selbst (samt Rucksack, in dem sich zum Beispiel hinterlegte Schlüssel befanden). Jemanden vergessen? Schaut doch bitte mal im WG-Zimmer Eures Nachbarn nach dem Rechten. Ja und zu guter Letzt verschwanden auch die Doktoren, glücklich und trunken. 

Der Abend ist wahrlich nicht nur gelungen, nein nein, derart unvergesslich wird er bleiben, dass einem nunmehr die Worte fehlen.         

Im Schnitzelparadies (235) 
17. September 2011, Schwerin/Zeppelin-Club   

Stefanie Hertel und der golden gelockte Trompeter Stefan Mross sind kein Paar mehr. Eine Meldung wie ein Schlag ins Gesicht der Dirndl-Mischpoke. Wenn jetzt obendrauf ein berühmter Jodelvater seinem süßen Töchterchen im gewohnten Vollplayback flüstert: „Du, ich hab eine andere, doch mit dir war es auch schön“, kann Volksmusik nicht weit sein, dann ist sie mitten unter uns. Heile Welten darf man nicht besudeln und Gartenstühle im Stadl sind zum Sitzen und Beklatschen da. Bis das Herzilein ein Nickerchen nimmt, dann kommt der Engel und der Engel ist menschlich. Antenne-Sänger Peter Sebastian kann ein Lied davon singen.    

Übertroffen wird die dramatisch anmutende Gemengelage nur noch durch eine Landtagswahl in Berlin, bei der es darum geht, möglichst hinzugehen. Denn der Urberliner an sich ist von Natur aus träge wie ein Zooeisbär; da die Hauptstadt aber momentan von zugezogenen Biedermeiern und Bionadetrinkern dominiert wird, geben sich die Parteien mehr oder minder große Mühe, zumindest Teile einiger Bevölkerungsschichten an die Urnen zu locken. Der Rechtsausleger NPD titelt dafür „Gas geben“, was, geschichtlich betrachtet, recht bedenklich abzulesen ist. Man braucht dafür volle Sehkraft voraus; die Holzbrettplakate sind derart laternenhoch angebracht, als ob es darum ginge, Krähen das Landen vermaledeien zu wollen. „Piraten“ und vor allem „Die Partei“ plakatierten fröhlich dagegen. Wählengehen soll Spaß machen; fröhlich angekreuzt gelingt der Tag. Ob die Tierschutzpartei hingegen beim Abhören von Pratajevs Katzen- und Hundeliedern Spaß verstünde, wollen wir mal besser nicht weiter ausführen und so geraten The Russian Doctors erst einmal in den immer gleichen Berliner Rausfahrstau. Im Fahrplan steht heute Schwerin rot gemarkert. Es geht ins Schitzelparadies, in den Zeppelin-Club, und das nicht zum ersten Mal. Open Air allerdings ist neu. Aber die Sonne meint es sehr gut mit Pratajevs Erben; das unterwegs stets sehr wichtige Tankstellenkaffeecola- und Bockwursthochgefühl steigert sich mit der Option auf schöne, leckere Stunden im Nordosten zum Diskant.  

Pause im Pilzwald; Doktor Makarios trägt ein Körbchen durchs Grün, Doktor Pichelstein dämmert zur Bundesligakonferenz am Wegesrand dahin. Hamburg wird verlieren, Nürnberg immerhin den Ausgleich schießen. Und, um es vorweg zu nehmen, die FDP bei 1,8 Prozentpunkten in Berlin landen. Aber erst morgen, am Sonntag. Heute heißt es: Auto parken, den Langen am Mischpult freudig begrüßen, die geballte Kompetenz des Zeppelin genießen, auch wenn Chef Tommi gerade im verdienten Urlaub weilt, Schnitzelteller bestellen.

Warum spielt man heute draußen? Nun, der Laden brummt und die XXL-Leckerchen werden drinnen mittlerweile bis Mitternacht ans hungrige Schwerin plus Umland gebracht. So soll’s sein. Klar, Küste, immer nur Wasser, ganz viele Fische auf dem Teller. Abwechslung schadet nicht und ist zudem extrem lecker. Ein Christopher hinterließ etwa am 25. Juli 2011 um genau 17:21 Uhr im Gästebuch der Zeppelin-Homepage folgende Lobesworte: „Bei euch ist es einfach nur TOP... die Schnitzel sind megaköstlich und die Burger sind ein Traum... Als nächstes teste ich mal die 1m Spare Ribs“. Let‘s Pitcher trinken und Schnitzels essen in the Biergarten. Wohl dann! Zudem gibt es in Gesamtdeutschland nur sehr wenige Orte, an denen das berühmte Zeppelinbier, eine extrem leckere, naturtrübe, ungefilterte Hopfenspezialität aus der Brauerei Leibinger (natürlich aus, genau: Ravensburg) flaschenweise verteilt wird. Ein sogenanntes „Kellerbier“, was sich (gut gekühlt) u.a. dadurch auszeichnet, dass es so manchen Bei-Schnapsverzehr erlösend ad absurdum führt. Denn zum Bierchen werden Kümmerlinge gereicht. Aus einer ganzen, vollen Flasche – dem Tourgeschenkevorrat entnommen. Wie gut, dass Doktor Pichelstein gleich mehrere Zeppeline beim Abspielen des Intros in Reichweite weiß, denn an zur Bühne wandernden Schnapsbars wird in den folgenden knapp zwei Stunden kein Mangel sein.

Das Pratajev-Set schwillt an und mit ihm folgt’s Publikum gen Mikrofonie; es wird ein feines Konzert mit allerlei Zugaben, wobei sich der Lieblingssong Schwerins nicht klar zu erkennen gibt. Manche Stadt oder Gegend auf der Tourlandkarte der Doctors hat ihn sich bereits unter den Nagel gerissen. „Gefesselt“ geht klar nach Wittenberg, „Beim Bücken“ nach ganz Brandenburg oder „Als das Eis kam (so plötzlich)“ nach Dresden. „Der Satte“ wäre eine Idee fürs Schweriner Zeppelin. Oder „Der Hungrige“. Hat Pratajev derlei Texte geschrieben? Wir werden es herausbekommen.

Mitunter sammelt sich ordentlich was für die notleidenden Wirte von Miloproschenskoje zusammen; ein Dank dafür, stellvertretend von Doktor Makarios und Doktor Pichelstein, an zwei sehr junge Damen aus der ersten Reihe. Aus dem Kino um die Ecke stromern gut situierte Besucher eines reisenden Kabarettisten an die frische Luft und trauen ihren bravklatschwunden Ohren nicht. Mütter wollen hören, was da über tote Katzen und bebende Bürste gesungen wird; verzweifelte Männer reißen sie weg, denn die Parkzeit im Haus dafür möchte nicht zu teuer werden. Was man im Leben nicht alles
verpasst! Aber nun, Schluss für heute, raus an die Schnapsbar und im kleinen Kreis wird bis zum letzten Tropfen noch ein bisschen Pratajev gesungen und auch gespielt. „Wir machen ne Band auf“, ruft eine der jungen Damen. Doch dazu ist es dann nicht mehr gekommen.

Die unweite Pension, mit himmlisch weichen Doktorenbetten drin, war einfach zu verlockend. Beine hoch, Augen zu und bloß das Frühstück um 10 Uhr, in aller Herrgottsfrühe, nicht verpassen. Aussichtslos, in Anbetracht der Zustände. Doch eine gnädige Wirtin, das muss abschließend erwähnt werden, hatte ein gerechtes Einsehen.       

Die belgische Gitarre (236)
22. September 2011, Chemnitz/Flowerpower

Während die Schnelle Musikalische Hilfe (SMH) der Russian Doctors an diesem katholischsten aller Donnerstage seit langem versucht, Chemnitz trotz aller Widrigkeiten zu erreichen, hat der heilige Vater aus Bayern und Rom seine Bundestagsrede bereits hinter sich. „Wo Gott ist, da ist Zukunft“, jubeln Christen und Perser gleichermaßen. Was hilft’s? Das Frohburger Dreieck verschließt sich mal wieder jedwedem Reiseverkehr, heißt: Umleitungen folgen, die keine sind. Denn spätestens in Geithain fällt auf, dass es lokale Buntmetalldiebe neuerdings auch auf mobile Verkehrsschilder abgesehen haben müssen. Merke: arme Gegend, viele Strauchdiebe und natürlich Tempoblitzer. Doktor Pichelsteins Budget sieht (nach dem letzten, rasanten  Tourwochenende) diesbezüglich keinerlei Spielräume mehr vor, also: gerecht fahren. Außerdem teilen weder Doktor Makarios noch Doktor Pichelstein die sagenumwobene Fantasie, einem Herrn und Schöpfer entgegentreten zu wollen – gewiss konträr zu den Todessehnsüchten, pfeilschnell überholender Landbevölkerungsgruppen. Warum auch sonst rammte man so manches Kreuz aus Obi-Holz für die Hinterbliebenden an den Straßenrand? 

