Wednesday, January 27, 2016

Behandlungszeitraum 2012

















Verkoste Rattenhirn oder: Mach’s wie Freddy Mercury, mit mehr Emotion (246)
06. Januar 2012, Dresden/Chemiefabrik  

Zwei Tage nach dem Konzert in der Chemiefabrik Dresden huscht bisweilen noch ein langsames Lächeln ins Gesicht; Doktor Pichelstein schlief tags drauf glatte 13 Stunden in den nassen Sonntagnachmittag hinein. Da waren beide Doctoren längst wieder zuhause, selbst fiese Schneestürme auf dem Autobahnrückweg wurden kongenial bezwungen, zuvor sogar die Übernachtung in einer so genannten Musikerwohnung, ab fünf Uhr in unschuldiger Früh, überlebt. Die Berliner Support-Band hatte sich Stunden zuvor dort bereits eingenistet - und jedes noch so kleine Zimmer mit sich vollgemacht. Es sind halt die kleinen, feinen Unzulänglichkeiten, welche konsequent rasch im Tourleben gelöst werden müssen. Der Gitarrendoktor besorgte sich aus dem Bad Fensterstoff als Zudecke, Doktor Makarios verschlug es im vollen Ornat in ein doch noch unbelegtes Etagenbett. Lange Stunden zuvor begann der Freitag im russischen Väterchen Frost.      

Doktor Pichelstein lenkt das Tourauto auf den Parkplatz vor die Chemo, halb sieben schlägt die Kirchenuhr; wie man es schaffte, während der gesamten Fahrt MDR Inforadio mehr oder weniger zu lauschen, wird ein ewiges Rätsel bleiben. Vermutlich verließ sich der eine Doktor auf den anderen, Antenne Sachsen zu justieren. Denn nichts geht eigentlich über einen Schlager am Abend wie diesen hier: „Sie hat’s ihrer Freundin erzählt“. Interpret: jener im Tourtagebuch der Russian Doctors bereits mehrfach ausgezeichnete, unschlagbare Sänger Frank Ramond (auf der Rückfahrt, Höhe Paunsdorf-Center, Leipzig, endlich zu Gehör gekommen, vom Donner gerührt, keine Frage). Ute Kiez schreibt am 27.11.2011 über ihn auf seiner Facebook-Seite: „Schlaue deutsche (!) Texte, alltagstauglich und doch anspruchsvoll! Ich bin totaler Fan!“ Liebe Ute, sagen wir da: Wir auch. Und ergänzen: Wenn Frank Ramonds sonore Stimme in den Keller treibt, uns nichts anderes übrig bleibt, als ungläubig zu schauen und Zahnpflegekaugummi zu kauen. Bei Worten und Tönen, die jede Fahrt verwöhnen. „Aber mein Doktor, er ist nicht der Kaiser“, sagt bei Ende vom Lied der Pichelstein dem Makarios. „Nein, mein Doktor, der Kaiser ist und bleibt der Roland!“ Damit wäre das auch geklärt. König Wulff hin oder her.

Mit dem Chef vom Dienst plauscht man derweil am Chemo-Tresen. Mario ist für die Doctors seit Anbeginn der jüngeren Pratajev-Posthistorie in Laut ein echtes Geschenk und jedes Wiedersehen muss zunächst einmal freudig begossen werden. So auch heute; Support „Diving for sunken treasure“ trudeln in voller Stärke ein; die  Ledertrompete bläst zur Attacke. Der Soundcheck der Berliner verrät: Wau, Let’s go Gypsie-Punkrock feat. Akku-Schlagkraft. Selten, dass die Doctors mit einem derart passendem Kollegenprogramm auf der Bühne stehen dürfen. Stimmt nicht ganz, erst spielt Berlin, dann Leipzig. Und dazwischen liegen trunkene Stunden unter Freunden, im ewigen Marsch zwischen Merchstand, Theke und keramiklastiger Örtlichkeit. Die Pirnaer Pratajev-Freunde sind fein zahlreich genauso auszumachen wie die Schwarzbrennerin Silvi (ein holder Dank dem 45%igen Holundergeschnäpsle! Die Flasche war am Morgen doch glatt verköstigt) nebst Boris Brutalowitsch. Sämtliche Fotofreuden sind bereits jetzt unbändig groß; das Booklet vom Konzert wird’s gewiss dito bald geben. Genau 120 zahlende Gäste drängen sich derweil umher, längst sind’s nicht alle, so der Eindruck. Es fließt jede Menge Rattenhirn von der Getränkekarte in die Gläser; eine Mixtur aus Eier- und Kirschlikör. Wie’s schmeckt, wird den Doctoren ein hehres Geheimnis bleiben. Gespeist wird zwischendrin, gekühlt der Schlund mit Strohhalm-Rum.    

Dann endlich, kurz nach Geisterstunde, ist die Bühne frei. Doktor Pichelstein gibt sich wahrlich Mühe, aus Haufenweise Kabelsalat mit Pedaldressing eine anständige Beschallung in die Wege zu leiten. Doktor Makarios huscht schnell zum Tourauto. Wäschewechsel Richtung Schwarzhemd. Keine Zeit bleibt mehr fürs Setlistenstreuen; das Intro läuft bereits und die Feldrandmänner geben Schnellgitarrengas. Angelina, Vertreterin der Chemnitz-Fraktion, ist da leider schon fort. Doch der Zug kommt nicht; am Dresdener Bahnhof heulen bei Hasenwetter stattdessen Wölfe, was für ein Drama. „Tut mir leid für Angelina, wir würden auch gern 22:00 Uhr anfangen“, beschreibt sich später die Facebook-Situation trefflich.

Es wird ein Konzert ohne Pause, also ein gefühlt pausenloses Konzert. Eine ewige Verzahnung großer bis kleiner Pratajev-Episoden. Der rote Faden drunter wird gewebt mit romantischem Schnaps an trunkenen Weibern.  Mitunter werden sich gar die Punks im Pulk prügeln, zunächst um sich selbst, dann ums Mikro des Doktor Pichelstein. Merke: Sternburger kommt vor dem Fall. Oder war es der hohe Mut? Doch das beinahe erst zum Ende hin. Da sind knapp drei Stunden gespielt, Pichelsteins Finger waidwund, Doktor Makarios‘ Stimme tönt nur noch wie Radio Eriwan auf Kurzwelle. Und obwohl gar nicht so viele Schnäpse auf die Bühne gereicht wurden, besonders kein Rattenhirn, fühlt man sich arg trunken auf dem Bühnenschiff und trägt Schlotternde Knie. 

Der Zugabeblock wird endgültig zum Pogomoloch; berechtigte Angst hat nur der Tonmischer um die Subwoofer in seinen PA-Boxen, wenn wieder einer satanisch ins Mikro grölt: „Tote Kotzen öm Wöööönd…“ Doktor Pichelstein soll in der Folge eine reichlich figurbetonte Selbstgedrehte rauchen, doch er lehnt dankend ab. Wer weiß, was da drin ist? Dann beruhigt sich der Saal, der Zeitpunkt für Luft-Feuerzeuge ist eigentlich gekommen: Mit der Romantikballade „Der Bauch“ befriedet Doktor Makarios schließlich die Seinen vor ihm und weckt justament verborgene Emotionen damit. Sie kommen in Gestalt eines grauen Pullovers, eines zarten Brillengewandes, immer näher und sie sagen zu ihm: „Das war Emotion. Mach’s wie Freddy Mercury, so musst Du immer singen, mit mehr Emotion, verstehst Du? Emotion!“ Dem ist absolut, an einem Tag wie heute, rein gar nichts mehr hinzuzufügen.   

Das wilde Körnchen (247)
03. Februar 2012, Velten/Mic’s Bar   

Draußen klirrt’s Wintermärchen in der Uraufführung 2012; Doktor Makarios kann die damit einhergehenden Temperaturen überhaupt nicht leiden - nahezu frisch bis vulkanig aus mediterranen Eilanden heimgekehrt. Doktor Pichelstein beschwert sich bitterlich über eingefrorene Wischwasserschläuche. Doch immerhin verteilt die Heizung im Bus Liebeserklärungen an seine tourenden Insassen.

Einmal mehr geht’s heute ins Brandenburgische, nach Velten. Bei minus 15 Grad, Tendenz fallend. Ein zementiertes Russlandhoch, dunkelblau auf der Wetterkarte, trägt eisige Schuld dafür. Ein ums andere Mal werden Rastplätze angesteuert; die Frontscheibe verliert mehr und mehr an Durchsicht, knapp hinterm Berliner Ring gefriert die Fahrbahn. So rutscht man weiter durch bis nach Velten. Endlich.  Ab in die Wärme hinein, in Mic’s Bar. Kaum am Tresen angekommen, werden erste Getränke feilgeboten. „Und wenn Ihr Hunger habt – Ich hab da mal ein Buffet aufgebaut“. Wanderer, was willst du mehr?

Nach Hotelein- und Soundcheck treffen die Abordnungen von Concordia Teschendorf bis Krumme Rute ein. Baumfreund Ekmel gab im Vorfeld alles, um die halbe Gegend in die Bar zu locken, warf sich (der Legende nach) höchst selbst vor in die Ferien fahrende Anglerautos. Krankenscheine werden telefonisch eingereicht; man hofft umso mehr auf den Zuspruch bisher nur teilbedarfter Pratajev-Freunde -  und braucht in der Pause, nach dem ersten Konzertblock, nicht lange danach zu suchen.

Im Raucherfoyer hagelt’s erste Gastkritik: „Nee, die Texte sind mir zu hart“, sagt eine, die es wissen muss. „Es kommen noch weichere“, entgegnet Makarios dem älteren Semester. Dann ist es da, das wilde Körnchen, tanzt sich beschwingt heran. „Hart muss es sein!“ ruft es dem verdutzten Makarios auf dem Rückweg zur Bühne hinterher. Nicht ohne vorher noch Visitenkarten zu verteilen.

Begann das Konzert aus aktuellem Anlass mit Pratajevs Lied über die Gefrierkatastrophe von Bolwerkow, „Als das Eis kam“, geht’s nunmehr weiter mit  schlimmen, weichen Tierliedern. Das wilde Körnchen samt Geburtstagsbelegschaft treibt im Hintergrund dazu ihr Feinwesen. Vorn stellt Krumme Rute die textsichere Übermacht, Concordia Teschendorf sitzt derweil im Leder. Baumfreund Ekmel sorgt bis über den letzten Zugabeblock hinaus dafür, dass die Doctors nicht dürsten. Auf die Bühne gereicht werden in gehaltvollen Abständen tschechische Süßschnäpse, die genauso aussehen wie ein brennender Slibowitz. Lecker und klebrig. Doktor Pichelsteins Plektrums verlieren sich des Öfteren darin.

Dann ist Schluss, aber nicht mit lustig. Körnchen rückenmassiert Doktor Makarios an der Schnapsbar; der arme Doktor weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Da hilft nur die Flucht nach vorn, ins Foyer der Raucher. Leckerer, süßer Tschechenschnaps steht bereit. Hinein damit in den Schlund. Doch weit gefehlt; es ist ein Slibowitz und der Gaumentrog zieht bittere Falten ins Gesicht. Nun denn, was soll’s. Beim Eishockey würde man jetzt rufen: Bully Bully Bully, hinein!          

