Sunday, January 10, 2016

Behandlungszeitraum 2010
















20. Februar 2010, Bergsdorf / Museumshof Mühlenhaupt
Anarchie mit dem Holzlöffel (193)

Endlich taut er, der Schnee. Nur in Nordbrandenburg hält sich das weiße, dreckige Eiswasser wacker. Doktoren sehen darüber hinweg und fahren ohne Pause durch die Lande, die immer mehr werden. Brandenburg ist dünn besiedelt, doch dort, wo sich die Menschen abseits der Großstädte niederließen, sollte schon einmal gehalten werden. Zum Beispiel in Bergsdorf. Baumfreund Ekmel, Pratajev-Mitglied Nummer 47, wollte es so und trug im Vorfeld, mittels Loblied auf die Russian Doctors, sehr viel dazu bei, dass im örtlichen Museumshof Mühlenhaupt das erste Konzert der Feldrand-Tour 2010 stattfinden kann. Ein holder Ort, den selbst Doktoren-Freund Sebastian Krumbiegel gern musikalisch bereist. Nach Abschluss der Bundesliga-Konferenz auf der Quasselmania MDR Info hält der Tourbus am hölzernen Hofgatter und gleich dahinter, im Vierseithof mit diversen Ställen und Scheunen, ist es selbst im Matschwinter erquickend schön, wird in der Feldsteinscheune Kuchen aufgetafelt, das Kurt Mühlenhaupt-Künstlererbe in Lein, Farbe, Skulptur, Buch usw. bis zum dritten Kaffee in aufmerksamen Ehren gehalten. Der Maler der Liebe, das Kurtchen, König der Dudu-Zwerge, war selbst ein Kunstwerk und wurde 2006 in Kreuzberg beigesetzt. 

Gegen halb acht werden die ersten Gäste erwartet, bald schon steht die Bühne, buttert sich der Soundcheck Honigbrote zurecht. Sogar ein CD-Player fürs Konzertintro lässt sich auftreiben. Und sowieso: Kaum taucht ein Wunsch auf, wird er gleichsam heftig erfüllt. Obwohl da immer noch diese Skepsis im Hinterkopf der Verantwortlichen summt: Hm, Russian Doctors, die werden sich bestimmt im Laufe des Abends heftig daneben benehmen, trinken einerseits Vodka und anderseits gibt es viel davon im Museumshof.

Rüsselhundbändiger Baumfreund Ekmel gibt der Gransee-Zeitung ein erquickendes Erstinterview, dann stehen beide Doktoren Rede, Fotos und Antwort. Gar nicht so leicht, das Pratajev-Universum mit dem Gewerke der ARTigen eben nicht zu vermischen. Tags drauf fallen dann den Brandenburgern um die Gemarkung Zehdenick die Eierlöffel aus der Frühstückshand: „Anarchie mit dem Holzlöffel“ lautet die halbseitige Überschrift. Und jeder Feuerwehrmann, der den Pratajev-Abend nicht miterleben konnte, wird sich mächtig geärgert haben. Denn – was im weiteren Verlauf des Abends geschieht, ist wahrlich schwer zu übertreffen und wird beim friedvollen Eselstreicheln am nächsten Tag noch fütterndes Thema bleiben. Leider hat Pratajev scheinbar keine Eseltexte der Nachwelt hinterlassen, vielleicht lässt sich da noch etwas finden?  
Hannelore, gute Geistin der Kulturstätte und eben erst aus Portugal eingeflogen worden, ist die Witwe des Malers. Umsorgt von charmanter Assistenz werden die Doktoren zur Bühne geleitet, warme Worte erschallen und die Feldsteinscheune ist gefüllt bis auf den letzten Platz. „Männer die am Feldrand stehen“ ertönt zum ersten Mal in diesem Jahr live auf alle hernieder und ehe sich die Doktoren versehen, beglücken zwei Brandenburger Rüsselhundbändiger die Bühne mit einem Fass aus Glas voller Holunderschnaps, selbst gebrannt. Meine Güte, wie lecker ist das denn? Doktor Pichelstein greift bei nächster Befüllung gleich zum randvollen Saftglas, nimmt mehr und mehr Tempo auf, denn es ist ja Olympiade und was die Rodler von Vancouver konnten, darf ein schneller Erlenholzgitarrist ebenso: sehr schnell sein. Doktor Makarios hält furios mit, liest aus dem „Raucher von Bolwerkow“, weiter geht’s im neuen Set und das Publikum gibt gleich zu Anfang Gas. Ja, so kann der Abend nur gelingen und wird nachträglich gar überschäumen. Im zweiten Konzertblock nach der Pause, der „Löffel aus Holz“ ist frisch und tosend verklungen, taucht er in Reinkultur auf. Aber das kann man wirklich nur mit einem Bild davon beschreiben: 

Nach der 4. oder 10. Zugabe-Gemengelage (liebe Samtmarie, auch du wurdest besungen) muss Schluss sein, der Holunderschnaps tat sein übriges. An der Schnapsbar, am Merchstand und überall liegen sich die Menschen in den Armen und haben das ein oder andere Lied der Russian Doctors auf den Lippen.       

21. Februar 2010, Berlin / Duncker
Küssen macht schwanger, zumindest in Berlin (194)

Morgens hat Doktor Pichelstein ein wenig Mühe von der Schlafresidenz bis zur Scheune zu gelangen. Die von Doktor Makarios zuvor eifrig brotgefütterten Eseldamen Coco und Chanel stellen sich an der Tür quer. Halb drinnen staubt der Haushund eifersüchtige Runden und so flüchtet der Gitarrendoc schnell Richtung Frühstück, ein einziges Wiehern und Bellen im Genick.

Gemütlichkeit lässt Zeit vergessen, der Museumshof ist längst fürs Volk geöffnet, Doktoren müssen durch tauende Schneelande weiter; ein Gasthof ist das Ziel. Einer, in dem viel meckerndes Vieh zur Strafe ausgestopft an die Wand genagelt wurde. Brav futtert Doktor Pichelstein sogar die Salatbeilage der wilden Mahlzeit in sich hinein, Doktor Makarios indes kapituliert vor den grünen Gaben und wird von der drallen Chefkellnerin zurecht ermahnt, doch bitte hier und jetzt etwas für die Gesundheit zu tun. Man habe sich schon etwas dabei gedacht, dem Schussgut der Jäger ein wenig Salat beizumengen. Doch nein, der gute Geschmack einer  Birne an Preiselbeeren möge zum Schluss obsiegen. Schwerfällig wechselt Doktor Pichelstein im Bus Gitarrensaiten, draußen taut es weiterhin im kraftlosen Sonnenschein und die Autobahnen nach Berlin scheinen flüssig vor Dreck.