Endlich am Flowerpower angekommen. „Jeden vierten Donnerstag im Monat wird dem Soul, R’n‘B, Reggea und Ska aus der großen Zeit gehuldigt. Live werden heute die Russian Doctors aufspielen (…)“. Stadtmagazine sind manchmal schon ankündigungswert interessant; sämtliche Facebook-Einträge darüber spielen Verwunderung herbei. Ob nun R’n‘B für Russland und Belgien stehen möchte? Oder wenigstens eine belgische Gitarre im Besitz des Pichelstein ist? Da postet Doktor Makarios sehr gerne zurück: Na selbstverständlich! Nur spielt der die nicht, weil die viel zu wertvoll ist. Schon Anatoli Prumski sagte, "Hätt ich eine belgische Gitarre von Frans van Gitarrenhals, dem s.v. jüngeren, ich bräuchte nicht mehr spielen".

Wie wahr, wie wahr. Und noch ehe der Soundcheck gelingt, wird die Sturm-Fraktion um Seb begrüßt, die gestandene Karl-Marx-Genossenschaft ebenso, reicht bereits der erste Wodka, um sich daran zu erinnern, bis dato eigentlich nur Bornas Shell-Bockwürste verzehrt zu haben. Als Grundlage für weitere Schnäpse recht gewagt, möchte man meinen. Ein Kräuterbaguette schafft vor Konzertbeginn gerechte Abhilfe. Beide Doktoren staunen nicht schlecht. Übers Flowerpower-Interieur, die konkurrenzlose Bühnentechnik im Ort, die flinken, fleißigen Hände an der großen Schnapsbar; sogar der Zigarettenautomat zeigt Filme, die dem Raucher von Bolwerkow gefallen hätten.

Die ersten Konzertblöcke verstreichen im Übermut; Pichelsteins weiterhin als neu zu bezeichnende Erlenholzgitarre, geschnitzt in den Wäldern Japans, führt sich auf wie ein rasender Biber im Schafspelz. „Nicht so schnell, mein Doktor“, ruft Makarios.  Man sieht es ja gerne auf Bühnenfotos: Doktoren erzählen sich ins Ohr. Und genau dieser Satz fällt da manchmal. Überaus gerecht, denn je mehr Treibstoff in den Gitarristen gelangt, umso todesmutiger rast er um die Kurve. Pause. Schnapsbar. Viel wird erzählt, ein Mädchen nennt sich „Die Gestörte“ und keiner weiß, warum das so ist.

Erneut füllt sich die Spendendose für die Wirte von Miloproschenskoje, wird der Rotarmist im zweiten Konzertblock aus dem Keller gejagt, während der Papst von kleinen Messdienern träumt. Oder von sehr jungen Messdienerinnen. Man weiß es nicht. Vielleicht träumt er ja auch nur vom Messwein feat. vom Buch Möse oder Mose, was nicht weiter schlimm wäre. Es soll uns allen egal sein. Heute wird einzig, nicht allein an den einen großen Dichter geglaubt, an S.W. Pratajev, den Puschkin von Miloproschenskoje. Mose hatte recht mit seinem dritten Gebot: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, sofern Pratajev damit gemeint ist. Drum,
Ihr Pilger heute im Flowerpower zu Chemnitz: Trinkt, esst, nehmt Euch eine sehr junge Schwesternschülerin oder einen sehr jungen Diakon. Der Herr Pratajev sei mit Euch und in Eurem Geiste weit über die letzte Schnapsbar-Zugabe hinaus, weit über den Wind, der den Atem anhält, auch.

Die Doktoren bedanken sich beim Flowerpower, auch bei der verdienten Klofrau, und möchten noch den DJ im Nachbarsaal trösten. Allein und verlassen, nach wenigen Stunden, gab er schließlich auf. Gegen die Russian Doctors verlieren, das ist nun mal das Kreuz der Konserve dieser ach so schönen Welt. Heim geht’s viel später um die Ecke; in der Dienstwohnung wird genächtigt, wie schön, wenn’s der Veranstalter derart gut mit seinen musikalischen Wanderern meint.            

Pratajevs Goldener Zerbst (237)
24. September 2011, Zerbst/k6 

Vielen, vielen, vielen Dank! Das war er also, der kleine Pratajev-Kongress 2011. Unzählige Höhepunkte, folgenreiche Schnapsverkostungen, „Goldeck“ in Bestform, „The Russian Doctors“ ebenso, russische Technik, Wallgold II jun. nunmehr "Held der Arbeit“, Pokalrausch für Gurt Kaktus (Rundblick-Foto-Wettbewerb, Forscherpokal 2011), Eademakow & Winogradow als bulgarische Spurenentdecker, eine sich biegende (nicht brechende) Schnapsbar und sämtliche Zerbster Unterkünfte ausgebucht. Was will mehr erlebt werden, am Tag als der Sommer von uns gegangen war? Kommen wir zur Eröffnungsrede des in einer Senffleckenhose steckenden Doktor Pichelstein, Top 1 der Running Order. Auszüge, bei denen der Applaus kräftig anschwoll: 

Liebe Mitglieder der Pratajev-Gesellschaft, liebe Freunde und Förderer, liebe verdiente Forscher und auch Christen, lieber Verleger Wallgold II jun., liebe Damenwelt, meine Herren! Herzlich Willkommen auf dem heute in der großen, kleinen Stadt Zerbst zu befeiernden, kleinen Pratajev-Kongress des Jahres 2011.


Unser Dichter Pratajev, um den es in den nächsten Stunden geht, soll es gar ins Amtsblatt Anhalt-Bitterfeld geschafft haben; wir begrüßen deshalb umso erfreulicher die heimlichen Vertreter der zuständigen Kulturverwaltung sowie des Landratsamtes. Im weiteren Verlauf des Abends sollten wir deshalb ebenso die jüngsten Worte des FDP-Vorsitzenden Rösler, Zitat: „Es darf in Deutschland keine Denkverbote mehr geben“, beherzigen und den ein oder anderen Fördermittelantrag in zungengelöster Runde besprechen.

Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, eine Pratajev-Büste in der Nähe des 4 Meter 70 großen Denkmals von Katarina der Großen aufzustellen und würden uns natürlich auch mit 4 Meter 60 zufrieden geben.   

Präsentiert wird der heutige Kongress von Pratajevs Leib- und Magenkapelle „The Russian Doctors“, als Sponsor sei die Schwarzbrennerei Kaktus in höchsten Tönen gelobt. Als Veranstaltungsort ebenso das k6 mit all den lieben Menschen, die es uns ermöglichen, heute hier sein zu dürfen. Ein Dank in eigener Sache gebührt unserer Schatzmeistern und Kalkulatorin Frau Doktor Manjoschka Gnatz, ohne die wir ganz schön im Regen stehen würden. Selbst wenn die Sonne dabei schiene.  Wenn Sie heute hier sind, und noch nie etwas von Pratajev gehört haben, dann folgen nun kurze Abschnitte seines Lebens, bevor es dann endlich los geht (…)

Springen wir durch den Abend im ABI-Land (KFZ-Zeichen für den Kreis Anhalt-Bitterfeld), erwähnen wir, dass die Last der Vorbereitungen jedem dargereichten Kaltgetränk weichen durfte und loben die Fotoausstellungsakteure im Besonderen. Auch kleine Preise für die 5. bis 2. Plätze wurden trunken, dankbar entgegengenommen. Egal, wer die meisten Pins des Publikums am Ende ergattert hatte: Schlotternde Knie waren eine stete Folge. Die Verneigung vor der weitesten Anreise ging eindeutig an Pratajev-Mitglied Nummer 49, „Lucas der Lokführer“ in seiner Funktion als „Der, der immer vorne sitzt“ aus Saarbrücken. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Lucas der Lokführer den „Rundblick-vom-Turm-Wettbewerb“ mit einem ersten, jungfräulichen Beitrag gar ins Leben gerufen hatte.