Ein Kälteopfer mehr in Europa (248)
04. Februar 2012, Klossa/Dorfkrug    

Bereits am frühen Nachmittag parkt der Bus am Dorfkrug zu Klossa. Ein nahezu heiliger Ort unter Bewohnern und Radfahrern der Gemarkung Jessen/Elster, nahe Wittenberg. Mit dem Rad kommt heute allerdings niemand durch; weiterhin bewegen sich die Kältegrade knapp unter der Diesel-Ausflockgrenze. „Bald werden sie wieder vom Jahrhundertwinter reden“, sagt ein Doktor dem anderen. „Wie wahr, dabei ist’s doch jedes Jahr winters dasselbe Spiel.“  „Und erst die Klimakatastrophe…“ Da ist er schon, Marcus, heutiges Geburtstagskind, somit Veranstalter eines späterhin mindestens als großartig zu bezeichnenden Abends. Doktoren werden in den Krugsaal hineingeführt, staunen über die großangelegte Licht- und Tonanlage zur Beglückung des Publikums. Auch an den Skatpokalurkunden der letzten drei Jahre verharren sie anerkennend. Inge hat Kaffee und Bockwürstchen fertig.

Nun befällt einen nicht jeden Tag ein Déjà-vu. Inge, Senior-Chefköchin im Dorfkrug (ehedem Messe-Häppchen-Profiteuse in Leipzig, GDR, brachte somit vielleicht erstmals Kaviar und Aal nach Klossa) mag zwar 10 Jahre mehr auf dem Buckel haben, als das gestrige Velten-Körnchen. Doch Inge hat’s ebenso faustdick hinter den Ohren, flirtet mit Doktor Makarios, als gäb’s kein Morgen. „Ich kann das auch noch mit der Stange, wie diese jungen, nackschen Dinger heutzutage. Nur würd ich mindestens 500 € nehmen!“ Verblüfft sieht man sich an, bekommt dafür Klapse auf den Po geschenkt, nun denn. Schnell zu den Bockwürsten, dann ins Sky-Bundesligazentrum. Gastfreundschaft kennt keine Grenzen, herrlich.

Ende der 2. Halbzeit steckt Grand Seigneur KuK den Kopf durch die Tür, immer wieder schön und Hallo, Russ and the Velvets haben’s Tagesziel dito erreicht. Es wird sechs und sieben, gefühlt könnte es bereits Mitternacht sein. Doch dafür stehen, bzw. sitzen sie alle noch, die Gäste im Dorfkrug. Marcus wird von allerlei Händen bedrückt; die Geschenkecke quillt über. Am Katzentisch, vorne an der Schnapsbar, sitzen auch welche, tippen wir mal auf Nachbarn. „Die trauen sich nicht rein“, sagt ein Doktor dem anderen, auf dem Weg zur Feuerschale, der heutigen Rauchstätte, immer bestens besucht. Möglichst mit der Flasche oder dem Schnapsglas in der dafür vorgesehenen Hand. Jene Feuerstelle wird gewiss Mitschuld daran tragen, dass Doktor Pichelstein zwei Tage nach Klossa fiebrig hinüber ist. Nun gut, wer nach einem durchaus kräftezehrenden Konzert mit schweißnassen Haaren durch Sibirien stakst, sollte sich darüber nicht wundern. Erst als die ersten, vereisten Haarbüschel beim Wuseln abbrechen, wird an leichte Kopfbedeckung gedacht. Zu spät, ein Kälteopfer mehr in Europa: Doktor Pichelstein.

Die Doctors spielen heute Sandwich. Zwischen Hamburger Blumfeld-Verehrern und jenem Cottbus-Kommando, das es nur einmal geben kann: Russ and the Velvets. Diese Kombi gab es schon einmal: 2005 in Großenhain, Open Air. Einst wurden die Velvets, je näher sie sich an den Zugabeblock heran kämpften, immer nackiger. Heute kleiden Big Boss Russ Rockerstrapse nebst Heldenröckchen. Alles in allem: Voyeure des Dramas, Adieu Tristesse!

Das alles erst später; Pratajevs Erben spielen auf und es macht großen Spaß. Der Dorfkrug sitzt bereits nach wenigen Minuten Kopf. Makarios jongliert mit delikaten Zutaten des pratajevschen Wörterbuches, Pichelsteins Gitarre wird mit reichlich Bühnenwodka angetrieben; der Lichtmann am Pult zaubert wie einst Arthur Penn es tat. Dann reicht’s. Raus an die Schnapsbar, respektive Kälteopfer werden an der Feuerschale. So vergeht sie, die Nacht zu Klossa an der Schwarzen Elster. Die letzte Band sorgt filigran dafür, dass alles im Fluss bleibt. Noch zwei bis vier Pfefferminzgetränke in Grün an der Bar, Doktoren werden hernach mit den Velvets nach Schweinitz, ins „Haus am Wald“ aufbrechen, um am nächsten Frühstückstag gemeinsam ordentlich Schimpfe zu bekommen.

„Sie haben geraucht!“
„Wir haben sogar geatmet.“
„Generalreinigung!“
„Wasserleitungen abgestellt.“
„Oder eingefroren.“
„Kann sein.“
„Warst Du auch noch auf dem Klo?“
„Wie sollte ich das mit den Wasserleitungen denn wissen?“ 
„Zimmermädchen möchte ich jetzt nicht sein.“
„Nee.“
„Wo ist Schlüssel zwei?“
„Oh, hier, nee, das die Vier“.
„Dann steckt die Zwei in der Vier.“

So geht das eine kurze Weile hin und her. Am Ende sind die Autoscheiben freigekratzt, der Rücktransfair gen Klossa darf starten. Vielen Dank, lieber Marcus, großer Abend, großes Fest.      



Unterm Kreuz aus Holz (249)
10. Februar 2012, Langendorf/Friedhofsverwaltung

Na, wer kann schon als reisender Musiker von sich behaupten, jemals in einer Friedhofsverwaltung aufgespielt zu haben? Weiterhin gar auf den Geburtstagsfeierlichkeiten eines bestimmt weichen Kissens? Natürlich niemand. Obwohl das mit der Örtlichkeit, unterm Brennglas betrachtet, nicht so ganz korrekt ist. Bühne und Partyraum werden alltags weder von Sensenmännern noch von Gottesackerbuchhaltern bewohnt; eher spielen sich Malgruppen der katzischen Kita „Mischka“ sowie andere Ortsaktivitäten in die Hände. Aber nun. „Friedhofsverwaltung“ steht am Eingangsportal und da wollen wir’s nicht unerwähnt lassen.

Gleich um die Ecke präsentiert sich berglings eine spätrömische Kirche, in der sich nicht nur Teile der etwa 570 Einwohner des unteren Greißlautals am WGT die Arme  reichen, nein, auch Ostrock-Duos treten hier dann und wann in die Fußstapfen von Mönchen und Nonnen. Wobei jetzt sofort gerufen werden muss: The Russian Doctors sind kein Ostrock-Duo! Und wir wollen auch nicht sagen, wer eines ist. Denn dann heißt es wieder: Im Tourtagebuch der Doctors wird über verdiente Musikerpersönlichkeiten gelästert. An wen gedacht werden dürfte, wird ebenso nicht verraten. Nur noch, dass ein WGT kein Wave-Gothic-Treffen ist, sondern zumindest in Langendorf immer noch als Kürzel für den jährlichen Welt-Gebets-Tag der Frauen (jeweils am 1. Freitag im Monat März) Verwendung findet.  Zum Beweis dafür hängt ein Kreuz aus Holz an der Wand des Partyraumes. Genau darunter, Heiligenscheine stets tüv-geprüft mit sich führend, schrauben sich die Doktoren Makarios und Pichelstein den Auftrittsort zurecht.

Die Fahrt hierher gestaltete sich recht mühsam; ein russisches Hoch schrieb den Doctors kurz vor Reiseantritt folgendes Fax: „Ihr singt immer noch vom Dichter Pratajev? Dann spürt am eigenen Leibe, wie kalt es der im Winter hatte. Nämlich sehr kalt. Und passt beim Rauchen draußen mal auf, dass Doktor Pichelstein diesmal auch ja eine Mütze auf dem Kopf trägt. Nachts schicke ich Euch mal Minus 23 Grad runter. Maximale Erfolge“. Und so kam es dann auch. Auf dem viel späteren Weg zur Weißenfelser Pension Liebert (wegen Trauerfall morgen kein Frühstück), gewahr werdend, beim Blick aufs Außenthermometer. Schockstarre.  

Doch bis dahin vergehen insgesamt sehr lustige, deftige, leckere und feierliche Stunden, werden die Doctors vom Geburtstagskissen nach der ersten Drittelpause mit je einem handgefertigten Schlips aus Lurch sowie einem gelben Fettfrosch beschenkt (dafür sei der Dank unermesslich, bestimmt gibt’s davon viele Erinnerungsfotos), erklären sich Pratajevs historische Lyriken wie „Der Bauch“ im Einzelunterricht und ganz hervorragend: Ein Kollege Igor Pavlowitschs ist auch zugegen. Kurzum: Viel hat man sich zu erzählen, darunter mixen sich kalte Getränke zu warmen Konzertblöcken. Es gibt alles, was das Herz begehrt und manches, was es lieber nicht gehört hätte. Na gut, wenn im Katzenkita-Umfeld wider Erwarten die Katze im Lied stranguliert wird…  Der Beifall ist stets auf hohem Niveau, ein Abend, den das Dorf bestimmt noch lange in Erinnerung behält, neigt sich dem gelungenen Ende. Froh ist man, dass alle beim Abtransport der Bühne zum Bus mit anfassen und dankbar dem Kissen, der Katja, der Melanie und natürlich darüber, dass in der Pension Liebert die Heizungen funktionieren. Da sieht man schon mal über, sagen wir, interessantes Geschmacks-Interieur hinweg. Doch seht selbst:




Zweihundertfünfzig! (250)
23. Februar 2012, Leipzig/Flowerpower

Ein Hauch Aufregung durchzieht die letzten Tage. Je näher das 250. Konzert der nachweltlichen Geschichte Pratajevs rückt, umso heftiger sickert’s Adrenalin bauchabwärts. Als Tags zuvor in der Leipziger Volkszeitung Doktor Pichelsteins Interview über die intimen Hintergründe des sich anbahnenden Flowerpowerabends in Bild und Text erscheint, wird’s nicht besser. Leichtsinnig erklärte der Gitarrenverantwortliche der Doctors dort, dass „meinetwegen 250 Stunden“ gespielt werden könne. Die Folgen blieben nicht aus und sollen an dieser Stelle keineswegs unerwähnt bleiben. Ja, wie die Zeit vergeht. „Sollen wir vorher proben?“, fragte ein Doktor vorfeldig den anderen. „Ach wozu“, sagte der. Wie recht er hatte. Bislang war es zudem so, dass es Pratajevs Lyriken beinahe ausschließlich via Soundcheck schafften, ins Liveprogramm zu gelangen. Manche wurden darüber hinaus gar völlig vergessen. Nur beinharte, doctoreske Konzerthistoriker werden sich diesbezüglich noch an frühe Stücke wie „Im Mondlicht die Pappel zittert“, „Die Wumme“, „Kamm aus Horn“ oder „Der Rumpf“ erinnern.