Vorm Duncker-Club werden gefüllte Kinderwagen gezählt. Waren es bei letzten Wartereien davor beinahe nur Hunde, Scheißmaschinen streunender Sorte, die Berlins Ohntier-Gehwegbevölkerung in Angst und Stapfschrecken versetzten, so greifen diesmal eindeutig und mehrheitlich die Kinderwagen junger Väter und Mütter ins abendliche Panorama ein. Besagte Hunde hatten einige Wochen zuvor die Duncker-Gegend ordentlich gedüngt, Schnee und Eis konservierte die Kacke; im Tauwetter glänzt sie wieder wie frisch gelegt. Und die Kinderwagen schieben kreuz und quer daran vorbei. Es müssen Hunderte sein. Doktor Makarios mutmaßt sehr logisch, dass junge Berlinerinnen mittlerweile selbst beim Küssen schwanger werden. Doktor Pichelstein spricht von stattlichen Fickprämien, sprich Elterngeld, die für den Gebärschub verantwortlich sein könnten. Ach und wie sie alle telefonieren, weil sie von Freundinnen kommen, die auch alle beim Küssen schwanger wurden. Wie sie ins Handy rufen: „Es war so schön bei euch!“ Man muss kein Pratajev-Kundiger sein, um zu ahnen, wohin das alles noch führt. „Der Raucher von Bolwerkow“ hat es allen vorgemacht.

Mittlerweile ist die Crew der veranstaltenden Schönegeisterschau eingetroffen, Hendrik samt Vater und das Wiedersehen versprüht Funken. Rasch steht die Bühne, lehnt der Löffel aus Holz im Sängereckchen, füllt sich der Club, mutieren Getränkemarken zu Flüssiggeistern. Ein Sonntagabend, den man gerne öfters markern würde. Alexander Engel wird lesen, Makarios natürlich, Hendrik durchs Programm geleiten und dazwischen doctort es später gewaltig. Vor allem im großen Konzertblock. Pratajev-Mitglied Nummer 36, Kontaktmann zu ehemaligen SU-Geheimdienstkreisen in Persona Eademakow, trägt den Doktoren Neustes aus der aktuellen Pratajev-Forschung zur Hemdtasche. So führt die Deutsche Bücherei das zuletzt gedruckte Lesebuch des großen Dichters unter der DBN-Nummer 99.621243.4. Und wer immer noch an der Existenz S.W. Pratajevs zweifelt, möge sich dort einen Katalogauszug besorgen, in dem es mittenmang heißt, dass Pratajev ein Schriftsteller aus Russland war.

„Ihr habt ihn ja endlich vertont, den dummen Nachbarsjungen. Das war immer schon mein Lieblingsgedicht“, ja, solche Worte flammen durch den Duncker und dann rückt die Zeit des Nachfolge-DJs näher heran. Ein paar Zugaben runden das Fest der schönen Geister ab. Doktor Pichelstein schnauft im Schwarzhemd, befüllt zunächst den Tourbus, dann sich selbst, und alle anderen können’s auch alleine. Vater Hendrik sei Dank muss niemand zum Schluss ein Taxi nehmen, auf geht’s Richtung Friedrichshain zur Aftershow mit Burgern, Bier und viel schöner Zeit.        

25. Februar 2010, Fürstenwalde / Club im Park
Mein Doktor, wer ist denn Dirk Michaelis? (195)

Väterchen Frost hat sich auf gelben Schnaps an die Bar zurückgezogen, das Tourauto freut’s, denn die Straßen sind frei. Müde Doktoren schippern an tauenden Schneegletschern vorbei. Wie mag es hier, in Brandenburg, ausgesehen haben, als neulich das Eis mit voller Wucht kam? Wolfsrudel liegen gemeinsam mit Fürstenwalder Rüsselhunden auf der Lauer, stockfinster ruht der Park. Im Club der seinen Namen trägt, harren beide Doktoren der Dinge, die da kommen werden an diesem Donnerstagabend. Der Sound ist ausgetüftelt, der Technik gebührt Lob und heroischer Dank; dann wird’s stante pede voll und voller. Eine Traube hat sich gebildet, direkt vor der Pratajev-Bühne. Ein Rüsselhundbändiger ist auch darunter, das freut sehr und noch mehr, dass selbst Berliner aus Schöneweide eintrudeln, weibliche dazu. Aha, sitzen direkt vor der Bühne. Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Noch rasch die Stimmen geölt, das Retrohaar gewässert und mal abwarten, wie viele Pratajev-Verse es braucht, um heute das Publikum zu knacken.

Die Punker, Skater, Ska-Freunde Fürstenwaldes scheinen sich auszukennen mit dem Russendichter, der bekanntlich Ungeheuerliches reimte. Unser Rüsselhundbändiger wird als Streber gebrandmarkt. „Der kann ja alles mitsingen, unglaublich“, der Heilung-b-Guss aus Schöneweide applaudiert und lässt Doktor Pichelstein das Wort Schnäpel im „Angler“ laut mitsingen; Doktor Makarios bringt’s knapp aus der Fassung und so werfen sich die Doktoren bestens gelaunt den ein oder anderen breitseitigen Text-Fauxpas zu. Während die Gitarre stetig schneller schwingt und kurz vor Schluss Doktor Pichelstein zum Doppel-Olympiasieger im Bobgitarrespielen deklariert wird. Eine Ehrung, die nur mit Schnaps verdaut werden kann. Doch dazu später, dann, wenn die Merchkiste auf und nieder klappt und die Publikumstraube auseinander gepflückt wird. Die Zugaben schneiden sich an und obwohl man im Club nicht rauchen darf (zumindest unterhalb der Bühne), ist die Luft alsbald so dick, dass man sie kauen könnte. Dann verspürt selbst die Technik Mitleid mit Pratajevs unermüdlichen Erben und knipst aufs Trefflichste Dosenmusik an. Ja, gerne kommen die Doktoren zum Workout mit Behandlung wieder, nach dem Umbau des Clubs, denn den soll’s bald geben. Die Ereignisse des weiteren Abends lassen sich zuletzt so zusammenfassen: Ein Taxi wird vom Clubverantwortlichen (an dieser Stelle vielen Dank für einfach alles) bestellt, ein Spreefunktaxi (Rufnummer: 03361-33333 & 0361-33334) ist’s - und es dauert genau 2 Kaltgetränke, 5 Schnäpse, langsam, gemütlich gekippt, bis es tatsächlich im Park aufleuchtet. Hernach, im Fond des Benz sitzend, folgt die gestenreiche Entschuldigung des Fahrers: „Ich hatte zwei blöde Preller an Bord, die mussten erst noch verfolgt werden.“