Bereits am Einlass wurde aus mildem Plastik getrunken: „Was darf’s sein? Pirnaer Bitter oder eine Katzenblutfälschung aus den Holundersträuchern Brandenburgs?“ Wenige fuhren auf dem ermäßigten Zerbster Ticket; verdorbene Jugendliche aus der Partnerstadt Puschkins fragten sich eher, ob es sich beim Fest der Pratajev-Gesellschaft um ein Sektentreffen handeln könnte. Sie werden es bis heute glauben. Und wissen gewiss wenig über den berühmtesten Sohn ihrer Stadt, über Sven, den Großen. Auch: „Shiva, der Große“ genannt. Die Art-Schlagwerker, u.a. heutiger Goldeck-E-Gitarrist. Einer, der die Welt kennt, der einst (wie Katarina, die Große mit ihrer Kutsche aus Holz) direkt in sie hinausfuhr. Der seine Wurzeln nie vergisst und dem bei Zeiten mal ein Bild an der Heldenwand des Rathauses sicher sein wird. Sehr bekannt auch beim Wirt in der später heimgesuchten Pension Schlosswache („Das ist doch der Sven!“).

Welch hervorragendes Bühnen-Debüt auch im Zyklus der Helga Bauer-Forschung für Gurt Kaktus, dessen Bildnis der freiwilligen Selbstkontrolle zum Opfer fiel und hier nicht publiziert werden kann. Und erst Wallgold II jun., welcher ein nunmehr 100 jähriges Kuhbürstermodell Pratajevs in Ehren zum Vortrag hielt. Alles in allem: Ein Sonne und Brot-Tag, wie er in ganz wenigen Büchern geschrieben steht. Damit schwindet die Erinnerung; ein Hauch Kesselsoljanka bleibt und mit ihm die Schärfe einer goldenen Pratajev-Nacht. Gewürzt mit neusten Produkten aus der Schwarzbrennerei Kaktus.                

Lasst uns die Nasen blutig schnarchen (238)
30. September 2011, Borgsdorf/Lindeneck   

Um dem freitaglichen Stadtstau Leipzigs schlaue Gestirne zu bieten, verladen Doktor Makarios und Doktor Pichelstein die entfernt beheimatete Anlage zur Beschallung des Publikums bereits am Abend zuvor in den Tourbus. Pünktlich will man schließlich am nächsten Tag bei den Anglern in Borgsdorf sein, zu den willkommenen Nachfeierlichkeiten der „Krummen Rute“ im Lindeneck, unweit des brandenburger Havelecks gelegen. Baumfreund Ekmel zeigt sich für die Konzert-Ankündigung der harten Wirtin („Nach der Sommerpause gibt es wieder heiße Rhythmen und coole Drinks im Lindeneck Borgsdorf“) liebevoll verantwortlich; das macht er mit Bravour und dem Geschick eines honorigen Gastgebers. Ein heißer Dank eilt allem an dieser Stelle voraus. Doch noch ist’s lange nicht so weit. Denn die A9 Richtung Berlin erscheint, wie so oft, eitel im Sonnenschein und möchte unbedingt ins Radio-Antenne-Land. Stau, zähfließender Verkehr so um die 20 Kilometer lang. Mit letzter Kraft lenkt Doktor Pichelstein das Steuer zur Ausfahrt ORWO-Stadt Wolfen. Blühende, piepende Landschaften erstrahlen im Bitterfelder Glanz und das eine ganze lange Weile. Wenn nur die Scheibenwischspritzanlage funktionieren würde. So bleibt die Sehnsucht nach freier Sicht, der Unbill auf jeden neuen grünen Käferklatsch und natürlich rückt’s erste Lindeneck-Bier dito nicht unbedingt näher an den Quell des Durstes heran.

Kaum zurück auf der A9, hinein in den Berliner Ring, staut es sich wenig schlechter. Gebrochene Ruten und verdrallte Schnüre mögen all jene strafen, die mit geleasten Dickautos in einem todesmutigen Vettel-Leben, nicht unbedingt geprägt von anglerischer Nächstenliebe, für temporäre Unfälle an Baustellen verantwortlich sind. Und, by the way, woher kommen all diese rollenden Ansammlungen holländischer Wohnwagen? Statistisch gesehen müssten auf jeden Holländer daheim mindestens zugleich stets drei unterwegs in den Urlaub sein.

Endlich da, gut, einmal am Lindeneck vorbei gefahren, um- und endlich eingekehrt. Die harte Wirtin hat schwer zu tun; praktische Zettelberge voller theoretischer Strichlisten verheißen: Der aufstrebende, pokalhungrige Anglerverein „Krumme Rute“ scheint bereits ordentlich getagt zu haben. Es folgen lecker Schnitzelteller, samt und sonders kühle Biere sowie ein Soundcheck im Halbtempo. Die Abordnung des Männergesangsvereins Concordia Teschendorf reicht erste Kräuterschnäpse, wunderbar! Ob nun bald und tatsächlich Lieder wie „Jeder Schluck“ oder „Tote Katzen im Wind“ im Fokus der Proben stehen werden? Wir glauben fest daran und begrüßen nebenher ein neues Mitglied der Pratajev-Gesellschaft aus Berlin. „Ist der Brandenburger eigentlich eine ländliche Ausgabe des Berliners?“ Welche Frage könnte unbeantworteter bleiben?

Eine Hand gerade noch im Lostopf späterer Räucherfischgewinne, die andere nunmehr am Mikro, begrüßt Baumfreund Ekmel den tosenden Saal. Kerzen werden als Bühnenlicht erkoren, die Feldmänner legen los - ein Eimer selbst geernteter Kartoffeln wird den Doktoren zur Pause überreicht. Rührung steigt, die harte Wirtin im Schankbereich hat gewiss schon Zapfarm. Zu allem Verzettelunglück ist mittlerweile sämtlicher Wodka alle. Gut, mag vielleicht daran liegen, dass die Doktoren darunter wohl gelitten hatten. Weiter geht’s im Set; Katze-Kuh-Yoga-Übungen finden nur in Grün-Berlin-Mitte statt. Hier wird Pratajev gehuldigt und es dürfte ihm alles sehr gut gefallen haben. Hätte es ihn nicht gegeben, müsste man ihn neu erfinden; im Lindeneck wäre promptes Zuhause für eine weite Weile.

Das Füllhorn des Abends lässt erste Gäste trunken, stoffgebunden und heimlich entschwinden, mittlerweile wird drinnen geraucht, was das Zeug hält. Kaum einer stört sich dran, aschend wedeln die Arme empor. Doktor Pichelstein wird ein letzter Whiskey auf die Bühne gereicht. Dann: plötzlich, nach dem vorletzten Zugabeblock, ist er verschwunden, der Doktor Makarios an seiner Seite. Doch die Angler rufen nur: „Solo!“ Doktor Pichelstein spielt nicht nur Solo, sondern mit letzter Kraft hinaus ein Lied der nächsten Doctors-Platte. Welches, wird bestimmt keiner der Anwesenden mehr wissen. Sei’s drum. Auf geht’s ins Blockhüttengewerk am Havelufer. Lasst uns die Nasen blutig schnarchen. 

PS: In Borgsdorf bleiben die Frauen den jungen Burschen erhalten. Das schafft nicht jede Kreisstadt. Muss an den Anglern der Krummen Rute liegen, ganz sicher!      

Die fünf Gebote der Liebe (239)
01. Oktober 2011, Birkholz/Hochzeit im Idyll

Hochzeit in Birkholz, Sonnenschein, mildschwitzende Hitze, russische Doktoren als schicke Brautjungfern, wie immer: ganz in schwarz (bis auf Doktor Pichelsteins Turnschuhe, was ihm erstaunlicherweise sehr oft vorgehalten wird). Chrissi und Kalf haben es getan, sind in götterhafter Pratajev-Manier mit dem altbackenen, geschmückten, roten Motorrad durchs Dorf geknattert. Und nicht nur die kleine Sozius-Auspuff-Brandblase am beinernen Teint der Braut wird diesen Tag der Liebe ewig in Erinnerung rufen.  