Vorboten des Frühlings lassen die Sonne tief ins Gemüt scheinen, gut so. Auch der Parkplatz vorm Leipziger Flowerpower wird zum Geschenk. Dann mal alles rasch hinein, die Bühne aufgebaut, das Bagel-Catering verdrückt – mit fettigen Fingern davon gleich die ersten Gäste begrüßen. Chemnitz-Stadt ist schon da; Karl-Marx-Land folgt später und Gurt Kaktus, nebst sehr junger ex-Praktikantin, beleuchtet das Sein mit sich und einer neuen Schnapsschwarzmarktblüte namens „Prumskis Beschleuniger“. In der Drittelpause wird’s eine Pratajev-Tombola geben; unglaublich, was der Herr Kaktus dafür alles aus seiner Plastetasche zaubert. Selbst ein Buch aus der Bibliothek Anatoli Prumskis befindet sich darunter, versehen mit einem Echtheitszertifikat von Prof. Igor Bulgatschow II sen. Die Uhr schlägt 21 Uhr; das Flowerpower wird zum Füllhorn, an der Schnapsbar machen sie sich Sorgen: Kein Durchkommen mehr ab 21:30 Uhr. Wenn doch bloß endlich mal jemand die Kneipenrohrpost erfinden würde. Euros in die Schatulle, Getränk feuert zurück. Dann feuert die ankommende Berlin-Sektion.

Vertreter des modernen Pratajevforscherflügels, in Persona: Winogradow, Eademakow nebst Damengeleit, rumpfgehüllt in rotes Shirtzwirn, darauf gedruckt: schwarzes Kyrillisch zur Feier des 250. Konzerttages, wie der frohgemuten Ankündigung nach der 2. Drittelpause gar selbst die Pratajevbühne entern zu wollen. Und zwar mit der Darbietung eines Stückes der Gypsy-Punk-Band Gogol Bordello, von dem im weiteren Verlauf der Pratajev-Forschung noch die Rede sein wird. Eine Botschaft also schöner als die andere. Das verehrte Volk um Goethes Erbsen weiht dem Tag gar eine Bildung, schwarze Farbe auf Stoff, Pratajev im Kreis der Doctors. DAS Relikt fürs Dichtermuseum, von dem ja immer mal wieder die Rede ist. Eine dreiviertelkomplette Bürogemeinschaft ergattert den letzten freigehaltenen Platz: Betriebsausflug am Donnerstag! Freitage werden überbewertet! Das denkt sich seit Jahren ebenso jener Sizilianer mit bayerischem Dialekt, der fortan mit einer Vertreterin aus Chemnitz-Stadt in Kommunikation gerät. Psychologen, Vertreter der Universität Leipzig, lange nicht/eben erst/nie gesehene Menschen drängen sich vor die Bühne. "Irgendwo im Volk muss mein Doktor sein", denkt der eine Erbe Pratajevs über den anderen. „Vorsicht, Vorsicht“, brüllt Chefkellner Strobi mit dem vollsten Getränketablett in Händen, was je eine Flowerpowertheke verließ…

Viele dieser großen, kleinen Geschehnisse im Konzertheißlauf gibt es weiterhin zu berichten; die Zeit rinnt dabei selbst beim Beschreiben von der Uhr - wie’s Flüsschen zum Bache schwillt. Allen sei an dieser Stelle ausdrücklich, herzlich, russisch, drückend, händeringend, bruder- und schwesterküssend gedankt! Und wer nicht da war, wer das 250. Konzert der Russian Doctors im Flowerpower tatsächlich verpasste, nun ja, der muss vom Hörensagen leben. Aber das kann auch nicht schaden, denn die nächsten Konzerte kommen ganz gewiss. Wiegt Eure Rümpfe dazu! Statt weiterer Berichterstattung, nunmehr Eindrücke, gefangen genommen von Branislav Malymozek, dessen Leitsätze fürs neue Jahr hier gerne wiedergegeben wird: 

Neues Jahr
Wunderbar
Das alte weggesoffen
Das neue lässt uns hoffen
Auf guten Schnaps und schöne Frauen
Auf was zum Rauchen, was zum Kauen
Und Freunde, die mit dir was singen
So wird das neue Jahr gelingen



Die Bierstuben sind noch fern (251)
25. Februar 2012, Wittenberg/Irish Harp Pub 

War es ein feiger Anschlag fundamentalistischer Fastenfreunde im Rom der Evangelen, der Lutherstadt Wittenberg? Nur durch beherztes Herbeirufen eines fachkundigen Elektrikers zur schönsten Bundesliga-TV-Zeit bewahrt Chefwirt Benni Bang das Irish Harp, nach einem Kabelbruzzler im Verteilerkasten, vor ewiger Dunkelheit und Verdammnis. Aufatmen allerorten, als Pratajevs Erben vorm ersten Guinness an der Schnapsbar stehen. Die ruhmreichen Folgen des vorausgegangenen, 250. Konzertes sind ad absurdum geführt. Lange wurde geschlafen, gleichwohl lange dauerte es auch, bis der Promillepegel aller Beteiligten wieder gen Null tendierte. Nun kann nichts mehr schiefgehen: Auto entladen, Bühne, frische Monitorboxen bewundern, zweite Runde Guinness bestellen. Dann vielleicht ein Kilkenny. Man muss im Grunde gar nichts bestellen -  steht einfach schon da. Herrlich, wenn einem die Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Wenn die harte Wirtin lächelt. Hunger? Immer! Den Wanderern werden Speisen gereicht. Ewig soll das so anhalten, na zumindest bei Konzerten im heiligen Geiste und Sinne Pratajevs. Wollen mal schauen, ob selbst in der fastenzeitlichen Lutherstadt gefesselt und geknebelt wird, ob sich die Rümpfe wiegen, die Brüste beben und allen der Schnaps schmeckt.

Und wie! Der erste Konzertblock macht’s bereits möglich. Bis halb Mitternacht steigert sich das Stimmungsbarometer zum Diskant; wer eben noch still in der Ecke saß, greift zum Glas, wiegt den Kopf und verurteilt jedes Stillleben. Ab und zu blickt Doktor Pichelstein, beim Schluck aus der Konserve, ins freundliche Fußgängerfeld der Spaziergängernacht. Dort, auf dem nassen, nächtlichen Kopfsteinpflaster, ist es wie immer: Ältere Männer werden von älteren Frauen Gassi geführt. Die Männer bleiben stehen, sehen ins Leuchtfeuer, ins Fenster, das pure Glück des Irish Harp vor Augen. Doch sie müssen weiter, dürfen nicht hinein zu den Russian Doctors, an die Schnapsbar. Nein, sie müssen weiter und wissen seit Jahren nicht mehr warum. Wie passend, dass Doktor Makarios den „Raucher von Bolwerkow“ ankündigt.

Um Punkt 12 geht’s weiter; die sehr junge Teilzeit-Schwesternschülerin Pia hat Geburtstag. Zum Geschenk gibt’s live den „Rumpf“ und ein Liederbuch Pratajevs. Möge dieses Werk überdimensionales Glück bescheren, denn damit lassen sich große Teile der Pratajevschen Hinterlassenschaften prima auf der Gitarre nachspielen und auch singen. Unterdessen schunkelt eine Harzreisefamilie klatschend die Menge durcheinander, spielen die Doctors sich selbst in die Zugaben hinein und sind recht froh, als aus den Wirtshausboxen alsbald Musik erklingt. So süßlich-trocken wie ein guter, irischer Whiskey. Den gilt es nun zu trinken. Die Bierstuben mit ihren Doppelbetten sind noch fern. Halleluja! Morgen ist erst wieder Fastenzeit. Heute lang noch Feierzeit.     

Im Fahrradladen gegenüber (252)
17.März 2012, Leipzig/Dr. Seltsam   

Hinlänglich bekannt dürfte es sein, dass die mittelbare Konfrontation in Sachen Leipziger Buchmesse der unmittelbaren (Messegelände, Rudelbildung, Jahrmarkt der Eitelkeiten uvm) immer vorzuziehen ist. Nicht nur Sozialphobiker schwärmen deshalb mittelbar von einem Setting namens „Leipzig Liest“; verteilt auf die gesamte Heldenstadt lesen sich Autoren darin Wölfe. Die Orte dafür sind einmal interessant (Buchhandlungen, Uni-Hörsaal der Rechtsmedizin), nett (Kneipen), verwegen (Hinterstübchen) und anderweitig seltsam. Pratajevs Erben buchte man, mitsamt der Punchliner-Leseshow, ins Verlagshaus PaperOne. Es radelt der Doktor Makarios hin, Doktor Pichelstein nutzt widerwillig den öffentlichen Nahverkehr. Widerwillig deshalb, weil Leipzigs Busse und Bahnen, vor allem in der Wochenendzeit ab 18 Uhr, auf den Magistralen elendig überfüllt sind. Zu geht’s wie vorm Spätverkauf, Schweiß und Siechtum beflügeln die Luftfeuchte. Was man nicht alles auf sich nimmt, damit das Auto zuhause bleiben darf. Man spielt total unplugged und dafür braucht es kein schweres Bühnengerät.

Die PaperOne-Belegschaft rechnet mit 20 zahlenden Gästen. Nun ja, unbekannterweise. Denn hinter einer „Punchliner-Show“ stecken schon die literarischen Slam-Hochkaräter Micha-El Goehre, Marian Heuser, Björn Högsdal, Andreas Weber, Torsten Wolff und Axel Klingenberg. Was tun? Rübergehen, ins Dr. Seltsam. Ein Mix aus Fahrradladen und Kneipe. Die Merseburger Straße weiß immer Lösungen. Vielleicht hätte man sogar ins Noch Besser Leben umziehen sollen, denn auch das Seltsam platzt bald aus allen Nähten. So hockt Doktor Pichelstein gitarrestimmend hinterm DJ-Pult, sitzt Doktor Makarios auf einem Puppenhaus-Gitarrenverstärker. Die Stimmung ist prächtig und Stimme gewinnt. Die Russian Doctors eröffnen mit „Da hält der Wind den Atem an“.

Die geneigten Slam-Kollegen sind bester Laune; da kein Platz mehr für den obligatorischen Buchstand ist, verdingt sich Verleger Andreas Reiffer, naturgemäß dito für die Pratajev-Bibliothek zuständig, als Autoherausverkäufer auf dem Straßenkopfstein. Es klirren die Flaschen, es tanzen die Gläser. Drinnen wie draußen nehmen Schnapslaunen Gestalt an. Intermittierend greifen die Doctors ein, Stichworte aus Vorträgen aufschnappend, Pratajevs Texte ins Dr. Seltsam hinein schmetternd. Gemeinhin ein seltsam schöner Abend, Schlusssirene: Jeder Schluck ist ein guter Schluck. Und jeder Weg in die nächste Kneipe, ins NBL, ein kurzer Weg. Gerne wäre man noch hinausgegangen, um den Punchliner-Tross zu verabschieden, doch der eisgekühlte Becherovka glänzte einfach zu sehr. Deshalb an dieser Stelle, nachholend erwähnt: Gute Heimreise!     