Eine mondäne Musikerwohnung wird bezogen. Jetzt fragt man sich bestimmt: Was ist denn eine Musikerwohnung? Wohnt da ein Musiker? Und stehen da lauter Instrumente herum? Nein, solcherlei Unterkünfte sind eine feine Sache. Alles da, außer fünf finnische Punkmusiker auf bedenklichen Matratzenbezügen, die seit der Erstvermietung nie gewechselt wurden. Dafür lassen sich Bücher von Harald Schmidt und Roger Willemsen finden. Ein großer, feiner Geist, dieser Willemsen. Wollte im letzten Jahr der schwangeren Supermodelkatastrophe Heidi Klum „sechs Sorten Scheiße aus dem Leib prügeln“. Allein dieses O-Tones wegen gehören seine Bücher verehrt. Unweit davon liegen CDs von Dirk Michaelis und den Puhdys (Best of Super-Illu, unsere Leser haben gewählt) herum. „Mein Doktor, wer ist denn Dirk Michaelis?“, will Pichelstein wissen und erreicht damit, dass Makarios ganz aufgeregt ins jammernde Stöhnende verfällt. „DAS ist ganz schlimm und schrecklich, Dirk Michaelis und wie die alle heißen.“

Draußen strahlt derweil die Straßenlaterne eine Posterlandschaft auf der gegenüberliegenden Zaunseite an: Schnitzelhauswerbung. Daneben: Norbert Leisegang von der Gruppe Keimzeit bald solo in Fürstenwalde. „Hier guck, hier guck“, ruft Doktor Makarios, „noch so einer.“ Und auf dem aufgeweichten Permafrostboden tauchen langsam wieder Sylvesterknaller und Goldbrandflaschen auf.         

26. Februar 2010, Wittenberg / Irish Harp Pub
The spirit of Margot Käßmann (196)

Der Jägerhof an der Leipzigerstraße in 14554 Seddinersee ist schon so etwas wie ein kulinarisches Fluxwunder. Besonderes Augenmerk verdient ein feilgebotener, von außen beschilderter „Backschwein-Service“. „Was ist das denn?“,  runzeln Doktorenbrauen auf und nieder. Nichts wie hinein, wo die Wildsuppe köchelt und die Hirschrotte drohend von der Decke geweiht. Die Kellnerin ist eine von denen, die Pratajevs Verse aus „Junge Burschen tanzen“ noch nicht beherzigte. Doch wenn sie nicht hurtig aufpasst, wird man sie mästen wollen wie ein quiekendes Backschweinchen. Damit sie nicht doch noch in die Großstadt abhaut. Nein bitte, das darf ihr Verhängnis nicht sein. Duftende, randvolle Teller schlenkert sie jetzt heran; schnell die Kippen ausgemacht und rein gehauen. So lange bis nur noch bleierne Müdigkeit obsiegt. Wie gemein, rasten dürfen andere. Doktoren sind im Dienst, respektive auf dem Weg in die Lutherstadt Wittenberg, ins Irish Harp Pub, dorthin, wo die Flummitanzmädchen Fesselspiele lieben und auch dorthin, wo der luthernde Geist Margot Käßmanns einst seinen Ursprung fand.

Mike, der Wirt, begrüßt Makarios und Pichelstein wie zwei lang herbeigesehnte Wanderer, die ewig schon nicht mehr da waren und befüllt die Kaffeebecher reichlich. Doktor Pichelstein singt aus dem Watzmann zum Bühnensoundcheck und muss es immer wieder tun. Nachmittägliche Thekengäste verlangen danach; so schallt das Echo emotional gnadenlos immer wieder von der Höh: Holloröhdulliöh.

Wohl davon aufgeweckt ist er plötzlich da, mitten im Geschehen, beschleicht den irischen Kneipenraum von der Telefonzelle bis zum Damenklo: The spirit of Margot Käßmann, der Geist einer berühmten Ex-Rotlicht-Promillebischöfin, die unlängst mit 1,54 Promille über eine Hannoveraner Ampel schickerte. Und dabei mächtig verpetzt wurde. Der Geist legt sich über Doktor Pichelstein, als dieser unverhohlen das erste Kilkenny bestellt. Dann springt er auf Doktor Makarios über; eigentlich wollte der nur einen weiteren Muntermacher ordern.. Doch nein, der Geist findet seine Ausgeburt im Unbill des Betrachters und ist stärker. „Cola-Whiskey“, ruft der Sangesdoktor, nichts vermag er dagegen zu unternehmen.

Den ersten, vorwiegend männlichen Konzertgästen geht es später nicht anders. Aus der Traum von Limonade und Wittenberger Zwetschgensaft. Guiness, Schnaps und Korn wandern über den Tresen, als wäre das Zeug morgen verboten. Zu allem Überfluss wird Chili con Carne hinzu bestellt. Da muss man kein Philosoph sein, um sich auszumalen, wie die Wittenberger Innenstadt am nächsten Morgen aussehen wird: Maisstückchen, Carne- und Bohnenbröckchen säumen glitzerndnasse Kopfsteinanlagen. The spirit of Margot Käßmann ruft derweil: „Unter 1,54 Promille fang ich nicht einmal zu beten an.“ Besonders heftig wird im Verlauf des Abends diese Satzsichel noch auf einen aufstrebenden Krankenpfleger niederprasseln.

Das Konzert an sich verläuft zunächst schiedlich-friedlich. Weil das randvoll gestaffelte Publikum eher mit sich selbst beschäftigt ist, wird kein Schnaps zur Bühne getragen. Füße und Hände wippen sich durchs erste Set, dann scheppert das zweite Intro geweiht zur Pratajev-Messe. So, als bedürfe es einer großen Aufholjagt, legen die Doktoren einen wehen Backenzahn zu. Der Eintritt liegt mittlerweile bei null, was zur Folge hat, dass ein Speedball Wittenberger Novizen hineindrängt. Metamorphose. Mit einem Mal gibt es kein Halten mehr und letztlich wird das verschlafene erste Set beinahe komplett noch einmal gespielt. „Was ist denn hier los?“, fragt Doktor Makarios seinen Gitarristen. „The spirit of Margot Käßmann“, antwortet dieser und weiß, dass wenn die Finger morgen, in der Moritzbastei, noch halten sollen, wirklich bald Schluss sein muss.       

Gesagt, getan. Letzte Zugabe, mehr Getränke. Der Schnapsbarkellner hat bereits gekündigt, wurde inzwischen durch einen kurzsichtigen Gast ersetzt. Danke an dieser Stelle noch einmal, das kann man gar nicht genug würdigen. Während unser aufstrebender Krankenpfleger sich gerade noch rechtzeitig draußen vor die Glastür zum Gebrech aufstellt. Nur wenige Augenblicke später befiehlt der Käßmann-Geist ihm leider: „Zurück in den Irish-Harp-Strudel.“ Anrichten kann er dort nichts mehr; Kellner zwei wirft entnervt das Handtuch und die Verbliebenden liegen sich heilig in den Armen. Insgesamt eine großartige, eine irisch-russische Koproduktion. Irish Harp und S.W. Pratajev, lang möge die Freundschaft leuchten.  