Pratajevs musikalische Erben durchfuhren zuvor Brandenburg, kamen an Gestaden vorbei, durch die man sich selten verfährt, trafen sogar unterwegs den Baumfreund Ekmel, samt beifahrender Lady Katharina, wieder. Doktor Makarios‘ Waldsammelkorb biegt sich derweil bedenklich. Wenn Doktor Pichelstein des Rechtens nach seinem fabulösen Navigator schaut, sieht’s aus, als gäbe es bald hiesige Kartoffel-Pilzpfanne, gespickt mit Nüssen und was da noch so alles herum liegt. Man muss wissen: Im Duo der Doctors ist Makarios der naturkundige Pfadfinder, Doktor Pichelstein eher ein skeptischer Beobachter allen Summens und Unterholztreibens. Von Zeit zu Zeit versucht der Naturkundedoktor dem anderen etwa ein wenig Pilzlehre beizubringen. „Kann man den essen?“ „Na klar, der sieht aus wie im Kaufland-Regal“. „Oh nein, das ist ganz fieser Tintling, auf keinen Fall“. Schon verschwinden rote und blaue Beeren im beflissenen Walddoktor, während der andere die Zeit lieber dazu nutzt, den Ölstand am Gefährt zu prüfen oder eine Gitarre zu besaiten. Vielleicht liegt’s auch daran, dass Busfahren auf Dauer arg lethargisch stimmt und jede Pause eher dazu verleitet, sich auf die Schwerkraft zu konzentrieren. Gar nicht so leicht, vor allem nicht nach einem Abend mit den Anglern der Krummen Rute tags zuvor in Borgsdorf.

Die Begrüßung an der Alten Dorfstraße ist allererste Kultur; Name auf den Becher geschrieben und schon fließt der hochprozentige Saft der Gerechten in allerlei Kehlen hinein. Zwei Schafe liegen alufoliengewickelt auf Grillspießen am Feuer. Bräutigam Kalf führt durchs weite Gelände. „Aha, das sind also die Hühner, die grüne Eier legen.“ - „Was noch fehlt, das sind schwarze Schweine“, kommentiert sich’s Geschehen staunend bis lobend; weiter östlich scheinen die Brandenburger Teufelsmoore zu beginnen. Jedenfalls kreisen Heerscharen von Mücken überm Geläuf. Wer Kette raucht, wird weniger gepiesackt. Herrlich. Keine Hektik, auch beim Bühnenbau, nebst Soundcheck, herrscht idyllische Melancholie vor. Cooles Anstehen am Tresenwesen, lauter feine Menschen, Haps die Schüssel-Leckereien, Prost den Becherovka („Hände weg, der ist nur für die Doktoren!“).

Das Konzert jubelt vor allem die Kleinen richtig durch; mückenmutig trug Doktor Pichelstein anfangs Achselshirt, zerstochen muss dann doch ein Hemd aus dem Gewühl hervor getastet werden. Und weil der Tag es mehr als wert ist, weil es Zeit ist, ein Hochzeitslied zu spielen, erklingt alsbald folgender Pratajev-Text zu Ehren der Hochzeitsgeniusse:

Die fünf Gebote der Liebe

Zuerst sollst Du nicht streiten
Mit Deinem armen Mann
Wenn er mal betrunken ist
Er tut ja was er kann

Das Zweite der Gebote
Sagt schlag nicht Deine Frau
Wenn sie morgens Schnaps trinkt
Warum weißt Du genau

Die fünf Gebote der Liebe
haben einen Sinn
Wenn man sie beachtet
Winkt der Hauptgewinn

Als Drittes wird empfohlen
Habt immer Schnaps im Haus
Man kann ihn gut gebrauchen
Und ohne ist's ein Graus

Der vierte Rat der Räte
Habt Ihr dereinst noch ein Kind
Gebt Ihm Schnaps zu trinken
Dann wächst es ganz geschwind

Die fünf Gebote der Liebe
haben einen Sinn
Wenn man sie beachtet
Winkt der Hauptgewinn

Und Letzt und endlich fünftens
Nehmt Euch oft in den Arm
Auch wenn Ihr dabei schwankt
Der Schnaps, der hält euch warm

Und Letzt und endlich fünftens
Nehmt Euch oft in den Arm
Auch wenn Ihr dabei umfallt
Der Schnaps, der hält euch warm

Die fünf Gebote der Liebe
haben einen Sinn
Wenn man sie beachtet
Winkt der Hauptgewinn

Zeit für die süßleckercremige Hochzeitstorte, für knutschende Münder davor und damit in den nächsten Konzertblock. Zeit für passive wie aktive Fesselspiele, Tierlieder und Schnapsbars, heute gar auch im Walzertakt. Immer dabei: tschechischer Inspirations-Spiritus der Marke Becherovka. Chrissi und Kalf schenken aus, ja, und mit glücklichem Schimmer im Gemüt endet die letzte Zugabe, trollt sich die Gästeschar zurück zum zweiten Grillschaf, zur Schnapsbar – trunken, heißblütig und dem späteren Wirtshausbett lang noch nicht erlegen. Vielen Dank, Ihr Menschen aus Birkholz: passt nicht, gibt’s nicht!    
        
40 Jahre HO (240)
02. Oktober 2011, Oelsnitz/Bergbaumuseum  

Auf geht’s heute, am Vortag germanischer Einheit, nach Oelsnitz, ins Erzgebirgsbecken, wie es richtig heißen soll, eben weil man als Nichtsoganz-Erzgbirger aus diffusen Gründen stets leichte Trümpfe in der Hand zu haben scheint. Wie sonst käme etwa ein Wikipedia-Nerd auf folgenden Inhaltsstoff:  (…) Der Zusatz Oelsnitz „im Erzgebirge“ wurde 1883 erstmals von der Post genutzt, um Verwechslungen mit der Stadt Oelsnitz im Vogtland zu vermeiden. Allerdings ist dieser geographisch falsch, da Oelsnitz im Erzgebirgsbecken liegt. Treffender und korrekt wäre „Oelsnitz am Erzgebirge“. Verdammt, warum will bloß niemand freiwillig AUS dem Erzgebirge kommen? Zumal: „Becken“ ist doch drinnen, mitgehangen, mitgefangen. These: Wenn kaum jemand sich des urigen Gebirges freiwillig zugehörig fühlen möchte, obwohl bereits Wiege, Schnuller und Kinderwagen handgeschnitzt waren, vom Opa, der immerzu das Steigerlied beim Schnapse und auf der Oma sang, dann kann doch irgendwas nicht stimmen. Im letzten Jahr spielten die Russian Doctors tief drinnen, in Eibenstock, immerhin ihr bisweilen höchstes Konzert. Auf einer Skihütte, 700 Meter über dem Meeresspiegel und die Menschen dort wirkten ganz normal. Gut, Sprache und Ausdruck waren vor allem für Doktor Pichelstein nicht leicht zu verstehen, aber: alles in allem war’s ein rauschendes Fest da droben auf dem Berg.

Herumgesprochen hat sich bisweilen, dass man mit abgekupferten, bayerischen Traditionen, vor allem in der Grenzregion Brandenburg/Sachsen, jeden noch so starren Wendeverlierer vom Fenstersims oder Sofa wegzulocken vermag. So trägt es sich heute etwa zu, dass nicht nur überall Oktoberfest ist, nein, auch Almabtrieb wird begangen. Während so ein Szenario im Allgäu sicherlich hohe Wellen (wegen: hoher Berge) schlägt, reiben sich die fahrenden Makarios und Pichelstein doch sehr die müden Augen, als im Landkreis Elbe-Elster, nahe der gerühmten Sängerstadt Finsterwalde, Kuh um Kuh einen Waldhügel herunter getrieben wird. Man hat sogar Weideland im tiefen Tal zu Parkplätzen umfunktioniert und ab geht die Graulockenpost bei Schweinehaxen und  Bier in Maßen. Nun denn, weiter geht’s Richtung Oelsnitz; erste, überlebensgroße Schnitzfiguren am Tankstellenrand zeugen von der Richtigkeit des Weges.

Auf dem Gelände des Bergbaumuseums weisen interessante Hinweisschilder aus bemalter Pappe, Aufschrift: „40 Jahre HO“, beiden Doktoren den Weg. Hendrik und Olaf hatten Geburtstag, „40 Jahr‘, volles Haar, so standen sie an der Schnapsbar“, hätte Pratajev gewiss heute zum Besten gedeutet. Doch da Pratajev bekanntlich längst verstorben ist, werden The Russian Doctors den großen Landdichter heute würdig vertreten. Zwar wuchs das Weichteilvolumen von Doktor Pichelsteins Gitarrenschlagarm nach den Konzerten der letzten Tage und vor Wochenfrist bedenklich an, aber: es wird später Medizin geben, heilende Salbe, Voltaren nämlich - froh ist man, dass solch ein Schleim nur von außen in die Haut einzudringen vermag. Und nicht andersherum.