Auf die Familie! (253)
12.Mai 2012, Leipzig/Russischer Abend im PaperOne

Die Frage des munteren Lesespielabends „Warum Russland“ lässt sich herrlich leicht mit Antworten abfinden; Diane Hielscher, Doktor Makarios berichten in Worten, Doktor Pichelstein greift mitunter zur Gitarre, zur Flasche.

Die Feinheiten der russischen Vulgärsprache kommen zum Tragen, Pratajev wusste einst gar die Grobheiten zu schätzen. Zwischendurch wird, versehen mit einem Glas Wodka, das Tal der Eisheiligen betreten, einem Trinkspruch auf die Familie im Großen, dann im Ganzen folgend. Während der Fußballclub Bayern München das erste Triple der Vereinsgeschichte anstrebt. Vize-Meister, Vize-Pokalsieger usw.

Der letzten Runde folgt ein logischer Gang nach schräg gegenüber, ins Noch Besser Leben. Das hat man sich verdient - und in ein paar Tagen geht’s nach Berlin, aufs Schiff. Großes Festival auf der Spree!  

Verdorbene Jugendliche (254)
17.Mai 2012, Berlin/Jugendschiff Rimili 

Überm Fluss, im Sanierungsgebiet Treptow-Niederschöneweide, kreisen die Reiher. Forscherfreund Eademakow versucht sich als Tierfilmer der grzimekschen vs. tembrockschen Schule; kaum mag es gelingen, die von Anglern und Fischteichfreunden gefürchteten Könige der Berliner Spreelüfte in die Digitalisierung zu zwingen. Allenthalben fragt man sich, worauf es denn stets hungrige Reiher überm Spreeabschnitt Hasselwerder Park abgesehen haben könnten? Aufgrund der offensichtlichen, eher ins Grünlich-Trübe spielenden Wasserqualitäten folgern die Fischexperten Doktor Makarios und Doktor Pichelstein nur eines: Die wollen an den Karpfen. Der Karpfen ist schließlich ein Sumpffisch; mitunter wird er nicht umsonst  das Mastschwein unter den Flussbewohnern genannt.  

Goldeck-Fotografin & Covergestalterin Claudia richtet derweil die Kamera auf zwei sehnsüchtige Matrosen; die fliegen nicht weg, die bleiben an Bord und haben eine Samtmarie im Sinn. Darunter füllt sich der Kahn, das Jugendschiff Rimili, „the unique alternative ship festival”, nimmt Fahrt auf. Erste Bands sorgen für veritable Klangteppiche; Druschba und Hallo an die Pillbox Tales aus Hamburg! Schönes Wiederhören! Doktor Pichelstein reist mit Veranstalter Marco zwischendurch zur Pension. Die Betten sind bezogen; früher residierte in der Villa der russische Militärgeheimdienst, heute gibt es im Erdgeschoss eine Schuldnerberatungsstelle. Geschichte wiederholt sich: Nicht alle Berliner gingen oder gehen fröhlich pfeifend ins Gebäude hinein. Ganz anders späterhin die Doctors, aber bis dahin ist noch genügend Zeit. Wollen wir an dieser Stelle mal kurz die nachtäglichen Konzerteindrücke unserer Besucherin Miss Ada aus dem Facebook frech übernehmen: „Wache auf mit Schleim am Arm, langen blonden Haaren und mit Lurchenleder gefesselt. Auaua, warum hatte die harte Wirtin gestern eigentlich keine Schnapsbar? Habt ihr schön getanzt, ihr jungen Burschen? Irgendwie höre ich Schreie und stelle fest: In meinem Keller ist noch ein Rotarmist!! Aber immerhin geht‘s der Kuh noch gut! Jetzt aber erst mal nen Biber zum Frühstück - Dr. S.W. Pratajev, klären Sie bitte dieses seltsame Szenario auf!“

Wir wollen das gerne im Sinne des großen Dichters tun, sagen aber mittenmang, in Großbuchstaben, zunächst DANKE für den Tag auf der rockenden Spree! Danke dem unermüdlichen Marco wie dem Schatzmeister, der als Meister aller Schätze in die Historie dieses denkwürdigen Tages eingehen darf. Herrlich, schön, prächtig. Und vor allem: mediatorisch wertvoll. Schließlich hört man es nicht oft, dass keine Jugendlichen unter 16 Jahren auf ein Jugendschiff gelassen werden dürfen. Ein entsprechendes Werkhof-Schutzgesetz will es so und irgendwo steht da bestimmt neuerdings drin, dass Pratajevs Texte Jugendliche verderben. Wir wollen das nicht behaupten, nur vermuten. Und genau wie die Veranstalter bedauern wir die Abweisungen durch die Security am Steg sehr. Denn die Veranstalter traf keine Schuld; es brach uns gewaltig das Herz, als ganze Vatertagsfamilien am Steg wieder nach Hause geschickt wurden. In Russland hätte es das zu Pratajevs Lebzeiten nicht gegeben! Ein kleiner Trost an dieser Stelle soll die Ankündigung der Jubiläumsplatte der Doctors sein. Denn die trägt im nächsten Jahr den Titel: „Kinderlieder für Heimatlose“. Und, liebe Kinder, kommt alle zum Elbhangfest nach Dresden – Familiensonntag an der Grottenwirtschaft. Welche Abschweifung, denn ein Szenario harrt der Aufklärung.

Der Sound im Schiffsinneren, auf der Bühne ist ein Fest. „Profi am Mischpult macht gute Laune“ – so die Formel 1 auf musikalischen Reisen. Formel 2 ist reine Poesie:  „Lecker gespeist und getrunken, gut verreist und gerne zurück gewunken“. Die Formeln 3 bis 100 erklären wir vielleicht später mal. Aber die Formel 101! Die gibt es selten, nämlich dann, wenn auch zu Ehren Pratajevs, mitten im Set, ein Feuerwerk gegeben wird.  Es knallt, scheppert, blitzt und leuchtet am gegenüberliegenden Ufer. Rock@Spree hat alles, was man sich wünscht und genau das, liebe Miss Ada, klärt das gesamte Szenario auf.     

Ein Sommermärchen (255)
09.Juni 2012, Jena/JG Stadtmitte  

Schwer vom Fado gezeichnet gleitet das Tourauto, mehr langsam als schnell, gen Jena. „Mein Doktor, es ist alles so furchtbar“, sagt einer zum anderen. „Heute gucken alle Fußball, da kommt bestimmt kein Mensch“. Andächtige Pause, sogar das Radio schweigt. „Jaja, na mal schauen“. Selbst die Zebrastreifen werden, wie im Süden Europas üblich, als Empfehlung gesehen; Doktor Pichelstein denkt an den gerade erst vergangenen Urlaub, an Portugal und die Fußgängerinnen schimpfen wie deutsche Fußgängerinnen mittleren Alters halt schimpfen, wenn sie nicht zu ihrem Verkehrsrecht kommen. Aber das Motto des Tages, des Jahres, des Lebens lautet nun einmal: „Verzweifelt, wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung“. Das Unrecht heißt Deutschland. Die Empörung darüber ergibt sich so von selbst. Bleiben Sie bitte eine Weile in Portugal, genießen Sie das Land und was erwartet einen zurück in Deutschland? Genau, schimpfende Fußgängerinnen mittleren Alters. Überteuerte Zigaretten, schwarz-rot-goldene Hobbyhorden, Pommes mit Majo, all das.  

Und Lothar, den Pfarrer der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte. Ein erster Lichtblick streift die Doctors. Ein Quell voller Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Lothar ahnt den Fado der Doctors. „Da stimmt was nicht, die schauen so traurig“, mag er denken. Ein Plenum wird einberufen, die Frau- und Mannschaft der JG abendlich angeheizt, feurige Brände kreisen und langsam lächelt Doktor Makarios. Lächelt auch Doktor Pichelstein. Obschon ihm eine portugiesische Doradengräte seit Tagen im Zahnfleisch steckt. Ein Umstand, gefüllt mit Schmerzmitteln. Nein, zum Zahnarzt will er nicht. Noch nicht. Aus den Boxen erklingt André Heller; ein trauriges Lied, was der Lothar da auflegt. Da ist er wieder, der Fado. Noch einen Trank, dann einen Trunk. Vor den Toren der JG läuft das Public Viewing der Europameisterschaft. Erstes Spiel. Deutschland gegen? Natürlich gegen Portugal.

Der Soundcheck ist schnell erledigt; im Schankraum wartet französisches Huhn an Kartoffeln, Erbsmöhrenbrei. Dazu wird Weißwein serviert. Herrlich. Immer näher rückt Portugal, das jüngst verlorene Paradies. Das jüngst für kurze, na gut, für etwas längere Zeit, verlassene Stück Himmel auf Erden. Meine Güte, was für ein Mahl. Und was geschieht mittlerweile draußen? Die ersten sehr bekannten Gesichter tauchen auf. Da ist der Eddi vom Majorlabel, die Anne, da sind auch noch Jahn & Marczinke und die treten jetzt auf. Zu Hofe füllt es sich. Immer mehr Menschen folgen dem Motto des Tages. Unrecht und Empörung wachsen; die Sonne geht darüber unter, der freie Himmel indessen weint überhaupt nicht.

Dann starten die Doctors mit ihrem Pratajev, dem es hier gewiss gefallen hätte. Und spielen sich in einen gefühlt nie enden wollenden Rausch. Der Fado kann so etwas, der setzt ungeahnte Kräfte frei. Und sehr dankbar ist man auf der Bühne über die kurzen Besuche vom Lothar, seinen Jungs und Damen. Denn stets hat wer ein Gläschen Brand dabei. Immer wenn das gesungene Wort „Schnaps“ auf die tobende, tosende und feiernde Menge übergeht, ist das das Zeichen. Und wer Pratajevs Texte kennt, weiß nur zu genau, dass der Dichter damit in seinen Texten nicht geizte. Und so geht es weiter und weiter, immer weiter. Bis in die allerletzte Zugabe hinein. In den Walzer der Schnapsbar. In den Himmel von Portugal. Denn die Sterne, die da oben stehen, die stehen auch über der Algarve. So weit weg kann sie also gar nicht sein.

Lieber Lothar, liebe Menschen der Jungen Gemeinde Jena. Das war wahrlich ein Fest. Ihr habt zwei kleine Doktoren sehr glücklich gemacht. Das Leben ist halt manchmal ein Sommermärchen.