27. Februar 2010, Leipzig / Moritzbastei 
Schnaps verleiht Flügel (197)

Vorbereitungen fürs Heimspiel der CD-Premiere „Männer die am Feldrand stehen“: Doktoren schlafen sich kräftig aus, heimgekehrt aus der Pension Bierstuben, aus Wittenberg über Land. Der Merchkoffer bedurfte einer Nachfüllung und entpantoffelt geht’s hinunter in die Moritzbastei. Die ersten Magdeburger Pratajev-Freunde sind bereits da, Zin-Gitarrist Vincent richtet das Backstage der Ratstonne her, Praktikantenchef Eike gibt das Wirtstier, die Technik dreht am Lichtmast. Noch rasch ein bisschen Bundesliga gucken, dann subito auf ins Geschehen. Das Pratajev-Ehrenmitglied Nummer 38, unser liebster Veterinär und Pferdelungentransplanteur figuriert sich im Gang. Großes Hallo auch den Pratajev-Freunden aus Karl-Marx-Stadt, Torgau, Kamenz, Leipzig, Berlin, Dresden… Doch wo ist Großenhain? Großenhain antwortet nicht, Großenhain wird mit Bibern ringen oder am betrunken am Stofftierangelautomaten drehen. Sogar Leitungsebenen der hiesigen Psychiatrielandschaft sind anwesend; Doktor Pichelstein hat großen Durst und beutet derweil den Getränkevorraut aus.

Das Intro erklingt in eleganter Stärke, um die Bühne zu erreichen, muss ein wenig Slalom an spanischen Wänden entlang getänzelt werden. Gelingt tatsächlich unfallfrei und schon stehen die Männer am Feldrand, beginnt Pratajevs Erbe an diesem Abend zu sprechen, zu singen und zu spielen. Der erste Chemnitz-Schnaps wird den Protagonisten hochgereicht, zeitgleich von einer Lady in Black als solcher angezweifelt. Erst als Doktor Makarios ihr einen kräftigen Schluck ausleiht, verstummt die Diskussion darüber. Wo kämen wir da auch hin? Pratajevs Erbe und die Huldigung des großen Dichters haben gar nichts mit falscher Keuschheit vor dem Schnapse gemein. Wer von der Schnapsbar singt und sowas wie Red Bull trinkt, leidet an chronischem Universumsverlust. So ist das nun mal.

Heftig werden nun die Oberschenkel im Publikum geklopft; Doktor Pichelstein kompensiert hinter der Bühne ausgeschwitzte Mineralverluste, keuchend und pustend. Doktor Makarios liest mit anrührendem Ernst derweil aus dem „Raucher von Bolwerkow“. Quellen der Heiterkeit branden zu Applaus-Stürmen. Weiter geht’s mit frisch gestimmten Saiten unter olympischen Augenringen. Doktor Pichelstein strauchelt bereits ein wenig, doch der nächstgereichte Schnaps verleiht Flügel. Doktor Makarios fliegt mit Stimme und Gruftrufen auf gleicher Höhe mit bis zum nahenden Ende, bis Feuer an die erste Set-Zigarette gelegt werden muss. Doch lang ist nicht alles gespielt, bei weitem nicht. Für solche Fälle liegen immer irgendwo Listen herum, aber meistens werden die bereits vorm Konzert geklaut. Also: Freie Wahl, was soll’s sein? Rasante Höhen- und Scheitelpunkte aus Pratajevs Gesamtwerk entlassen beide Doktoren schließlich. Es folgen schmetterlingleichte Gedanken und das mitten im kalten Winter. Der Abend klingt sogar im „Schwalbennest“ geheißenen Teil der Moritzbastei aus. Was will man mehr?        

26. März 2010, Dresden / Chemiefabrik
Herr B. aus C. hat ein Einsehen (198)

Der Bus rollt über den Betonkrebs der Autobahn 14 Richtung Dresden, erste Senfflecken verteilen sich über manchen Insassen. Das kommt davon, wenn einem die Tankstellenbockwurst übel mitspielt. Noch schielt der Frühling durch die Wolken, seine Winde verheißen indes nichts Gutes, Regen soll es alsbald geben. Mit Windkraft im Rücken werden Dresdens schmucke Täler erreicht, schließlich die Chemiefabrik  an der Petrikirche und ein Doktor sagt zum anderen: „Sollten wir nicht hineingehen und Messdiener befreien?“ Oder junge Mädchen davon abhalten, Nonne zu werden? Doch eigentlich ist es genau anders herum, denn immer weniger junge Mädchen wollen Nonne werden. So stand es heute in der Zeitung und das ist mitunter gut für alle Jungs, vor allem für jene aus den Kreisstädten.

Die Vorband heißt „Hands up-Excitement“, am Bass: Hans Narva. Diesen bassenden Götterboten der GDR-Indie-Szene zum ersten Mal live zu erleben, ist Doktor Pichelstein eine Freude. Makarios kennt ihn natürlich und erteilt seinem Gitarristen eine kleine, musikalische Lektion in Sachen „Herbst in Peking“, „The Hidden Sea“, „Inchtabokatables“ usw. Es soll vorm Konzert dann einen berlinalegefeierten Film geben: „Hans im Glück“; Herr Narva streift darin in Hackschuhen durchs neue Playgroundberlin, erzählt seine Geschichte dazu und schon knallt der Beamer alles darüber in weißes Leinen. Vergessen ist der lange Soundcheck, verdrückt sind Nudelteller an Felskellerbieren. Pratajevs Schnapsideen mögen später folgen, lange nachdem der Sandsturm fegte, das Gewitter nahte und Dresden aus der Luft mit Gewitterschlägen nasspeitschte. So sitzt man da, im Kreis der Lieben, der Pratajev-Freunde aus Karl-Marx-Stadt, Großenhain, Dresden und neuerdings sogar: Freiberg. Manchmal steht man auf, geht herum, schaut inbrünstig hin zur Leinwand. Ein toller Film. Da staunt die Generation Kapuzenpulli.

Hands up-Excitement streicheln hernach wilden Zauber aus den Instrumenten und gemahnen ein wenig an Sonic Youth feat. Jens Friebe. Alles in allem eine feine Sache da oben auf der Wölbebühne. Und gegen eins in der Nacht übernimmt Pratajev das Zepter. Der Mischmann schwitzt und eilt, vergisst zwar die DI-Kabel an den passenden Fleck zu setzen. Aber das macht nichts. The Russian Doctors fangen noch mal von vorne an. Schnaps muss her, sehr schnell, die nächtlichen Akkus drohen mit der Neige. Doch es kommt keiner, es herrscht Schnapsdürre, obschon das Set fleht: „Jeder Schluck“, „Die Heilung“, „Schnaps und Weiber“, „Schnapsbar“ – aha, endlich. Herr B. aus C. hat ein Einsehen. Mit einem Male zieht Doktor Pichelstein das Tempo an, Doktor Makarios‘ gusseiserne Sangeshysterie schwillt an wie der Bach, der draußen gerade zum Flusse wird. Ein Verehrer der „Toten Katzen im Wind“ widmet diese Pratajev-Weise seinem Freund aus der Psychiatrie, weitere Schnäpse folgen, und natürlich muss derlei Zuspruch samt und sonders belohnt werden. Bis zur letzten Zugabe schlagen Pratajev-Herzen höher, ein tapferer Videofilmer klagt langsam über Playschmerzen in den Fingern. Und als der Morgen graut, geht wahrlich nichts mehr. Lange Nacht, volle Gläser, vielen Dank dafür.     