„40 Jahre HO“ sind/ist bereits früh am Abend rundum organisiert; der historische Festsaal des Bergbaumuseums sieht sich beladen mit Leckereien am Büffet, mit Trinkereien in allen Ecken und tata: Eine echte russische Schnapsbar zimmerte man und trug allerlei Gebranntes und Gegorenes auf ihr zusammen. Das kann ja heiter werden, zumal die Doktoren Programmpunkt 4 oder gar 5 sind, was einem ersten Set ab 23 Uhr zumeist in die bereits durstgelöschteren Karten spielt. Bereits Pratajevs Gitarrist Anatoli Prumksi wusste: „Ein Konzert spielt sich nicht allein, vorher muss jede Menge Schnaps hinein“. Ausgeladen wird der Tourbus,  die Bühne, dekoriert im GDR-Jugendstil, erweist sich als feinste Kulturempore.

Draußen ist weiterhin Sommer im Herbst; schiedlich friedlich raucht es sich hier am besten. Die Gäste erreichen ihr Ziel in Scharen, Autos leeren sich; bald schon sitzt der Saal unterm 1939 verzierten Eichengebälk an der Decke. Was da genau eingeschnitzt steht, wollen wir mal lieber nicht wiedergeben. Irgendwie geht es um Bergmänner, die lustig bis natürlich unheimlich tapfer ihrem schweren Tagewerk nachgehen. Dann eröffnen Hendrik und Olaf die Party. Doktoren loben kauend und triefend all die Speisen, die leckeren Happen und auch Kuchen und Suppen. Kabarett kündigt sich an; ein Mann spielt dazu Gitarre, der Slang ist steigerisch-erdverwachsen, lustig kreischen die Runden, Kabarett verkleidet sich gerne, so auch heute. Applaus und Schmaus, eine rauchen gehen und Smalltalk wird zum Longtalk. Gewichtige Fragen des Lebens werden darin zumeist unbeantwortet bleiben, etwa diese: Warum Frauen immer „shoppen“ wollen und Männer eher gar nicht. Oder: Warum Frauen beim „Shoppen“ von ihren Männern Geleitschutz abverlangen, während diese später sehr mürrisch, bepackt mit Plastetüten voller Damenschuhe und Wasche, in den entsprechenden Kaufhausabteilungen des Landes auf Hockern kauern - der Tag für sie damit gründlich verdorben scheint. Oder: Welchen Stellenwert die Präsenz einer Starbucks-Kaffeekette für eine Stadt feilzubieten vermag. Denn: Leipzig hat Starbucks, Chemnitz nicht. Unangenehme Folge für die Männer: Jetzt müssen sie zu allem Übel noch am verkaufsoffenen Wochenende von Chemnitz nach Leipzig fahren, ihren Frauen im übervollen, völlig überteuerten Heißgetränkeladen staubtrockene Muffins nebst Vanillekaffee organisieren, bevor es dann zu den Hockern ins Geschäftliche geht.      

"Bei mir bist du schön" – so geht’s weiter im Programm. Das Duo „Roter Mohn“ (nicht verwechseln mit der gleichnamigen Band um den Skeptiker-Sänger) trägt vergessene Lieder, Tonfilmschlager und Evergreens vor. Holla! Der Kultursaal des Bergbaumuseums tobt; Doktor Pichelstein zieht’s zum Klatschtest wieder hinein. Voltaren macht’s möglich. Ältere Semester summen, jüngere schunkeln und ganz junge kreischen vergnügt. Höhepunkt: Hendrik wird samt Bass  in die Anlage zur Beschallung des Publikums eingestöpselt. Eisbären müssen nie weinen… Und dann fällt der Vorhang zur Schnapsbar, The Russian Doctors beginnen mit Russen und Feldmännern. Doktor Pichelstein schraubt den Soundpegel gen Himmel, bzw. gen verzierter Schnitzdecke, und nach wenigem Liedgut ist der Saal, wie man so sagt, geknackt. Rostocker Freunde schwingen die Hüften; das Randerzgebirge, das Erzgebirgsbecken, ach immer doch: das gesamte, wohlfeine Erzgebirge tost und treibt Pratajevs Erben zur Höchstform. Schnaps um Schnaps erreicht die Kulturbühne - so geht das eine ganze, lange Weile, bis über die Zugabennische hinaus.

Weil für viele ein Doctors-Abend gänzlich neu ist, der allerletzte Wunschblock somit schwerlich bedient werden kann, ruft man eben: „Das Pferd“ oder „Der Wolf“ oder „Die Maus“ gen Makarios’ mikrofonischer Programmführung. Aber solche Texte oder Stücke hat Pratajev bisher nicht von sich blicken lassen. Und weil alles so unglaubliche Kreise zieht, hilft letztlich nur „Da hält der Wind den Atem an“ und „Der Abend ist gelungen“. Das passt sehr gut, bis in die späte Nacht, bis die Pension „Zum Brunnen“ (mit 4 Kegelbahnen!) glücklich erreicht ist.       

Peperoni zum Naschen (241)
04. Oktober 2011, Prag/Klub Final   

Welch gute, perfekte Idee einen so genannten „Off-Day“ gehabt zu haben, ein paar Stunden Heimatliederruhe. Gute Gelegenheit sich der Erschöpfung hinzugeben, Wäsche nebst Tourgefährt zu wechseln, Medizintasche komplettieren.  Auf Anraten seines Sängerdoktors huscht Pichelstein rasch noch auf eine Tube Traumeel (Werbeslogan: „Wenn Sie es übertrieben haben“) in die nächst beste Apotheke. Und tatsächlich: Belladonna rettet des Doctors Gitarrenarm in sanfter Nachhaltigkeit.

Die A17 Richtung Prag ist kein Ort zum Verweilen. Bevor sich Radio Antenne Sachsen endgültig, dem Tunnelfunk weichend, aus dem Äther verabschiedet, bettelt der Puhdys-Sänger um Liebe und krakeelt sein Ansinnen mächtig heraus. An letzter Offerte wird eine Vignette erworben und fachmännisch ans Auto geklebt. Zwischen deutscher und rein tschechischer Autobahn hat sich nicht viel geändert. Auf geht’s mittenmang wie immer durch grüne Landgefilde, kleine Städte, eingeklemmt in mäandernden LKW-Wänden. Stürmisch ist’s - auf geht’s nach Prag und genauer zunächst einmal ins Botel Racek, nach Praha 4. Im Schritttempo befolgt Doktor Pichelstein korrekte Anweisungen des Navigators Makarios; ohne Umschweife (gut, den ein oder anderen Luderstau an diversen Ampelanlagen gilt es zu überstehen) wird’s Moldauschiff erreicht. Einchecken, Kajüten besiedeln – das erste Pilsener auf dem Sonnendeck, welches seiner Bestimmung glorreiche Ehre verschafft, wird vom Kellnerzauselmann prompt geliefert. Die Sonne neigt sich dem Scheingewahr zu; duselige, schwermütige Augenblicke später sitzen beide Doktoren samt Gepäck bereits im Taxi nach Žižkov, Praha 3, in die Příběnická 8/977. Es wartet: Der Klub Final.

Phil Shoenfelt wurde bereits auf dem Weg dorthin gesichtet. Da ist die Freude groß, schließlich sah man sich zuletzt beim ersten Goldeck-Zusammenspiel im Leipziger Flowerpower Anfang des Jahres und bei den anschließenden Feierlichkeiten von 25 Jahre Die Art im UT Connewitz. Im Final hockt vor einer Naschschale Peperoni bereits der Tourverantwortliche Jarda Švec in mittlerweile erweiterter Funktion als „producent, zvukař, umělec, šaman“. Kaum sitzt man nach feierlichen Brüderlichkeiten, kreist der erste Joint, doch nein, nicht für die Doktoren. Genügsam schlürft sich’s Pivo, schmeckt der Becherovka wie er eben schmeckt.