Wenn Pratajevs Medizinische Schriften wahr werden  (256)
23.Juni 2012, Elbhangfest Dresden/Alte Feuerwache

Pratajev-Forscher leben gefährlich. Befassen sie sich mit dem Sujet der Medizinischen Schriften, etwa im Zahnbereich, ist der Besuch einer ebensolchen Klinik nicht mehr fern. Zum Glück muss heutzutage kaum mehr befürchtet werden, dass auf dem Gebiet der Implantologie zwar sterilisierte, wenn auch bedenklich geschnitzte Holzgebisse zum Einsatz kommen. Genauso steht es, nach Antibiotika-Experimenten, um die Haarzunge. Weiblichen Forschern droht der Verzerrte Mund, verschweigen wollen wir ebenfalls folgende Krankheiten nicht: Schleim am Arm, Lungenschizophrenie, Holz im Auge und, weil leidvoll aktuell dem Ehrenvorsitzenden der Pratajev-Gesellschaft, Doktor Makarios, angetragen: Luft im Bein. So etwas zerrt an den Nerven, das braucht Schonung, sehr junge Schwesternschülerinnen, Heilung und die Entscheidung, nach dem heutigen Konzert auf dem Dresdener Elbhangfest eine kurze Genesungspause einzulegen, wurde mit größtem Verständnis (nebst bedauern) aufgenommen. Heißt: Die Doctors pausieren bis Anfang September, verkrümeln sich zwischendurch ins Tonstudio und nehmen ein neues Album fürs Jubeljahr 2013 (10 Jahre TRD!) in Angriff. Der Herbst wird, was wird er? Heiß! Egal ob die Blätter fallen und aus allen Gallen bösartige Substanzen steigen. Nein, das wollen wir nicht geschrieben haben. Haben es doch und hoffen, dass Pratajevs medizinischer Nachlass zur Raison gebracht wird.

Gemächlich holpert und pirscht sich das Tourauto zur Villa Ulenburg; gesucht wird ein Weißer Hirsch, gefunden eine schicke Pension mit Blick mindestens bis ins Riesengebirge. Blauer Himmel, 30 Grad, die Sonne gibt sich finaltauglich. Das nächste Ziel heißt Loschwitz, Alte Feuerwache. Gewöhnliche Fragen wie: Kann man den 2011er Auftritt hier eigentlich noch toppen?, die stellen sich nicht. Geruhsamkeit gewinnt und alles wird sich richten. „Das ewig Weibliche zieht uns zum Hang“, lautet das Motto des 22. Elbhangfestes So soll es sein.

Doktor Pichelstein richtet die Bühne her, Pratajev-Forscherin „me…“ Sonnemachtalbern gibt sich die Ehre und überreicht den Erben Pratajevs einen Fund von unschätzbaren Werten: Miloproschenskojer Seife, zurückzuführen auf Pratajevs Gefolge, hergestellt u.a. aus Katzeschinskis Schlachtkatzen. Eine Sensation. Und obwohl besagte Seife ein halbes Jahrhundert in staubigen Ecken verbrachte, verströmt sie bisweilen noch wohlfeines Odeur. Andächtig streichelt man über den Fund, bestellt neue Getränke und trinkt sie andächtig weg. Ja, das passt, denn dem zum Gegenteile füllt sich das Rund der Feuerwache. Ein großes Hallo allerorten; tapfer lächelt auch Doktor Makarios, dann ruft er zum
Aufschwung. Das Intro läuft, die Feldmänner starten, das Konzert nimmt Fahrt auf - ach wie herrlich dieser Tag doch ist. Warum auch immer dreht Doktor Pichelstein die Schnelligkeit der Pratajevweisen mal in die eine, dann in die andere Richtung, spielt die Toten Katzen in den Russen-Reggae, die Harte Wirtin erreicht dagegen schwindelerregende Beats/Minute, um schlussendlich als Schwanenseeballade im Schnapsteich trunkener Gefühle zu ersaufen. Die Stimme des Doktor Makarios, angesteckt ob solcher Abgründe, schwebt erhobenen Basshauptes drüber hinweg.

Bis in die Zugaben geht das so, bis der Abend gelebt, überlebt, geliebt und gelungen ist. Morgen, am Sonntagnachmittag, wird Doktor Pichelstein ein Russian-Doctor-Solokonzert geben. Bang ist ihm nicht, froh ist er, dass es dem Sangesdoktor heute gut geht. Man liegt sich in den Armen und das wird immer so sein.     




The Russian Doctor (257)
24.Juni 2012, Elbhangfest Dresden/Grottenwirtschaft 

Am folgenden Tag auf dem 22. Elbhangfest. Doktor Pichelstein verabschiedet seinen Sangesdoktor gen heimatlicher Genesung; Hendrik an der Grottenwirtschaft freut sich übers ganze Gesicht -  ein ewiger Held des Kümmerns, stets mit allem zur Stelle, was gewünscht wird, sei es ein Barhocker oder ein kühles, sächsisches Bier. Im Soundcheck steckt gerechter Folk. Dann sitzen alle, Doktor Pichelstein beklebt wunde Gitarrenfinger mit Pflasterstreifen, versorgt aufgeschürftes Blasengewese mit Froschbuttertinktur und fragt sich insgeheim: Was war denn gestern schon wieder los? Seltsam, da nimmt man sich vor, wenigstens einmal im Leben eines russischen Doktors die Erlenholzgitarre sanft zu behandeln. Und nach zwei bis drei Stunden des Konzertierens ist alles ad absurdum geführt. Deshalb die Idee mit dem Barhocker. Außerdem plakatiert Dresdens Hochkultur gerade allerorten fürs baldige Reinhard Mey-Konzert. Der Kollege Mey sitzt meist auch immer; nie sah man ihn nach einem Auftritt blutend. Oder sich gar handkosmetisch verarzten lassend. Aber gut - Liedermacher spielen gemeinhin selten Schlagzeug mit oder besser: auf ihren Gitarren.

Die Pratajev-Freunde Großenhain, nachwuchs- wie zahlreich erschienen, bieten heute echte Kinderarbeit am Merchstand feil. In Großenhain ist das noch erlaubt – aber nur, wenn dadurch gewonnene Erlöse ins Karussellfahren reinvestiert werden. Anwesende Vertreter aus Karl-Marx-Stadt mögen dem zustimmen. Ob die Schwarzbrennerei Kaktus, heute vertreten durch den Geschäftsinhaber Gurt Kaktus Senior, bei der Herstellung des neusten Buschschnapses unter dem Etikett „The Flying Helga“ ebenfalls auf zarte Kinderhände (Früchte von hohen Bäumen pflücken, fußstampfen, Schnapsfassreinigen etc.) zurückgreift, bleibt ein Geheimnis. Sicher ist nur, dass ein Buschschnaps keineswegs an herkömmliche Gartengebüsche gemahnt, sondern eher an einen Akt, wie wir ihn täglich an quirligen FKK-Stränden erleben. Warum? Weil wieder mal die Rasierer alle waren oder die zumeist betagten Buschträgerinnen eben überzeugte Buschträgerinnen sind. Da hat ja keiner was dagegen.

Nun, am Ende des Folkbeitrages stöpselt sich Doktor Pichelstein in die Anlage zur Beschallung des Elbhangpublikums ein. Was wird gespielt, gesungen zugleich? Alles, was auf die Kürze der Vorbereitung zu finden war. Pratajevs Werke, im Liederbuch der Russian Doctors beschrieben, fein durcheinander gewürfelt. Mit einigen selten bis gar nie live gespielten Titeln. Oder haben die Russian Doctors jemals den Modern Doctors-Heimlichhit „Auf dem Kannapee ein girl“ zu Gehör gebracht? Wie lange mag es her sein, dass „Ich könnte ja (Doch ich will es nicht)“ aufgeführt wurde? „Der edle Mann“? „Die Geburt“? Von völlig neuen Schätzen aus den vertonten Forschungsarchiven einmal angesehen: „Schau mich nicht so an (Du weißt, ich bin besoffen)“ usw.

Die Sonne scheint mitunter heftig; kaum lässt sich die Gitarre ob des Lichteinfalls stimmlich, stetig in Form halten. Der Wind verweht manchen Text und doch ist der Nachmittag gelungen, sind knapp zwei Stunden solo ins Elbeland geflossen. Jetzt ein sehr kühles Bier. Tja, kommt so schnell nicht wieder, der eine Russian Doc live, dafür aber - und so muss es sein: Der Ruf mit dem unnachahmlichen Titel: „Und hier sind sie, THE RUSSIAN DOCTORS!“     



An der Molli (258)
07.Septemer 2012, Bad Doberan/Moritz-Pub  

Na, das wurde aber auch Zeit. Die längste Konzertpause in der ewigen Historie der Russian Doctors steht vorm Ende. Doc Makarios ist wieder auf den Beinen, Doc Pichelstein dennoch mal wieder grün im Gesicht. Die vorwöchentliche Kombination aus täglichem Broterwerb, gepaart mit nächtlicher Studioarbeit führt insgesamt zu einem Zustand körperlicher Intoleranz und Verweigerung. Ständig will der Gitarrendoktor schlafen und darf es nicht. Nirgends. Wenn doch, dann höchst wenig und wie die Tourerfahrung lehrt, wird sich das in den nächsten beiden Tagen nicht sonderlich anders anfühlen. Sei’s drum. Das Tourauto fährt durch alle Wetter Richtung Ostsee. Eben noch schien die Sonne, ermüdete Navigator Makarios, schon prasselt der Regen. „Mein Doktor, es regnet“, kommt es schlaftrunken vom Beifahrersitz. „Schon eine ganze Weile“, beklagt Pichelstein den Scheibenwischerschnelleinsatz. Kaffee muss her, viel davon, Stunden später wird bereits die Ostsee vor Heiligendamm abgeschritten. Genau hier wurde die Arcane-Story im letzten Jahr gedreht. Worte, welche die Sonne hervorlocken, denn ab sofort ist wieder Sommer.

Während am Tisch 9 der Stadtpension, mittlerweile in Bad Doberan angekommen, Pizzateller geleert werden, zieht es Wirt Gunnar auf einen Kurztrip nach Warnemünde. Freund Leiche, telefonisch erweckbar, vermittelte vorab den letzten Top-Rettungs-Deal des Tages, denn irgendwie fehlte die Anlage zur Beschallung des Publikums. In Tagen der Vielbeschäftigung klappt nicht jede Kommunikation, Gunnar sei Dank, Du bist ein Held. Unplugged spielen ist nämlich ganz schön anstrengend.

Und ja, die Mühe, die Wege lohnen sich. Ein letztes Mal für heute schnaubt die Molli-Bahn aus Kühlungsborn am Moritz-Pub vorbei; nachdem sie vor einer Weile bereits einen 75jährigen Rentner mit Vollbremsung vom Rad holte, wies sie gerechterweise zuletzt ein Touristenauto in die Schranken. Stahlkolosse mit viel Dampf drin haben eben Vorfahrt. Da denkt man, aha, statistisch betrachtet kann nicht mehr viel Elend kommen an einem 07. September. Doch weit gefehlt. Am Stadtrand von Bad Doberan ist nämlich Dorffest. Doch das mag noch nicht alles sein.

Die Bühne wird angerichtet; man schraubt sich durchs gelieferte Equipment, der Rostocker Fanclub hat längst die Vodkavorräte streng ins Visier genommen. Der Pub füllt sich; passend zum Ende des Soundchecks sacken beide Doktoren erschöpft in weiche Schnapsbarpolster. Die Rostocker füllen sich bisweilen auch, einer ganz besonders, mit langsamen Lächeln im Gesicht. Heißt: Die Vorfreude erreicht ihren Siedepunkt. Dann mal los, das Schnapsglas geleert, die Gitarre geschultert.