27. März 2010, Tharandt / Herberge am Tharandter Wald   
Schlotternde Knie im bebenden Heilungsseminar (199)

Heiß her aus ungelüfteten Bürostuben köchelt’s derzeit in und um Tharandt. Zum einen bewegt das glückliche Kampfesende der „Erweiterten Grumbacher Sondermülldeponiepläne“ (so die Sächsische Zeitung) friedliebende Gemüter. Wahrlich, welch‘ krummer Gedanke, mitten ins Naherholungsgebiet ein solches Unding hineinsetzen zu wollen. Zum anderen erklärte kürzlich das hiesige Landratsamt den Gnadentod der Vossschen Fischzucht (versuchen Sie das doch bitte 3x hintereinander unfallfrei zu sprechen) für zulässig. 4000 Exemplärchen schaffte besagter Flossenfreund dazu in ein Becken mit ergänzendem Kohlendioxid, wo alles starb, was vorher putzige Kreise zog. Weil die Umstände es so wollten und die verbeamteten Umstände waren böse, hatte doch niemand den Züchter darüber informiert, dass toxisches Tiefenwasser von anderswo gen Tharandt umgeleitet wurde. Schlafende Bürokratie tötet Fische, das war schon immer so. Pratajevs „Angler in der Dämmerung“ wären darüber ebenso höchst unleidlich, ja böse geworden. Nun denn, was hat das alles mit dem 199. Konzert der Russian Doctors zu tun? Gar nichts. Außer vielleicht, dass der heutige Auftrittsort an der Tharandter Pienner Straße 55 knapp neben der Vossschen Fischzucht zu finden ist. Gegenüber reißt ein Bach künftiges Elbwasser mit sich und Doktor Pichelstein wird vom Platzwart angehalten, den Tourbus doch bitte nicht in der Auffahrt stehen zu lassen. Weil der Wart einen Rüsselhund mit sich führt, wird dem später tatsächlich Folge geleistet.

In der Herberge gewinnt zuweilen Freund Lomo, beflügelt durch den 1:0-Auswärtssieg seiner Dynamos in Braunschweig, schlauchende Kämpfe gegen tüftelschwere Bierfasstechnik. Das erste Gezapfte steht bereit und Gattin Simone begrüßt Gäste aus diversen Zeitepochen. Nachgeholt wird heute ein Geburtstag; Pratajevs Leib- und Magenkapelle darf da nicht fehlen – und bedankt sich an dieser Stelle vielmals für die Einladung, denn der Abend, die Nacht, der Morgen darauf lassen und ließen wahrlich keine Wünsche offen. So viele liebe Menschen auf einmal, das kann man sich nicht immer aussuchen. Eine perfekt perlende Party nimmt Fahrt auf. Unergründlich lecker lockt der Speiseplan; nach knapper Laudatio der Gastgebenden heißt es: Fettlebe. Suppen dampfen und ein jeder probiert sich mutig an längst verschollen geglaubten Rezepten. Knoblauchnudeln mit Parmesan machen die Runde; will man seinen Nachbarn zum Freund behalten, muss davon unbedingt probiert werden. Doktoren prosten sich derart sattgemacht den ein oder anderen Kräuterschnaps in den Schlund, schon tönt Pratajevs untrüglicher Frohsinn aus der Bühnenecke. Ein erster Mix aus Lied- und Textgut wird feilgeboten, während ungezügelt Knoblauchschwaden durch die Herberge duften.

Die ersten Konzertrunden im bald bebenden Seminar erwischen zunächst lediglich  trappelnde Schuhe und tosende Hände. Aber wer den schmalen Grad zwischen Euphorie und Alkoholverzehr kennt, resp. schon einmal auf einem Konzert der Russian Doctors war, der weiß, dass Pratajev die Mutter aller Heilungen ist. In allen Variablen kommt sie zu Gehör; hinterher stellen beide Doktoren wieder einmal einen Rekord auf: Niemand auf der Welt hat bisher während eines Konzertes so oft Pratajevs „Die Heilung“ zum Besten gegeben. Und wäre der traurige Vosssche Fischzüchter anwesend, hätte man auch ihm behende ein heilendes Lied gewidmet. Aber es geht noch weiter, der Zenit ist längst nicht erreicht. „Schlotternde Knie“ ruft Doktor Makarios ins Publikum hinein. Ein galanter Aufmarschbefehl wird’s. Die ersten Knie in Hosen oder mit offenen Röcken teilzeitbedeckt, schlottern bis zur mittleren Reihe vor; so mutiert auch dieser Song zur Maxiversion. Eine junge Russin macht es allen vor, schwingt dazu galant die Hüften. Und in den Pausen umströmt draußen frischer Rauch, frische Luft und so manches Pratajev-Bekenntnis die Trinkenden. Bis der Hammer in weichherzige Bettwäschearme fällt. Gute Nacht in aller Frühe.          

03. April 2010, Pirna / Kellerbar Quer
Zieh Dein‘ Schlips aus (201) 

Von Ostern sollte eigentlich erwartet werden, dass die Leute bunte Eier suchen, sich mit gekühlten Getränken ins Vergnügen stürzen und friedlich ans Feuerchen setzen. Denn Ostern ist die Zeit der legalen Brandschatzung. Wer es vorab nicht aushalten konnte, endlich öffentlich Feuer legen zu dürfen, ließ den Roten Hahn bisweilen in Mietshauskellern los und wurde hoffentlich erwischt. So brennt das Land am Ostersamstag vor sich hin; der Weg von Leipzig bis Pirna ist mit Rauchschwaden verhüllt. „Alles muss raus“, gemahnten die Möbelhäuser bereits um Gründonnerstag. Die Kunden gehorchten, deckten sich bei IKEA ein, und für fleckige Sofas, altes Betten- und Kücheninterieur steht ab sofort das Feuer Pate. Dem Saumagen der Nation würden diese brennend-blühenden Landschaften sicherlich gefallen. Helmut Kohl hat die 80 erreicht, Kundus ist jetzt auch offiziell Vietnam, Schalke 04 verliert gegen Bayern. Ein Tag also, den nur ein Russian Doctors-Konzert heilen kann. Und so soll es sein.