Wann heute genau und vor allem bis wann gespielt werden soll, ist nicht heraus zu bekommen; zunächst wird‘s im Oka Pub tschechisches Gulasch geben. „Nicht weit, normaaaal“, ruft Jarda recht euphorisch. Alles andere tritt selbstredend ein und nach dem Club-Wiederabstieg staunen Makarios und Pichelstein nicht schlecht. Die Pirna-Fraktion! Boris Brutalowitsch nebst Sohn und Silvia (wird man gleich mit Geschenken bedacht: Fotos und das Hörbuch zum Pratajev-Fest 2011 als dicke CDR-Box, vielen Dank!), die Nürnberg-Delegation! Azalea So Sweet! Alle so rein zufällig in der Gegend und allen geht’s prima. Was will man mehr? Genau, einen tadellosen Soundcheck, hernach ein langes, lautes, trunkenes Pratajev-Konzert mit abschließend ausreichend tschechischen Kronen in der Hosentasche. Aber - wir sind in Žižkov, Praha 3, auch nicht im Oka Pub oder auf dem Parukářka. Das liegt dankbarer Weise alles noch vor einem – und so ist es am Ende auch egal, was im Final klappt und was nicht. Immerhin funktioniert der DVD-Player an der Bar: Phil Shoenfelt as Charles Cockburn, BBC London, for Culture of the sheep: Pratajev in Prague. Phil, genau, ein bisschen Historie muss sein: Im Interview liest sich das so: “Phil gefiel die inspirierende und kreative Atmosphäre Prags so sehr, dass er im August 1995 permanent dort hinzog. Zusammen mit seiner neuen tschechischen Band Southern Cross nahm er 1997 das Album Blue Highway auf (…)“

Wie wahr. Und je inspirierter, nebulöser Jarda mit seinen tschechischen Technikfreunden kreativ über den verkrusteten Knöpfen der heute feilgebotenen, prähistorischen Anlage zur Beschallung des Publikums brütet, desto öfter fällt sie in jedem Song für Bruchteile komplett aus. The Russian Doctors spielen tapfer weiter; dem Publikum, mit deutlich deutschem Übergewicht, scheint’s trotzdem an nichts zu mangeln. Es wird ein eher kurzes Konzert, Umarmungen folgen bei Ende und die Nacht zum Mittwoch, auf dem Oka-Freisitz, bringt’s wahre Final. Doktor Makarios gelingt es gar zu später Stunde noch aus der bereits geschlossenen Küche drei Portionen Gulasch zu erhaschen. Es fließt das Pivo, es kleckern die Schnäpse. Keine Frage: man ist in Prag und die folgenden Konzerttage werden es noch mächtig in sich haben.      

Krásná Žába - schöne Frösche (242)
05. Oktober 2011, Prag/U VYSTŘELENÝHO OKA PUB

Die braunen Entenweiber auf der Moldau schnattern sowohl Doktor Makarios (Kajüte 32) als auch Doktor Pichelstein (Kajüte 34) auf dem Botel wach. Natürlich, kein Wunder. Bereits ab halb 10 scheint die Sonne so, als wäre bereits erneut Frühling im Anmarsch. Bunt gefiederte Erpel geraten schwärmerisch ins Grübeln: „Schon wieder Paarungszeit? Warum nicht.“ Doch weit gefehlt; alle Entenweiber wissen’s besser und hacken erfolgreich zurück.

Auf dem Frühstücksdeck versucht sich Doktor Pichelstein mit einem herkömmlichen Schmiermesser am kunstvollen Zerteilen störrischer Backwaren. Bald regnet es allenthalben Brotbröckchen hernieder, obsiegt die Erkenntnis, dass nur böhmische Scharfmesser in der Lage sind, frische Hörnchen in bestreichfähige Zustände zu versetzen. Sehnsucht und Jieper auf leckere Chlebíček wachsen. „Mein Doktor, vor dem Frühstück ist nach dem Frühstück, wir müssen los“, ist dann auch der gerechte Satz nach Erwerb eines 24-Stunden-Tickets für sämtliche, öffentliche Prager Verkehrsmittelchen. Motto übrigens: „Flott durch die Stadt“. Aber wer will das denn?

Auf geht’s nach einer Portion Sonnendeck hinein in den Konzerturlaub. Denn: Man will und darf ja wenigstens auch ein bisschen Praha 1-Tourist sein. Chlebíček auf dem Wenzelsplatz, Karlsbrücke und Moldauufer lassen grüßen; hier ein Gulášová, dort ein Pivo dazu. Oder beides zusammen, schmeckt am besten. Karl Gott! Neue CD! Ganze Schaufenster schnappen daran über, Eindrücke überwältigen. Doktor Makarios erweist sich mal wieder als wahrer Gourmetentdecker. Aufgepasst werden muss nur, dass keine hörige Reisegruppe (Schirm voran) einen als Gefangenen mit in die Khakihosen-Herden reißt. Diese armen Menschen. Grausame Anführer rufen stadtführend ins Headset, Ohrstöpsel transferieren Informationen; am Revers der Herdentouristen steckt ein Empfänger. Echt Hightech. Dumm nur, wer ein Hörgerät trägt, daran zeternd leidet, wie die paarungsbereiten Frühlingserpel auf der Moldau. Und wie sie fließt und glitzert, wie Bötchen auf ihr fahren, schwarze und weiße Schwanenpaare Kreise ziehen. Eigentlich möchte man gar nicht auftreten heute, vielleicht noch ins nächste Restaurant verschwinden, all das. Doch Schluss, solchen Gedanken sollte nicht nachgehangen werden. Heute ab 20 Uhr: The Russian Doctors zum wiederholten Mal im Oka, in Žížkov – wunderfein war’s dort bisher immer. Schön, dass aus gestrigem Anlass alles Equipment dort bereits auf der Bühne steht. Es folgt ein Nachmittagsschlaf, folgen Botel-Pivos auf dem Sonnendeck beim Untergang des orangenen Feuerballs. Möwen umsegeln den Angler bei seiner harten Arbeit in der Flussmitte. Absurd: Junge, rudernde Menschen in Kajakbooten lassen sich von anderen, via Motorboot-Megafon, zusammenschranzen. Das möchte man nicht haben.

Später im Oka: Jarda hat’s eilig mit dem Soundcheck; einem Šaman obliegt es aber an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Im eigenen Club, dem Nuclear Bunker, ebenso wie hier im Oka. Wie schnell doch alles geht! Nur: Wenn in einem Bandvideoportal die Überschrift „Live vom Bunkr Praha“ geschrieben steht, tjaha, dann habt Ihr Bands das Mitleid der Doctors. Und durftet wohl nicht ins Oka, wo sich langsam die Tische besetzen, Zuzana, Phil, erneut zur Freude: die Nürnberg-Delegation, Azalea So Sweet und gar eine der Berliner Pratajev-Sektionen eintreffen. Ebenso fast vollzählig
versammelt: Die Band Secret 9 Beat, deren neue CD zwar noch im Taufbecken verweilt - mit Producer Phils Hilfe indes gewiss schon bald das Gott’sche Karelgen in Punkrock eingehaucht wird. Es kreisen die Rauchwerke, noch ein Becherovka an der Theke und los geht’s mit dem ersten Set: Männer die am Feldrand stehen…

Selten waren Doktoren so fotogen wie heute; ein Kulturschaffender in Leipzig-Lindenauer Tracht dreht mal gleich einen ganzen Film samt Interviews am Schluss und stellt Doktor Pichelstein u.a.
folgende Frage: „Was hast du vor der samtenen Revolution über Prag gewusst?“ „Das lässt sich auf wenige Ebenen reduzieren“, wird der bereits sehr angeschlagene Schnellgitarrist zu später Stunde antworten. „Pan Tau, tschechische Märchenfilme, Luder in Hackschuhen und natürlich Becherovka.“

Am Ende des 2. Konzertsets, die erste Gitarrensaite riss darin im Überschwang recht bald, wird schnell klar, dass es heute mit wenigen Zugaben nicht getan ist; die Wirtshaustochter trägt emsig Durstlöscher gen Bühne, ausgegebene Pratajev-Texte in
tschechischer Übersetzung werden bereits heftig singend rezitiert. Aus dem Nebenraum eilen die Menschen bis nach ganz vorne. Die Spendendose für die notleidenden Wirtsleute von Miloproschenskoje enthält gar zwei T-Shirts mit lauter schönen Fröschen drauf. Ist doch tatsächlich ein echter Froschzähler, ein Feingeist Pratajevscher Fluss- und Agrarromantik, im Publikum. Dafür und zum Schluss kann’s nur eine letzte Ode geben: Das Lied vom gelben Fettfrosch. „Pivo ist das Brot für die Tschechen“ ruft noch einer, bevor ihn Gevatter Schlaf zu sich holt.           