Und wieder ein Ach, wieder ein „Das wurde aber auch Zeit“; Doktor Pichelsteins Trägheit schwindet mit jedem Lied, Doktor Makarios verleiht sich tiefstimmig die Goldene Peitsche von Bad Doberan. Das Publikum ist verzückt, anders kann man es nicht beschreiben. Der Rostocker Block erweist sich als äußerst textsicher; selbst in der schwedischen Ecke wird mitgesummt. Pratajevs Periodikum in Text und Musik füllt den Raum mit Feuerwasser. Nach dem Powerbreak (wie die Webepausen im Eishockey heißen) geht’s gleich weiter; taufrische Neustücke und Wiederentdeckungen der nächsten Platte gelangen zur Aufführung. Schnapsbar III, dann Zugabe, immer schneller und weiter. Jetzt bleiben wir mal stehen, denn draußen, auf der Verkehrsinsel liegt einer der Rostocker Vodkafreunde. Die SMH blinkt neben ihm; weder der Notarzt noch sein Rettungssanitäter lassen von dem jungen Mann ab. Die Wiederherausgabe, auch gegen Pfand, wird streng abgelehnt. Nun, hoffen wir mal, dass späterhin alles gut ausging. So wie’s Konzert, das erste nach langer Pause. Gunnar schenkt Doctoren-Gläser voll, die Erben Pratajevs verneigen sich vorm Wirt und sagen Dank. Bis Morgen, zum Frühstück.             

Die vergessene Überschrift (259)
08.Septemer 2012, Schwerin/Stadtkrug   

165 ungarische Gastarbeiter ließen sich kürzlich in Bad Doberan nieder. Man sah bereits welche bei Lidl Schnaps kaufen. Über Weiber, um es mit Pratajevs Fasson zu sagen, liegen bisweilen keine Erkenntnisse vor. Die Einkäufe lieferten sie nach schwerer Gerüst- und Erbauerarbeit in Pensionen und Unterkünften aller Art ab. Wirt Gunnar wurde es so nicht leicht gemacht, den Doktoren ein entsprechendes Nachtdach in Organisation zu bringen. Schließlich klappte es doch; eine Stammgast-Anästhesistin (im Volksmund würde man „Gasfrau“ sagen) stellte ausreichend Raumvolumen, unter Höhenbegrenzung, zur Verfügung.

Der Morgen danach: Frühaufsteher Makarios samt Herbergsgasfrau rätseln draußen, an rauchfrischer Luft lange, wann Doktor Pichelstein aus verdienten Tiefschlafphasen gerissen werden möchte. Gar nicht. Aber auf Tour funktionieren Musiker ja auch ein bisschen wie alte Ehepaare, nicht selten schlafen sie sogar in Ehebetten. Kurz gesagt: ein zackiges „Mein Doktor, Frühstück!“ löst die Gemengelage ab 11 Uhr  schmeichelhaft.

Besagtes Mahl wird gegenüber vom Moritz-Pub eingenommen; es besteht in erster Linie aus einem Monsterteller mit Rührei drauf. Zunächst wird geschlungen, dann gepustet, stellt sich der Gedanke ein, dass man heute nie wieder zur Nahrungsaufnahme bereit sein wird, all die leckeren Räucherfische verschont bleiben müssen. Viel später, beim ersten touristischen Zwischenstopp in Kühlungsborn, geht immerhin noch ein Stück Bienenstich hinein. Doch zunächst folgt der Abschied aus Bad Doberan, wird der Gunnar geherzt. „Was für ein Lieber“, schwelgt Makarios zum Pichelstein im Auto bei Tempo 20. An der Küste sind es weder Landmaschinen noch Protestmärsche, die den Verkehrsfluss lähmen. Nein, es sind überwiegend Senioren-Radrennen unterwegs. Sechzigplus auf Rennrädern mit Apotheken-Begleitfahrzeug samt Polizeieskorte. Amüsiert darüber folgen die Docs den Hechlern bis zur nächsten Attraktion. Nahe des Deutsches Hauses einer Durchfahrtsstadt schwenkt ein mongoloider Mann seine Landesfarben und begrüßt die einfahrenden Autos via Hitlergruß. Soll man schockiert sein? Natürlich nicht, der Mann wurde gewiss instrumentalisiert. Werbung fürs Deutsche Haus vielleicht. Man möchte ihm aus Mitleid einen Teller kalte Suppe kredenzen. 

Weiter geht’s. Genauer: zum Aufstieg des Leuchtturms von Bastorf. Herrliche Aussicht bis hin zum Ostsee-Windpark. Wie gut, dass Schwindelfreiheit vorherrscht und schade, dass noch niemand das Buch „Die Einsamkeit des Leuchtturmwärters“ geschrieben hat. Am späten Nachmittag erreicht man, erneut durch alle Wetter, die Landeshauptstadt Schwerin, träumt von einem Platz am See, findet ihn nicht, es gibt einfach keinen Zugang. Den Beschilderungen nach besteht Schwerins Speckgürtel zum großen Teil aus Kliniken aller Art. Irgendeiner wird letztlich im Schritttempo gefolgt, schon gibt’s einen ruhenden Ausblick samt Kaffee. Linke Tischnachbarinnen: Gespräche über Männer, die am frühen Samstagmorgen Dachrinnen reparieren, rechte Tischnachbarn: Thor-Steiner-Fraktion. Heile Welt beim Entenfüttern.

Die neue Schweriner Spielstätte der Russian Doctors ist der Stadtkrug, ein ehemaliges Brauhaus, gleich um die Ecke vom Schnitzelparadies Zeppelin. Imposant! Vermutlich 300 Sitzplätze im Ganzen. Beim ersten Durchschreiten wird der Lange glatt übersehen, der doktoreske Technikmann von Himmels Gnaden. Hat die Bühne bereits aufgebaut, hervorragend. Direkt in Thekennähe. Nichts kann besser sein, als das. Schon folgt ein leckerer Schnitzelteller dem anderen, fließen Kaltgetränke aus den Zapfhähnen, obsiegt die Lust am Ruhen. Doch das geht ja nicht. Viel zu hastig schleppt Doktor Pichelstein das Equipment in Position. Wie ein
Seniorenradhechler sinkt er schlussendlich auf dem nächstbesten Barhocker nieder, bekommt von der Wirtin einen Kräuterschnaps zur Stärkung gereicht. Doping ist erlaubt, erst recht im Musikbereich. Ein kurzer Soundcheck lüftet die Gemüter, wollen mal schauen, ob’s denn auch voll wird heute.

Wird es. Die neue Heimstatt der Doctors ist geboren. Das Konzert kennt keine Ufer, die Pause ist ein Segen, vorm Stadtkrug fragt Doktor Pichelstein in die weite Runde, wie man die Überschrift des Tourtagebuches heute benennen soll. Mannigfaltige, renommierte, sehr passende Antworten sind die Folge. Keine konnte überliefert werden. Stattdessen werden kleinere Rekorde im Hochgeschwindigkeitsspielen auf der Gitarre gebrochen. Bis die Leibchen beider Doktoren klatschnass, im letzten Zugabewunschblock, um sofortigen Auszug bitten. Und ja, „Wiege Deinen Rumpf“ kommt auf die nächste Platte. Schon jetzt sollten sich einzelne, künftige Besuchergruppen um eine entsprechende Choreographie bemühen. Das wäre natürlich herzallerliebst.  

Der bebrochene Doktor (260)
11. Oktober 2012, Chemnitz/Flowerpower

Du liebe Güte. Leipzigs größte kommunale Unternehmen, Stadtwerke wie Verkehrsbetriebe, plakatieren: „Sorry, Dresden. Schade, Chemnitz“. Denn nur der hehre Leipziger vermag es, in Besitz einer so genannten „Immer.Besser.Leipziger-Vorteilskarte“ zu gelangen. Er hat dafür ein Abo abzuschließen. Dafür bekommt er Service und Rabatte. Im Kletterwald, Vergnügungspark, bei Karstadt. Also überall dort, wohin man so geht, wenn man es ausdrücklich muss, die Auswüchse urbaner Misanthropie noch in den Kinderschuhen stecken. Eigentlich könnte es, um nur die LVB beim Namen zu nennen, heißen: „Sorry - der Fahrkartenautomat nimmt nur passend“. Oder: „Schade - der Fahrkartenautomat ist hübsch anzusehen, funktionieren wird er nicht“. Warum die Straßenbahnen hierzulande nur „gelbe Schneckenschubsen“ genannt werden, lässt sich zudem erahnen und Doktor Makarios belehrt seinen Gitarrendoktor mit folgender GDR-Weisheit: „LVB und Post saufen wo’s nichts kost“.

Im Chemnitzer Flowerpower gibt’s erst mal ein Conrad-Hoffmann-Gedächtnis-Schnitzel. Es überragt den Tellerrand, überdeckt Gemüse wie Kartoffeln. Noch sind die Kellnerinnen wieselflink. Noch, denn im Verlauf des 260. Konzertes der Russian Doctors wird ihnen bereits in wenigen Stündchen die Puste ausgehen, böse Zungen werden gar am Folgetag behaupten, es habe ihnen jemand Valium (statt Antriebspulverisierung) ins Glas getan. Dann steht er plötzlich da. Wie aus dem Nichts. Pratajev-Film-Darsteller Andreas Krause. Aus dem Schweizer Exil angereist; mit ihm füllt sich wenig später das Rund aus lieben Menschen aller Himmelsrichtungen. Erstmals, und das ist wahrlich eine Premiere, gibt’s Subway-Uwe an diesem Ort zu erleben. Allerdings ohne Knoblauchschnapsbewaffnung. Wer weiß, was unter solch ergänzend konsumierten Einflüssen weiterhin geschehen wäre. Denn was die Überschrift dieses Tourbuches hergibt, wird sich kurz nach Konzertende tatsächlich abspielen: Ein Doktor wird bebrochen werden. Draußen vor der Tür. Harmlos wollte er, Doktor Pichelstein, Nachtluft in sich aufsaugen, wenig später wird ihn ein am Boden liegender Gast bebrechen. Gut nur, dass der Schnaps den armen Brecher tieferlegte. So wurden lediglich untere Hosenbeinpartien in Mitleidenschaft gezogen. Blöd letztlich aber auch, dass keine Frauen am Fluss sich der Misere, aus bekannten, pratajevschen Gründen, annehmen konnten.