Dem Heimatsender im Tourbus wird der Garaus gemacht. Quer – die Nachtbar in Pirna, wie sie vollmündig heißt, dafür angesteuert. Attila, ein waschechter Ungarnwirt, und Holger, der irgendwann einmal nach Siebenbürgen auswandern möchte, weisen beide Doktoren samt Crew ein. „Hier ist die Schnapsbar, dort die Bühne, Hunger? Durst? Kein Problem, kommt sofort.“ Ja, so wird man gern empfangen und macht sich gleich ans zu verkabelnde Werk. Schon passt der Sound, liegen die Pensionsschlüssel parat, wird der Weg zur Bar geebnet. Aus gleich vier Sorten Obstbränden darf mitunter probiert werden. Attila befüllt sämtliche Gläser, das Abendmahl verdaut sich schließlich von selbst. Die Pratajev-Messe kann beginnen, Glockengeläut wummert aus den Boxen zur Straße hoch. Pirna, aufwachen. Ab in die Querbar; erste All-inclusive-Bändchen werden von der vermutlich (gemeinhin ein interessanter Fetischgedanke) tschechischen Bardame einzelnen Gästen angeholfen. Dann füllt sich der charmante Keller; Freunde der Langen-Straße-Hofnächte trudeln genauso ein, wie noch unbedarfte Frauen Doktoren. Eine Herzspezialistin war auch im Publikum, weiß Makarios am nächsten Tag zu berichten. Und selbstredend jene, die nichts zu verbrennen hatten, respektive das IKEA-Motto „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ für deutlich überbewertet halten.

Am Merchstand scharren die Doktoren nicht gerade mit den Hufen; versunken in trunkener Gemütlichkeit lässt sich das Publikum aus allerlei Warten betrachten, all-inclusive eben. Findet auch Shiva, heute Busverantwortlicher, und ertränkt den Schimmel des Lebens mit Gerstensaft. Das Intro läuft um halb elf, Doktor Pichelstein besinnt sich seiner Aufgaben, Doktor Makarios legt stimmlich Pratajevs Feldmänner drüber. Die UV-Lampen glimmern nach Art Dolly Busters an der Decke und der Russenfunke springt von der Bühne rüber aufs Thekenfeld, zu den Sofas und Sitzecken. Den Landliedern folgen heilende Ärzte, schlimme Krankheiten bis zur Pause. Im zweiten Block werden Tiere und Schnäpse zur Brust genommen. Die Zustimmung hallt allerorten gen Kellergewölbe übers vorgesehene Set hinaus. Dann folgt die dritte Halbzeit als großartiges Zutun; im Wunschkonzert sollen die Doktoren gar „Männer sind Schweine“ spielen und weil sie das natürlich unterlassen, befällt eine der All-inclusive-Gästinnen (AIG) tiefe Trauer. Mit verschmiertem lila Lippenstift zieht sie sich an die Schnapsbar zurück und beklagt fortan den Schicksalsblues. Darunter werden der AIG im Verlauf der Nacht stetig Münzen auf den Boden fallen, Doktor Pichelstein wird später nicht genau wissen, wie ihm geschieht und den lallend vorgetragenen Worten: „Zieh Dein‘ Schlips aus“ ungläubiges Staunen entgegenwirken. Was schlussendlich so ausgeht: Die AIG stürzt sich auf den armen Pichelstein, versucht Sakko und Shirt vom Leib zu reißen, darunter nach einem Phantomschlips Ausschau haltend, das ärztliche „Männer sind Schweine“ im lila Mundgeschirr. Weitere Sätze großen Gehaltes, wie dieser: „Du, hö ma, hey, ich red mit Dir, nü? Du siehst so traurig aus und meine Freundin starb neulich mit 36 an Brustkrebs und ich bin ganz verliebt in Dich“ werden folgen, die darob betroffen-amüsierte Querbartheke rauf und runter.

Doch noch ist es nicht so weit, Doktor Makarios stimmt zum letzten Mal die Schnapsbar an. In einer bisher nie gespielten Variante. Die Strophen langsamstens, konträr dazu den Refrain im Highspeed erklingend. So, als wüsste man bereits, dass Wirt Attila mit einem Selbstgebrannten auf die Russian Doctors wartet. 

15. April 2010, Leipzig / Flowerpower
Sympathisanten einer guten Welt (200) 
  
Obschon das letzte Heimspiel noch gar nicht lange her ist, füllt sich der schäumende Flowerpowerschlauch rasch mit durstigen Gästen. Und mehr hätten es am Ende kaum sein können. So quillt das liebste Wohnzimmer der Russian Doctors aus allen Nähten; wer einen Sitzplatz ergatterte, hatte diesen im Laufe der Nacht scharf unter Bewachung zu stellen. Gesandtschaften aus Pirna (Vielen Dank an Silvi & Stone für den „Zieh-dein‘-Schlips-aus-Livemitschnitt“), Soltau, Karl-Marx-Stadt, Oranienburg und anderswo sind früher bis ferner auszumachen. Die Freude ist selbstredend groß. Gleichwohl der Pratajev-Kolchos „Löffel aus Holz“ hälftig im Autofond verweilen muss. Fiebrig geht’s dort zu; Baumfreund Ekmel führt Doktor Pichelstein hin. Die Mutter Theresa unter den Doktoren bietet heilenden Schnaps an, genommen wird das frische Haus aus Stein IV der Pratajev-Gesellschaft. Na das ist doch auch eine Lösung. Wenn schon kein Schnaps hineingeht, soll wenigstens darüber gelesen werden. Während man dem russischen Wald das Attribut des „stillen, rauschenden Therapeuten“ nachsagt, greift Pratajevs Heilung gern in ähnlicher Art und Weise. Denn schließlich stammt Buchpapier von weisen Bäumen ab.

Zurück im Flowerpower sollen die Jubiläumsfestspiele, soll das 200. Konzert der Doktoren alsbald starten. „Herzhafte Trinklieder“ versprechen die Konzertflyer; Prinz Sebastian verleibt sich noch kurze Bruchstücke des Pratajev-Universums ein und wird kurzerhand zum Ehrengast, respektive Ehrendoktor erkoren. Dann läuft’s Intro, Pratajevs Erben stehen bereit für den Hürdenlauf, für das Beste aus 199 Retro-Konzerten. Ein komplizierter Gedanke, war der Alkoholausschank vorab nun wahrlich reichlich. Aber gut: „Wer viel Flüssigkeit verlieren wird, sollte vorher mehr als genügend davon aufnehmen.“ Jene alte Tutukin-Weisheit lässt Doktor Pichelstein  bereits nach den ersten Sanges-Botschaften alle tempobremsenden Achtelschläge auf der Erlenholzgitarre vergessen. Heute wird geschlagen was der Wald hergibt. Während Doktor Makarios‘ stimmlicher Tanz dazu oftmals doppelte Saltos bewältigen muss. Beim „Biber“ naht die nächste Hürde. Um davor nicht zu straucheln, balladiert sich das kleine Liedchen. Aber nur, um im Refrain mit zehnfacher Geschwindigkeit wieder über sich hinaus zu wachsen.