Spoutana.cz (243)
06. Oktober 2011, Prag/Parukářka

Die kleinäugigen Herren Německo Doktor Makarios und Doktor Pichelstein bewegen sich schwerlich an Deck. Hart war das Ei, härter der Abend nebst Konzertnacht zuvor. Nichts wie unter die Sonne, auf zur Josefina, der schlanken, drahtigen Fährverbindung zum anderen Moldauufer. Doktor Makarios dichtet derweil am Epos "Der Fluss". Leider dauerte die Überfahrt nach Smíchov ganze zwei Minuten,  entsprechend kurz gehalten ist die Lyrik: "Oh Fluss, Fluss, oh Fluss. Schlingst deinen Arm um die Stadt." Ende, alles ist gesagt. Eigentlich wäre man dann gerne noch mit der Seilbahn gefahren, doch mindestens 23 Schulklassen hatten dieselbe Idee. Bleibt die Flucht und der Trend zum zweiten Frühstück hält an. Das Handtelefon steht nicht still; in der Heimat glühen die Denkerköpfe – die neue Art-CD/DVD steht kurz vor Abgabe ins Presswerk. Ein feiner Tag wird’s, der letzte Sommertag im Herbst. Auch wenn man’s beim Pivo an der Karlsbrücke kaum zu glauben vermag. Schweinern geht’s gebraten weiter: Erntemarkt. Dazu Starkbier der Brauerei Ferdinand. Grundsätzlich müsste sich mal folgendes gefragt werden: Wenn alle hier in Prag immer so viel trinken, Touristen wie Prager, wer um alles in der Welt braut so viel Pivo? Da müssen ja ständig Sonderschichten gefahren werden. Und erst der Export! Wahnsinn. Asiatische Verhältnisse in fleißig. Deutsche, Griechen, Spanier, schaut auf dieses Land.    

Žížkovs imposanter Fernsehturm mit den Krabbelkindern dran wird vom Taxifahrer recht waghalsig erreicht. Der zottelige Steuermann hustet dazu in einem fort, mit jedem Schlagloch wird es schlimmer - beide Doktoren würden gerne Mundschutz tragen. Bloß sich keinen böhmischen Killervirus einfangen, wie beim letzten Intensiv-Pragausflug 2009, der Doktor Pichelstein wenige Tage später ohne Umwege direkt in die nächtliche Notfallaufnahme führte. Schüttelgefrostet, mit einer Gartemperatur von knapp 40 Grad Celsius. Wenn einem, so erschienen, die nicht mehr sehr junge Krankenschwester offeriert: „Gehen Sie mal morgen zum Hausarzt, wir können nachts um drei überhaupt nichts für Sie tun“, weiß man spätestens, dass der Dienstleistungssektor, speziell im Leipziger Osten Deutschlands, wenig hinzugelernt hat. Die Sache ging dennoch gut aus; Doktor Pichelstein täuschte eine mittelschwere Ohnmacht vor und wurde wenig später mit einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit beglückt.  

Schon steht man vorm Berg, dem Parukářka; wie eigentlich immer wird sich mit geschultertem Equipment bis ans Ziel gekeucht. Und das Ziel ist groß! Jolana, zurück aus Ägypten, Goldeck-Geiger-Pavel, Phil, Jarda und: tata, da isser: DJ MC Špína, gestern noch einer der Langschläfer im Oka, heute bereits wieder redselig angetütert. Špínas vordere Zahnverluste der letzten Zeit führen allerdings dazu, dass kaum ein Wort (im Kauderwelsch aus Tschechisch-Deutsch-Englisch) zu verstehen ist. Doktor Pichelstein versucht in einer ruhigen, abgeschiedenen Schnapsbarminute einem gewiss weltgewandten Satz zu lauschen. „Pivo, Schnapps-Shots“ – mehr ist beim besten Vokabular-Willen nicht zu eruieren.

Der Soundcheck eilt voran; der doppelte Jarda weilt nämlich zugleich im Oka, ergo muss alles rasch über die Bühne gehen. Der Wirt ist glücklich und wird es, zumindest heute, die ganze Nacht über bleiben. Am Tresen wird gefeiert, besser: getrauert, denn vor genau einem Jahr starb einer der Parukářka-Gänger. „Wir machen das in seinem Sinne“, erläutert ein kleines Blechmädchen mit einem Randvollglas Slibowitz in der Hand. Dann los, Grillsenf von den Backen gewischt, The Russian Doctors spielen um ihr Leben. Das klingt fürwahr übertrieben, doch dem ist nun mal so. Doktor Pichelstein: kaum zu bändigen, Doktor Makarios Ansagen sind kurz gehalten, doch was sie verkünden, trifft die Menschen ins Herz. Die Rede ist natürlich von Pratajev, seiner Zeit in Prag. Die Rede ist von heute dito wieder ausgelegten Gedichten des großen, russischen Poeten. Und schon bald, das Konzert schwitzt sich in die Pause, wird allen Anwesenden historisches Gewahr: Die erste, öffentliche Pratajev-Lesung in tschechischer Landessprache beginnt. Die Lyrik „Gefesselt“ hat es allen besonders angetan, wird rezitiert in ihrer ganzen tragischen Weite bis Lüsternheit. Selbst der Wirt macht schließlich mit, umarmt dankbar Doktor Makarios glühenden Auges, führt Doktor Pichelstein geschultert an die Schnapsbar. Hier angekommen macht es auch nichts, dass mitunter der gesamte Becherovka-Vorrat ausgetrunken wurde. „Das gab’s noch nie“, jammert die Tresenfrau. „Das gab’s bei den Russian Doctors schon oft“, bemerkt Pichelstein voller Stolz. „Slibowitz“, wird gerufen und „Fernet für The Russian Doctors“. Weiter geht’s.

MC Špína war der Letzte am Mikro; Doktor Makarios versucht fortan, der nunmehr triefnassen Sangesgerätschaft nicht mehr allzu nahe zu kommen. Doch dann ist alles egal. Die Zugaben führen einige Mädchen aus besseren Kreisen in den Club hinein. Eine wird später von Pferden berichten. Die andere, im verknüllten 45-Grad-Winkel, auf einer Bank liegend, sehr herzhaft brechen müssen. Weniger im leisen Schwall, eher brachial, ja überzeugend. Macht nichts, wird schon wieder, kümmert gerechter Weise keinen. Schließlich, nach ergreifenden Verbrüderungen, müssen die Doktoren  ins SMS-Taxi, ins Botel zurück. Es geht einfach mal nichts mehr; draußen hat’s geregnet und ein kalter Wind weht über das anbetungswürdige Antlitz des  Parukářka. „Kommt wieder!“, ruft der Wird. „Machen wir“, winkt Doktor Makarios in die letzte kleine Menschenmenge hinein. Dann ist kalter Herbst und man wird sich beim Tesco am nächsten Tag wohl oder übel eine dicke Jacke kaufen müssen.  

Schnaps mit Kräutern aus dem Weingläserwald (244)
05. November 2011, Dresden/Bräustübel

Du meine Güte, kann Bockwurst ekelig sein. Vor allem, wenn gemeines Verkaufspersonal die eigentlich leckeren Tour-Senfpeitschen gefühlte zwei Jahre und acht Monate im selben Heißmacherwasser beließ. Kaum Richtung Dresden, am Rastplatz Muldental, erworben, schon stehen die Russian Doctors an der Folgeraste, um den viel zu dicken Widerling aus der Obhut des entsetzten Doktor Makarios gen Abfallkorb zu entlassen. Nur gut, dass Pichelstein keine Peitsche wollte. 3,69 € gespart. Zu allem Ungemach schreit die Fußball-Konferenzlerin Sabine Töpperwien den gesamten Wagen mit jedem neuen Tor der Dortmunder Borussia zusammen, Nürnberg verliert tragisch in der 3. Minute der Nachspielzeit. Fehlt nur noch der einkalkulierte A4-Stau vor den Tälern unserer Landeshauptstadt.

Doch nichts dergleichen. Nahezu rasant parkt der winterbereifte Audi überpünktlich, bei Schlagern aus dem Heimatsender, am Körnerplatz 3, knapp hinterm blauen (aktuell jedoch eher rostigem) Wunder. Hinein mit der Backline ins urige Bräustübel, rasch werden die Doctors an heutiger Spielstätte eingewiesen (Schnapsbar, Bühne, Vorbands und dergleichen). Schon steht man draußen im kühlen Abendlüftchen, von Winter keine Spur - im April war’s dieses Jahr bereits viel kälter. Am Hang leuchtet die Standseilbahn, in Händen der Erben Pratajevs funkeln dito Augustinerbier nebst Cocktailleckereien. Dann kann’s ja losgehen mit der 2x 40er Jahre Party, stimmt, denn die beiden Hauptakteure des Abends trudeln ein und das Hallo ist groß.  