Zuweilen am Merchstand: Russian Doctors meets Geocaching. Eine allerliebste Vertreterin der "Feldrandsteher" samt "Team Kimo" verblüfft Makarios und Pichelstein mit einem ausgefallenen Vortrag. Es gibt eben nichts, was es nicht gibt. Schön ist’s zudem, sich (vor allem im Privaten) derweil einen passenden, pratajevschen Namen zu verleihen. Dann darf sie starten, die Kulturdarbietung. In Chemnitz. „Sorry, schade Leipzig“ ruft der innere Kreml-Parteitag reich an Flüssignahrung und Adrenalin. Noch wenige Male wird das seit 2010 ins Publikum gespeiste Intro aus den Boxen tönen; zur Tour 2013 gibt’s nämlich viel, sehr viel neues. Und so stampfen die Feldmänner durch die Weiten Russlands, während den Mädels an der Bar spätestens jetzt, beim Lied „Jeder Schluck“ schwindelig wird. Bereits beim Pausentrunk die Türsteher einigen Nachrückern erklären: „Alles voll. Vorsicht draußen. Da liegen überall aufgeklappte Gehwege herum“. Wenige Augenblicke später gar Doktor Pichelstein den Erlenholzturbo einlegt, Doktor Makarios erstmals dazu livehaftig singt: „Der Saft troff aus meinem Munde / Denn es gab frohe Kunde / Der Nachbar schlachtete ein Schwein / Und lud das ganze Dorf jetzt ein / Ich sagte ihm: Das machst du gut / Im Kessel dampfte schon das Blut / Im Ofen buk der Schweinekopf / Der Saft mir aus dem Munde troff….“

Einige Gitarren-Fingerpflaster darauf folgt der Wunschteil und natürlich gibt’s den „Tierarzt“ - ist ja auch mindestens einer anwesend (wäre schlimm, wenn nicht). Vor der Bühne spielen sich schöne Szenen ab; ein Professor beugt sich ans Ohr vom Doktor Makarios, fragt: „Darf man zu Eurer Musik auch tanzen?“ Man muss sogar; die anderen tun’s ihm gleich. Junge Burschen, sehr junge Schwesternschülerinnen. Bilder verschwimmen mit den Gelbschnäpsen, die glücklicherweise ausreichend gen Bühne gereicht werden. Fettfrösche, Schnäpse, Weiber und so weiter bilden den Abschluss. Dann findet man sich wieder. Hier und da und die Miloproschenskojer Wirtsleute danken der Gemeinde Oelsnitz für das Herbeiführen einer dosierten Großspende aufs Äußerste! Auf zur Schnapsbar, kurz an die frische Luft. Mal schauen, ob das Folgen haben könnte.
      
Herzscheiße auf 92,8 (261)
12. Oktober 2012, Dresden/Chemiefabrik 

Durch die Musikerwohnung, schräg gegenüber vom gestrigen Blumeninferno, ziehen dichte Bratschwaden. Es ist kurz vor 10 Uhr morgens, als Doktor Makarios den Quell des Übels in Küchennähe ausmacht. Ein ehemals vegan lebendes, bunt verziertes Mädchen brät Pressfleisch in einer Pfanne und geht gerade dazu über, einen Klumpen Gouda darauf zu verteilen. Auf der Nachbarkochplatte blubbert ein Schlag Erbsen aus dem Glas. Ihr männlicher Begleiter klappert derweil mit letzten Kräften (die Nacht war lang) Teller und Besteck herbei. „Frühstück“ wird gerufen. „Um Himmels Willen“, rufen beide Doktoren nacheinander zurück. „Ein Kaffee wäre schön“, wagt Makarios den Quantensprung an Lebensfreunde. Wasser in Caropulver wäre möglich. Da wendet man sich lieber anderen Dingen zu. Doktor Pichelsteins angeschmutztes Beinkleid etwa bedarf dringend einer Reinigung, gesagt getan. Merke: Kleines Gepäck zur Tour entbehrt stets eine zuweilen notwendige Ersatzhose. Dann geht’s wieder rüber ins Flowerpower. Die Welt ist gerecht, hält heißen Kaffee vor - am Tresen sitzend ist sie jederzeit wunderbar. Guten Morgen, Stadt der Moderne, Druschba Chefwirt Danny! Die Sonne scheint. Alle sind tiefenentspannt; sogar die fleißig kehrende Reinigungskraft ist zum Philosophieren aufgelegt. 

Draußen, unterm vorderen Autoscheibenwischer, klebt bereits ein Gruß des Chemnitzer Ordnungsamtes. Im Auftrag des, wie es heißt „gemeindlichen Vollzugs“ grüßt eine fesche Damenhandschrift, Vorname M-Punkt. Mehr ist nicht zu entziffern. „Pfff“, macht man da nur, stellt den Heimatlieder-Radiosender an und ab dafür. Zeit genug bis Dresden, also rasch runter von der Bahn, an der Elbe entlang, Richtung Meißen. Dampfer gucken, lecker Essen. Das ist das Ziel.           

Funny van Dannen hatte Recht mit seinem Hit „Herzscheiße“. Was weibliche wie männliche Interpreten auf der MDR-Tourfrequenz 92,8 zum Thema Cor versus Kardia anführen, ist genauso gemeint, wie der verehrte Herr van Dannen es in seinem Lied beschrieb. Sätze wie „Liebe geht im Herzen los“, „Mein Herz schreit nach Liebe“ oder „Lass mein Herz endlich in Ruh“ sind keine Seltenheit. Als perplexer Zuhörer, diesem Herz-an-Herz-Irrsinn amüsiert lauschend, wähnt man sich beinahe auf dem zuletzt schwer in der Kritik stehenden Gebiet der Organspende. Wenn es heißt: „Mein Herz gehört nur Dir“, „Dein ist mein ganzes Herz“ oder „Lass Dein Herz bei mir“. Im Wunschtitel eines Hörers wird dann sogar noch auf den wehrlosen Hohlmuskel eingedroschen. Im nächsten (Textauszug: "Mein Herz ist verwundet") werden einem Nebenbuhler gleich Schläge androht („Was macht der Typ bei dir / Ich hau ihm gleich eine rein“ – jedenfalls so ähnlich; man kann sich das alles gar nicht merken).

Eindrucksvoll erschlagen, beinahe froh über manches Funkloch, wird ein Elbufer samt Restaurant „Zuessenhaus“ erreicht, die Mittagskarte studiert, in sonniger Sehnsucht bestellt. „Unsere Speisen werden alle frisch zubereitet; es dauert deshalb länger, bis sie nach ihrer Bestellung serviert werden“, ist kartenabwärts zu lesen. Nach knapp einer Stunde friedlichen Dösens darf dann göttergleich getafelt werden. Welche Freude!

Als die Doktoren lange Zeit später aufs Areal der Dresdener Chemiefabrik einbiegen, gezeichnet vom Stadtverkehr, bedingt durch weniger gloriose, verkehrstechnische Ampelschalt-Unfähigkeit der Stadtplaner, ist die Erleichterung allenthalben groß. Chefwirt Mario wird geherzt, das erste Felsenkeller schmeckt, die heutige Vorband heißt Herbst in Peking; Luft wird ergo geschwängert werden von berauschenden Substanzen. Es folgt ein Soundcheck der Doctors, einer mit h.i.p und ja, da sind sie wieder da. Wie man sie einst kannte. Dunkel, grenzpunktig, berlinböse, beatdurchtrieben, herbstlich eben. Schön, sich das später als ganzes Konzert anhören zu dürfen. Enjoy your personal demon! Noch ein Felsenkeller drauf. Seligkeit ist ein hohes Gut.

Auch heute wird’s rasch voll; die Pratajev-Forscher Winogradow und Eademakow seien hier stellvertretend, gemeinsam mit den Damen vom Orden des Gelben Fettfrosches, für alle Dichterfreunde genannt. Erste bis mittlere Eindrücke obsiegen, dass es eine lange Nacht werden wird, ja muss, denn Herbst in Peking lassen sich gerechte Zeit im Spielprogramm. Doch plötzlich schwingen sich die Doctors auf die Bühne; alles muss jetzt ganz schnell gehen. Jedes Kabel, jeder Stecker sitzt. Das Intro ertönt, die Beine sind zwar schwer von Schnapsbar-Kaltgetränken, doch der Chemnitz-Funke von gestern ist gleich da und zündet. Erste Punks liegen Doktor Pichelstein zu Füßen; es wird geprostet, von der Bühne gesprungen, gegrölt und mitgesungen. Eine Pause gibt es nicht, dafür erstmals „Frauen die wie Katzen kreischen“ live und in Farbe und so weiter und so fort.

Die Erlenholzgitarre erreicht zeitweise Schallgeschwindigkeit. Makarios hat es längst aufgegeben seinen Doktor zur rechten Seite in liedgerechte Tempo-30-Zonen zu führen. Knapp drei Stunden geht das so. Bis zur letzten Schnapsbar an einem Abend, der mehr als gelungen ist. In tiefer Nacht pustet man letzten Rauch aus den Lungen. Nichts wie ins Bett, das steht nicht weit von hier. Und der sanfte Regen spielt ein glockenhelles Kopfsteinpflaster-Mitsummlied dazu: Geh weg mit deiner Herzscheiße…           

Heute keine toten Katzen (262)
27. Oktober 2012, Neuendorf/Jugendgästehaus

Wintereinbruch! Kurz vor Abreise muss das Tourauto in die Werkstatt. Energisches Piepen der Kühlwasseranzeige treibt Doktor Pichelstein in den Wahnsinn. Draußen ist es glatt und fies und feucht. Schneenass wird die Backline der Russian Doctors schließlich verladen, los geht’s nach Brandenburg. Kaum zu glauben, dass dort die Sonne scheinen soll. Aber wie könnte es auch anders sein – Baumfreund Ekmels 40. Geburtstag wartet in Neuendorf bei Teschendorf, aus Richtung Oranienburg kommend. Ein erquickender Anlass.

Doktor Makarios steckt bereits ein Die Art-Konzert in den Knochen; an den Autobahnrändern tummeln sich liegengebliebene Fahrzeuge. Es läuft die Bundesligakonferenz; jedes Mal, wenn sich Sabine Töpperwien aus Gelsenkirchen meldet, zucken die Glieder unweigerlich zusammen. Die Nachrichten berichten von einem Supersturm namens Sandy. „Der nächste wird dann wohl Peggy heißen“, sagt ein Doktor zum anderen. „Der Rotarmist“ lässt grüßen.

Ankunft im brandenburgischen Neuendorf. Die Zeit ist stehen geblieben. Mindestens 20 Jahre. „Hier fahrt ihr bis an den Waldrand und dort nach links den Weg entlang. Nach ca. 250 m seht ihr schon die Auffahrt zum Ferienlagergelände“, verkündet die bezaubernde Navigateuse, nach Studium der Einladungskarte, vom Rücksitz her. Wenig später gleitet das Tourauto vom Weg ab und kommt neben einem Jägerhochsitz zum Stehen. Im Wald. Fehlt nur noch eine depressive Straßenbahn; die Pratajev-Szene wäre komplett. Doch auch so ist’s nebelig, gespenstisch, der Wagen setzt auf. Doktor Pichelstein umkurvt im 10er-Tempo Wolfsfallen-Schlaglöcher. Bloß zurück zur Teerpiste. Erlösung naht. Das Jugendgästehaus wird erreicht. Schnell hinein, zum Baumfreund Ekmel, zur bereits sitzenden Gesellschaft, an die Schnapsbar. Schön hier! Beim Anblick vorhandener Damenwelten weht einem glatt ein Hauch Helga Bauer entgegen. Brandenburger Bierliter werden gereicht. Schnell muss nachgezapft werden, denn ein BBL entspricht in Wahrheit einer Glasfüllmenge von 400 ml.