Unterdessen werden die ersten Sto Gramm-Gläser Wodka auf die Bühne getragen. Immerhin: 100 Gramm temperierter Flüssiggeist, also 10 cl, der ausreicht, um manches Gleichgewicht ad absurdum zu führen. In Russland wird es übrigens als große Unhöflichkeit angesehen, eine Einladung zum Wodkatrinken auszuschlagen, bzw. das bereitgestellte Glas nicht auszutrinken. Da hilft nur eines: Essen Sie vorher so viel Sie können. Möglichst das, was Salatfreunde, Käferzähler und andere Veganer nicht im Land haben wollen: Hühner, Kühe, Fische und Schweine. Denn seien wir mal ehrlich: würde niemand mehr auf diese Tiere zurückgreifen wollen, wäre streng genommen etwa die treuäugige Kuh vom glatten Aussterben bedroht. Wo doch ihre Milch bereits als „weißes Blut“ vegan gegeißelt wird. Wollen wir das? Aber nun, zum Essen ist man vorm Konzert gar nicht gekommen. Höchstens zum Krimskoje-Anstoß aufs 200. Konzert bei liebreizend besorgten Schokoladenriegeln aus dem Russenshop Ecke Kaufland/Kohlgartenstraße.  

Weiter geht’s. Die Songs überschlagen sich im Wunschblock. Mittlerweile bricht die 3. Konzertstunde an, Pause einberechnet. Die Sympathisanten einer guten, einer russischen Landdichterwelt feiern und so soll es sein. Sto Gramm-Lieferant Strobi lächelt und vielleicht mag er sich denken: Mal schauen, mal schauen, vielleicht wird’s ja so noch schneller. Schon wieder stehen die Monstergläser in Reichweite. Erinnerungen an Chemnitz, Subway to Peter, 2009 werden wach. „Klassischerweise trinkt man Wodka pur und eigentlich immer in einem Zug. So hält man es zumindest in seiner russischen Heimat“, raten studierte Experten. Die „Schnapsbar“ hallt erneut durchs Flowerpower. „Der Tierarzt“ reiht sich ein, „Der Bauch“, „Als das Eis kam“ und dem Gitarrendoktor schwinden kreislaufende Sinne. Die Finger blutig, des Leidens froh, am Boden kauernd. „Mein Doktor, wir müssen das nächste Mal mehr Balladen spielen“, keucht es aus ihm heraus. Dann richtet Makarios seinen Gitarristen auf. „Das machen wir bestimmt“, trösten heisere Worte durch die Nacht, bringen Islands Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen in Wallung und legen den gesamten Flugverkehr über Nordeuropa lahm. 

„The Schnapsbar strikes back“ liest sich später am Horizont und Pratajevs „Idyll“ überdauert die Nacht. 


07. Mai 2010, Cottbus / Chekov
Morgen geschlossen wegen heute oder:
Ein Knochen aus Hund zur Guten Nacht (202) 

Free Kachelmann! Seitdem unser Schweizer Wettermann im Gefängnis sitzt, hat sich die aschedumme Wolkenlage überm Tourgebiet der Russian Doctors sehr zum Nachteil verändert. Selbst Moskau meldet Sonnenschein, doch heute geht es nur bis Cottbus, ins Teehaus Chekov. Ganz nach Pratajevs Gusto wird per Schild aus Holz bereits verkündet: „Morgen geschlossen wegen heute“. „Na das kann ja was werden“, raunen sich Doktoren zu und begehen die alte Spree-Schwimmbandanlage mit Blickrichtung Stadion der Freundschaft. Hinter sich gelassen eine arg strapazierende, umgehungsträchtige Wald- und Wiesenpartie von Leipzig zur Energie-Durch-Kohlestadt, vor sich den Gesang des „Wanderers“ aus Pratajevs Werk.

Nach dem Soundcheck darf getafelt werden. Gleich um die Ecke ist der richtige Ort dafür, er nennt sich „Zelle“. Kachelmann ist nicht auszumachen, schade. Dafür eine Hand voll junger Aktivisten, die sich um koschere Zubereitungsnormen im erstaunlichen Sinne des Veganismus/Vegetarismus diskutierend abmühen. Eine geschätzt 15-jähringe Antifaschistin steht im Mittelpunkt, noch ganz nassgespritzt von zeitnahen Wasserpistolenschlachten. Makarios und Pichelstein schmeckt’s Gekochte dennoch hervorragend. Besonders verlockend ist allerdings die Aussicht auf Nachtisch, auf Döner-für-später, versprochen aus Veranstalterhand. Die gibt man gerne und freut sich gemeinsam aufs kommende, pratajevreiche Bühnenbüffet. Zurück zum Teehaus Chekov, mal schauen, was schon los ist.

Gemütlich tröpfeln die Gäste ein, ARTiges Stammpublikum ist darunter und KuK von der Gruppe Sandow tauscht süßen Wein gegen trockenen. Meistermuse Momo und den Mann mit dem beachtlichen Hutwerk zieht’s hernach Richtung Aftershowigkeit. Dann schrillt die Sirene, schreiten beide Doktoren zur Bühne. Von oben herab lässt sich im Rundblick schwerlich erkennen, wie voll das Teehaus wirklich ist. Doch da das Klatschen, wohlige Brüllen und beachtliche Rufen nach Pratajevs Lyrikperlen bis zur letzten Zugabe nicht abebbt, wollen wir mal von einer feinen Fülligkeit im Raume ausgehen. Immer wieder greift Doktor Pichelstein in den eigens für ihn auf die Bühne gebauten Bierkühlschrank. Zuletzt wurde einem gewissen Charles Bukowski (in der Hamburger Markthalle, am 18. März 1978) diese Ehre zuteil. Ach, werte Veranstalter. Ein prall gefüllter, unter Eis gesetzter Kühlschrank auf der Bühne, das ist wirklich etwas sehr gelungenes. Und weil der heutige Abend ein ebensolches Schicksal von sich gibt, liegen sich Doktor Makarios und Doktor Pichelstein, hoch erfreut darüber, später beim Gläschen Pfefferminzschnaps in den Armen. Auf in die Zelle, dort wohnt der Wanderer, der Musiker, wenn er im Teehaus Chekov absteigt. Und im unteren Segment eines Hochbettes wartet bereits ein Hundeknochen, vielleicht aber auch ein Knochen aus Hund, auf Doktor Pichelsteins Ruhekissen. Wer hat den da bloß hingelegt?                    

08. Mai 2010, Dresden/ Kunsthof Gohlis 
Das erste Gitarristinnen-Autogramm der Russian Doctors (203) 

Vom gestrigen Auftritt des Irish International Blues-Rock-Gitarristen Eamonn Mc Cormack noch schwer baileysgezeichnet, sonnt sich die Belegschaft des Gohliser Kunsthofes links der dresdnerischen Elbe. Zehn stromernde Katzen und zwei Kleinsthunde schauen ab und zu nach dem rechten. Herrchen bis Weibchen schwelgen unterm blauen Himmel, der es windig schafft, zumindest am Tag der Befreiung für Antidepressionskapriolen zu sorgen. Zuvor hatten beide Doktoren in der Dresdener Innenstadt einen Fußballnachmittag voller Qualen zu durchleiden. Nürnberg muss in die Relegation, Bayern ist Meister, Hamburg verpasst die Euroliga. Es gilt ein saisonübergreifendes Trostlied der Band Element of Crime anzustimmen, in dem es treffend heißt: „Im Fernsehen, wo deine Mannschaft die Meisterschaft fröhlich versiebt, reichen sich Euro und Markstück die Hände und sagen: Wir haben uns lieb“. Gespielt in a-moll, G-Dur sowie E-Dur.