Im oberen Ambiente der Partystübel fordert die erste Metalband sämtliche Fensterdichten der Gegend heraus, unten laben sich Makarios und Pichelstein an der Speisekarte. Würzfleisch, lecker. Man steigt von einer Bier-Sorte auf die nächste um, wechselt ab und zu die Cocktail-Beschaffenheit und smalltalkt sich durch feiernde Stunden. Einiges Publikum will die Russian Doctors auf dem vergangenen Elbhangfest mittlerweile als Band mit Schlagzeug und mehr gesehen haben, doch solcherlei Fälschlichkeiten wollen wir mal dem allerorten zügigen Herannahen an die  (beachtliche!) Freigetränke-Grenze zurechnen. Metalband zwei spielt derweil; die Fenster halten, dem Partyvolk geht’s prima.

Bis Mitternacht ist plötzlich nicht mehr viel Zeit auf der Uhr; die Doktoren erheben sich erstaunlich fit aus den Stühlen, basteln am gerechten Sound, Feldmänner erklingen, russisches Landleben erwacht. Voll ist’s vor der Bühne und darauf geschieht bald recht interessantes; Schnaps mit Kräutern aus dem Weingläserwald wird in immer kürzeren Abständen, per Tablett, herangeschafft. Die ersten Runden gibt’s zum Prosten noch in den Liedpausen, die weiteren folgen mitten im Set.  Bedeutet für Doktor Pichelstein etwa: „Beim Bücken“ spielen und dabei zeitgleich ein Weinglas Schnaps, vom Kellner direkt in den Schlund gekippt, verarbeiten zu dürfen. Flüssigfütterung auf dresdnerisch, gar nicht so leicht. Vor allen Dingen, wenn blind von E-Dur unten nach cis-Moll mittig gegriffen werden muss. Aber es klappt heute ja eh alles wie am Schnürchen. Die Bockwurst, Sabine Töpperwien: längst vergessen. Die Icefighters Leipzig gewinnen zudem 11:4 gegen Fass Berlin, der Saus im Saal greift weiter um sich. In die Zugaben mischen sich gar „Sie sagte“ und ein gewisser „Ozean“ hinein.

Den vielen, leckeren Bühnengaben geschuldet, geht’s schlussendlich dorthin, wie die Schnäpse wohnen, zur Schnapsbar. Doktor Pichelstein versucht sich noch in der Weitergabe seines kleinen Gitarrenwissens, bevor das Mescalero-Taxi hupt und mit großem Schwung der Rückbank-Erstschlaf kurz gesucht und wenige Meter auf dem Weg in die Neustadt prompt gefunden wird.       

Miloproschenskojer Erntefest mit Notfallaufnahme (245)
18. November 2011, Leipzig/Frau Krause  

Am Tag nach der großen Sause bei Frau Krause: Doktor Pichelstein kurz vorm Fußröntgen im Wartezimmer der Notfallklinik am Thonberg (Absturz von der Bühne, Diagnose: Bänderanriss), Doktor Makarios (Absturz an der Schnapsbar, Diagnose: Frau Krause-Koller, leicht unpässlich bereits auf dem Weg zum Blankenhainer Art-Privatkonzert). Es heißt, der Sangesdoktor habe die dortige Schnapsbar erstaunlich lange Zeit gemieden. Aber das ist ja auch kein Wunder. Oder doch - eigentlich war’s vorherzusehen. Hier der Versuch einer kleinen Rekapitulation diverser Ereignisse, versehen mit Fotomaterial aus dem
Hause Kaktus:

Der 18. November 2011 ist ein typischer Brrr-Tag im Herbst. Froh darf man sein, endlich Frau Krauses Tür im Leipziger Süden erreicht zu haben. Warm ist’s drinnen, T-Shirt-Temperatur, das melodiös gezapfte Staropramen perlt durstige Kehlen hinab. Der Tisch der Stammgäste empfängt die Doctors voller Liebe zur pratajevschen Kunst. Kann es doch heute nur beherzigend heißen: Jeder Schluck ist ein guter Schluck. Derweil erreicht der Nordbooker, Peter aus Wismar, das hehre Ziel des Abends. Planungen fürs Konzertjahr 2012 beim ersten
Becherovka folgen; Doktor Pichelstein schraubt beide Gitarren zurecht, Doktor Makarios versorgt’s Mischpult mit passender Kabellage vorm Soundcheck. Als Bühnendekofachmann versucht sich erneut sehr erfolgreich Gurt Kaktus. Die Miloproschenskojer Erntefestgirlande hat es in sich. Und auch die heimische Schwarzbrennerei wartet mit einem neuen Produkt unter dem erfolgsversprechenden Label „Nacktschneckenschnaps“ auf. Dazu werden Restbestände Katzenblut gereicht. Satt vom pompösen Schnitzelteller reiben sich Makarios und Pichelstein, drüber sehr zufrieden, die Augen. Dann wird’s voll, richtig voller und voller. Dabei ist Karl-Marx-Stadt heute lediglich zweifach vertreten. Aber – und das muss erwähnt werden: dafür gesund und munter.

Stone überreicht Doktor Pichelstein noch einen Prager-Livemitschnitt aus dem Frog-Records-Archiv, ein letztes Staropramen gibt’s im Stehen, Hallosagen und Gehen. Dann heißt’s nach Introende mal wieder: „Wenn die Blätter fallen / steigt aus allen Gallen / eine bösartige Substanz.“ Lange nicht mehr gespielt, die „Schwermut im Herbst“. Bereits nach der ersten halben Stunde reißen Doktor Pichelsteins Gitarrenfingerpflaster – oder sollte besser gesagt werden: Nach den ersten gefühlt fünf Bühnen-Schnapsrunden? Rasant jagen sich die Heimatlieder durch Frau Krauses Katakomben; bis zur ersten Drittelpause stellt Doktor Pichelstein seinen Leipzig-Rekord im Schnell-Gitarrespielen viermal ein. Und rettet sich in die Kühlbox mit frischen Verbänden. Ins Innere der Krause stromern nunmehr herrlich verkleidete Rammstein-Konzerttouristen; es gibt kein Durchkommen mehr.  

Irgendwann, so gegen Anfang des zweiten Konzertdrittels, gibt Gurt Kaktus, qua Ansage, die Miloproschenskojer Erntefestgirlande fürs Publikum frei. Sofort sieht man eifrige Menschen an Pratajev-Schnapsfläschchen saugen; einige Mädchen zieren sich’s Haupt mit Maiskolben. Nie sahen sie schöner aus. Und weit kamen sie her. Aus Oelsnitz etwa oder aus Potsdam. Beim Wirtsleutelied gibt’s heute kein Durchkommen für die Spenderdose. Liebe Wirte, verzeiht; das holen wir im nächsten Jahr alles wieder rein. Wieder erreicht ein schwankendes Schnapsbar-Tablett die Bühne. Über alle Tierlieder des mittleren Urals hinweg.

Nach Ende des zweiten Drittels sind über zwei Stunden gespielt; Zugaben folgen im Wunschblock. Doktor Pichelsteins Finger bluten. Die Doctors baden im Schweiß und schon wieder ertönt der virtuelle Gong: Weltrekord für Doktor Pichelstein im Lied über den „Bösen“ oder über die „Kuh“ oder nein – „Der Tierarzt“ kann’s nicht gewesen sein. Den gibt’s später aber auch noch. Wie den „Bauch“, „Als das Eis kam“ und so weiter. Besonders erinnerlich bleibt natürlich Pratajevs Ode an die „Schnapsbar“. Und dann passiert’s: Das eigentlich rasche Liedchen mit den zwei Sangesstrophen ist mittlerweile nur noch im Walzertakt möglich, steigert sich dennoch gegen Ende zum Hurrikane. Doktor Pichelstein wirft die Gitarre zurück in den Ständer, Doktor Makarios flieht unter Klatschgewittern von der Bühne.   Pichelstein will mit einem Satz seinem Doktor hinterher, landet beim Absprung aber direkt auf einem geerdeten Bierglas, geht zu Boden und kriecht schmerzumwunden gen Merchstand. Aber die Welt ist gut. Für kurze Momente des erlösenden Glücks.

Sofort wird ihm eine nicht unerhebliche Menge Ibuprofen an leckerem Nacktschneckenschnaps eingeflößt. Dann geht nichts, wahrlich gar nichts mehr und tags drauf wird der Elefantenfuß von sehr jungen Schwesternschülerinnen umsorgt. Der Chirurg schmunzelt nicht schlecht, als das Unfallprotokoll aufgenommen wird. Zu den Russian Doctors muss er unbedingt mal hin, sagt er noch. Und um diesen Erläuterungen ein kleines PS hinzuzufügen: Doktor Pichelsteins Teilnahme an den nächsten Gitarren-Paralympics ist lediglich ein Gerücht.   
      
      

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