Baumfreund Ekmel eröffnet, der Applaus brandet. Nicht nur Kalfs Knoblauch-Lamm ist ein Genuss; die Trauben am Buffet reißen nicht ab. Auf der Bühne singt bereits glockenhell eine zauberhafte Stimme Juwelen vergangener Tonkünste. Die Einstimmung gelingt, draußen lodern die Feuerkelche. Wenn nur sanfte Trauer nicht wäre. Denn vor weniger Zeit schied eine Katze dahin. Die Doctoren werden deshalb gebeten, entsprechendes Liedgut ausnahmsweise heute nicht zu Gehör zu bringen. Was tut man nicht alles. Und trinkt erst mal einen gelben Schnaps in trauter Runde. 

Dann soll’s losgehen; Makarios und Pichelstein mühen sich mit dem Soundcheck und weil der unnatürlich lange dauert, steht man plötzlich mitten im Konzert. Ohne Getränke, was nicht lang so bleibt. Schon rollt die Erstversorgung, dann erreicht der Nachschub die Erben Pratajevs. So muss es sein. Doch plötzlich. Ein Katzenlied! Keine Sorge, die Botschaft in „Frauen die wie Katzen kreischen“ ist als weitesgehend harmlos zu betrachten. Es geht um Männer, die lieber ins Wirtshaus wandern, statt sich mit kreischenden, betrunkenen Frauen in Gespräche verwickeln zu lassen. Nach der ersten Schnapsbar winkt der Pausentee, locken lodernd die Feuer. Der Schnaps wärmt und mit ihm wird geschwatzt, was das Zeug hält. Dann zurück auf die Bühne für den zweiten Konzertblock. Zustimmungen erreichen Höhepunkte; die Pratajev-Riots in den ersten Reihen singen jede Zeile mit. Traumata werden in den Zugaben verarbeitet („Der dumme Nachbarsjunge“), Das „Lob des Schweines“ beflügelt zum baldigen Grillen eines solchen. Schlussendlich ruft leckerer Kuchen: „Nimm mich“, Luc Stargazer spielen im Anschluss heftig, melodiereich und gerecht.

Würde jeder Mensch auf Erden einen so feinen 40. Geburtstag veranstalten, es gäbe keine Not, keinen Hunger, die Völker lägen sich lachend, auch lallend in den Armen. Es herrschte allerorten Weltfrieden. Nicht nur in Neuendorf bei Teschendorf. Vielen Dank lieber Baumfreund Ekmel für diesen Abend, für den Morgen danach und sowieso dafür, dass es Dich gibt.           

Eine weltmeisterliche Löffel-Choreographie oder:
Am Ende humpelt immer einer (263)
30. November 2012, Leipzig/Frau Krause 

Doktor Pichelstein überlegt lang: Mit dem Auto zur Frau Krause fahren? Die Straßenbahn nehmen? Doch das Lastentaxi? Letzeres wird gerufen. Weil man nie weiß, wie Frau Krauses Nächte bei Heimspielen enden. Die Jahre 2010 & 2011 noch im Hinterköpfchen. Ein entsprechendes Mantra hatte sich bereits am Abend zuvor durchgesetzt: Egal was passiert, springe bloß nicht von der Bühne und lande wieder in der Notfallklinik. Nur das nicht.

Beim Eintreffen in Leipzigs böhmisch-russischer Kulturkneipe wartet bereits Doktor Makarios, wohl gelitten am Stühlesammeltisch. Denn schlau ist heute, wer frühzeitig da ist; eine berüchtigte Ruhe vor dem Sturm knistert in allen Ecken und Winkeln. Auf geht’s zum Soundcheck, während Frau Krause voller und prächtiger gedeiht. Den Pokal der am weitesten gereisten Gäste spielen München, Nürnberg, Wismar und  Weimar unter sich aus. Berlin und Potsdam haben keine Chance. Ja wunderbar, Schwarzbrenner Gurt Kaktus betritt mit großen Tüten den Salon. Darinnen: Neuste Pratajev-Schnäpse, frisch aus dem Ballon. Gerne würden wir hier Sorten nennen, doch keine Flasche blieb am Ende voll zurück. Am Merchstand, von Frau Manjoschka Gnatz liebevoll verteilt, ist kein Stehen mehr ohne weiteres möglich. Einerseits schiebt sich die Menge nach vorne, andererseits erledigt leckerer Hustensaft den Rest. Vorm Schnitzelteller der Doktoren hockt derweil ein Schnaps  in Gelb, das Staro schmeckt weitere Schmatzer Prag herbei. Ein endlos feines Hallo und Geherze würzt die Szenerie. Draußen werden Gesundheitstüten geraucht, um derer zu gedenken, die plötzliche Schnupfenopfer wurden. Grüße nach Nürnberg an dieser Stelle, beste Genesung dem Harry.

Beide Doktoren finden sich im Gedränge wieder, huschen auf die Bühne. 21 Uhr 45 MEWZ. Los geht’s mit den Feldmännern, den Gallen, dem idyllischen Landleben, gespickt mit Weltpremieren, denn ab 2013 gibt’s ein neues Programm. Die Platte ist jetzt schon fast fertig. Dann: man traut seinen feuchten Augen kaum. Eine enthusiastische Löffel-Choreographie im Publikum. Pratajevs Herz wäre vor Glück in Stücke gerissen worden. Schwenkende Löffel in allen Winkel; das Jahresfest des großen Dichters erhält einen unerwarteten Höhepunkt. Fehlt eigentlich nur noch, dass Ehrenmitglied „Tierarzt“ eine Kuh zum Beweis mitbringt. Denn wem geht’s gut? Der Kuh! Und (wie immer) dem Gerrit. Rasend drischt Doktor Pichelstein auf die Gitarrensaiten ein, Funken fliegen. Kurz vorher trat noch ein Publikums-Herausforderer in Sachen „Schnellster Gitarrist von Leipzig-Connewitz“ hervor. Weg ist er. Mit der ersten Schnapsbar geht’s in die wohlverdiente Trinkschlemmerpause. Man will schließlich nicht austrocknen und da isotonische Sportmixgetränke in der Frau Krause grundsätzlich Hausverbot haben, soll’s das ein oder andere Staro sein.

Im zweiten Block geht’s über die Tiere zum Erich. Denn Erich hat Geburtstag, den 60. Er wünscht sich „Wide Wide World“ von einer sehr befreundeten Leipziger Band. Kein Problem. Der Saal singt lautstark mit. Wie später bei den Katzen und so weiter. Schon droht Verlängerung. Die Zugaben setzten dem Abend, der Nacht die Krone auf. Ein Ohrwurm bleibt mindestens. Vielleicht dieser hier: „So ist’s nun mal auf dieser Welt. Man hat sein Leid zu tragen. Mich wundert gar nichts mehr, mein Freund. Der Schnaps erwärmt den Magen“. „Mein Doktor, können wir das im nächsten Jahr noch toppen?“ fragt später ein humpelnder Doktor den anderen, der heute nicht humpelt.  „Nee, na ja, obwohl, eigentlich nicht“. Wollen mal sehen. Um vier Uhr in der Früh sogar doppelt. 

Russenpeitsche (264)
01. Dezember 2012, Frankenberg/Tischlerei  

Mittags um eins piepst der Weckruf 110; Doktor Pichelstein ist sehr schwach. Wenig später wird tapsig die Wohnung durchwandert. Das Telefon klingelt, doch es bleibt zunächst verschwunden. Doktor Makarios wartet geduldig, bis am anderen Ende ein leises, kratzendes „Hmmmm“ ertönt. „Mein Doktor, halb fünf reicht. Bis dann.“ Gemeint ist der genaue Abreisezeitpunkt nach Frankenberg. Gesagt, getan, weiter gedämmert. Doch irgendwann am Tag ist’s immer halb fünf. Ein Satz, den Pratajevs Gitarrist und Freund Anatoli Prumski sehr oft zu sagen pflegte. Jene sicherlich durchaus interessant anmutenden Anlässe wurden leider nicht überliefert.

Abermals wird telefoniert zwischen den Leipziger Stadtteilen Schleußig und Reudnitz. „Mein Doktor, es dauert noch. Die Scheiben sind eingefroren. Von innen und von außen“. Eins kommt zum anderen. Kurz vor Chemnitz bricht tiefster Winter ein. Die Bild-Überschrift wusste es bereits an der Tanke nahe Borna: „Russenpeitsche“. Dabei kommt das damit in Verbindung zu bringende Tiefdruckgebiet doch von wo ganz anders her. Warum nicht gleich „Pratajevpeitsche“? Genau. Weil einem dann nämlich heiß ums Herz wird. War es nicht unser großer, russischer Dichter, der den Fetisch nach Miloproschenskojer Prägung erfand? Mehr dazu leider erst im Februar 2013. Dann erscheint das nächste „Haus aus Stein“. Im 7. Almanach der Pratajev-Gesellschaft werden solche Dinge ausführlich beleuchtet.

Kai Eiswürfel und Dirk laden heute zur сорок-лет-партй; Doktoren und lieben Gästen steht eine Tischlerei-Party bevor. Freudig wiegen sich die Rümpfe bei Ankunft. Nach dem ersten Radeberger, dem ersten Mischgetränk namens Gisela frohlockt man in trauter Runde. Herrlich! Nur die Anlage zur Beschallung des Publikums zickt herum. Gitarre-Klinke: nicht kompatibel mit der Endstufengerätschaft. Grund: Informationspanne der Verleiher (keine DI-Box dabei), technisches Unvermögen derselben, all das. Doch die Rettung naht in wohliger Kompetenz. Nur ein einziges Mal in der nunmehr 9-jährigen Geschichte der Russian Doctors fand sich keine beschallungsträchtige Lösung. Aber das war vor langer Zeit, in Herne, im tiefen Ruhrgebiet. Laut Vertrag sicherte der Veranstalter eine „Hausanlage“ zu. Sie bestand letztlich aus einem Kassettenrekorder mit zwei kleinen Hifi-Boxen. Da staunt man nicht schlecht.

Auf dem Grill draußen zischen mitunter leckere Steaks, drinnen ist es längerfristig dasselbe Bild: Frierende, gut aussehende Menschen tropfen herein, werden geherzt, geschüttelt, schon greifen sie zum Glas, zur Flasche, zur Frau, zum Mann, warm ist’s im Rund, Heilung naht. Bald schon live – die Doktoren spielen den ersten Block. Das gestrige Spektakel mitsamt träger Spätlese verfliegt mindestens bei „Junge Burschen tanzen“.

Viel später ist die Pause gerecht. Über den „Schlips aus Lurch“ geht’s zu den Toten Katzen. Doktor Pichelstein überholt seinen Sangesdoc gleich mehrfach. Aber weil sämtliche Töne darin in Schallgeschwindigkeit abgesondert werden, fällt’s keinem auf. Der Siedepunkt naht bereits nach wenigen Minuten und kann bis zum Schluss gehalten werden. Großes Fest, leckerste Versorgungen! Dankedanke! Reichlich erschöpft sinken beide Doktoren nach der letzten Zugabe dann doch auf die Bankkissen und man sitzt so da und freut sich.  Nicht nur, aber ganz besonders über eine Kuchengabe namens "Schleim am Arm". Vyolent Attax, große Zuckerbäckerin, vielen Dank!          


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