Dass sich diese 3 Akkorde u.a. ebenso in der Russian-Doctors-Komposition „Auch die Ratte hat ein Herz“ befinden, weiß seit Mitte letzter Woche tendenziell jeder, denn: Das neue, große Liederbuch Pratajevs ist auf dem Markt der Nachspiel- und Singmöglichkeiten aufgetaucht. Hab Dank, lieber Verlag Andreas Reiffer dafür. Und im Voraus sei gesagt: Heute, am Tag der Befreiung oder: „At the Great Raid“, wie Mr. Mc Cormack die Sache gewiss sieht, verkauft sich die mitgeführte Charge Liederbücher höchst komplett aus.

Der Kunsthofgohlis ist ein Kleinod, ein malerischer, ein skulptur- und pflanzenumschmückter. Dazu frisch renoviert herausgeputzt und wenn man genauer hinschaut, blicken Schweiß, Staub und wochenlange Maloche zurück. Nach Bergsdorf, bei Tourbeginn, die zweite feine Kunstbeflissenheit, in der Pratajevs Erben zu Gast sein dürfen. Und genau wie in Brandenburg spielt das Umsorgen der Herren Makarios und Pichelstein eine tragende Rolle. Bierchen hier, Kaffee da, die Schnapsbar wird aufgetankt, Anlage und Sound werden hergerichtet und bei weitem traut keiner Doktor Pichelstein zu, den Titel „Schnellster Gitarrist der Welt“ auf legalem Wege erspielt zu haben. Des Gitarrendoktors Aussage: „Nun, vor jedem Doctors-Konzert sollten die Instrumente schon mit frischen Saiten aus Stahl bestückt werden“, entgegnet man mit Trugschlüssen. Noch. Die große Hoftür öffnet sich, eine Wachkatze sitzt mittenmang in Position und jagt plärrende Amseln über Baumkronen davon. Zumindest träumt die Katz‘ das ganz gewiss. Erste Gäste aus der Heimat sind Silvi und Stone. Kesselgulasch dampft Hunger herbei, unseren Zschonergrundbadwirt, Landärzte, Mathematiker und alle, die bis tief in die Nacht nicht nach Hause gehen. Stühle und Tische besetzen sich und an der Schnapsbar drängen leere Gläser auf Spülung, Nachfüllung, große Gemütlichkeit bis zur Pause, bis zum Schluss des Pratajev-Reigens über alle Set-Eskapaden hinweg.

Die Doktoren spielen sich in einen Rausch, erhalten dergestalt große Geschenke bereits beim Spielen (z.B. eine wahnsinnig leckere Flasche Vodka und zwar nicht aus dem Aldi!). „Verrücktes Huhn“ wird Doktor Pichelstein vom umtriebigen Gitarristen des Hofstaates, Chris Rasch, geheißen. Wenn das mal kein Kompliment ist. Ja und so lugt’s später bis nächtlicher; Liederbücher kreisen, Doktor Pichelstein gibt damit von Tisch zu Tisch Gitarrenkurse im Schnelldurchlauf. Zuletzt erscheint noch ein sympathischer Saufaus und besorgt sich ein Autogramm. Erstaunlicherweise nicht von einem der Herren Doktoren, sondern von Pichelsteins letzter Schülerin. Mit ganzem, schwankendem Stolz schreitet er gen Schnapsbar und raunt zum Kunsthofuwe: „Hier, guck mal, ich hab ein Autogramm von der Gitarristin bekommen“. „Toll toll“, sagt darauf der Uwe und fragt sich, wie ihm heute wohl geschah. 


25. Juni 2010, Dresden / Gare de la Lune, Elbhangfest
Blutgitarre & Kartoffelschnaps (204) 

„Dieses Fest hat zu Recht den Ruf, eines der schönsten Feste der Stadt zu sein. Hier finden gewürdigtes kulturelles Erbe, Bürgerengagement und Kreativität ein harmonisches Miteinander, das auch die Fußball-WM einzubinden wusste.“

Ja, so klingen weise Nachrufe aufs mittlerweile 20. Elbhangfest heute. Gesprochen wurden sie von Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz. Genauer von jener CDU-Regentin, deren Berühmtheit darauf zurückzuführen ist, dass sie - bis auf Strapse und Amtskette tragend - splitterfasernackt vor der welterbevernichtenden Waldschlösschenbrücke herumsteht. Zwar lediglich auf einem Portrait der hiesig tünchenden Pinselkoryphäe Erika Lust dargestellt – aber für Frau Orosz war’s Grund genug, Ende letzten Jahres dagegen, um Unterlassung flehend, empört vor den Kadi zu ziehen. Zunächst verboten die Richter alle orosz’sche Nackigkeit per Eilverfahren, im späteren Berufungsverfahren lobten sie diese fürwahr als „ein Bildnis der Zeitgeschichte“. Ergo: Frau Orosz darf nun wieder schamhaft öffentlich gezeigt werden. Jener Wirt, der besagte Kunst für schlappe 1500 € als erster erstand, holte die pinselige Weltkultur aus dem Tresor und trank darauf sicherlich so manchen gewinnbringenden Schnaps.

In Leipzig und Umgebung sprach man diesbezüglich von der „Dresdener Nackt-Bild-Posse“ und schüttelte mal wieder manchen Kopf über die königliche Hauptstadt aller Sachsen. Da Erika Lust aus Kasachstan stammt, somit eine mutmaßliche Verehrerin Pratajevs sein dürfte, wollen wir sie hiermit für ihren großen Sieg der künstlerischen Freiheit besonders loben.

Als The Russian Doctors den Garten des Gare de la Lune betreten, beginnt gerade der Sommer heiß zu jucken. Die erste Kapelle des Abends spielt sich, dick beanzugt, in einem nie enden Soundcheck warm. Bis allerorten begriffen wird, dass dies jetzt schon das Konzert sein soll. Denn man wartet geduldig auf die Rockys, natürlich unbedingt auf Pratajevs Erben, döst friedlich schnabulierend vor sich hin, fragt sich, warum auf der Bühne zwei Mädchen in zu langen, immerhin trägerlosen Kleidern das feilgebotene Coverset der Marke „Best of Die Ärzte feat. Madness an Pogo in Togo“ hintergründig zerhopsen und nicht einer aus dem Publikum einen stoppeligen Teddy Mischka zum Dank dafür gen Bühne wirft. Zwischen letztem Gruppenspiel im WM-Zelt und Merchstand am freundlichen Mischer zerwandern sich derweil die Wege. Alkoholische Vorräte sind hingegen schwerlich zu ordern, da der Konzertgarten alsbald einem quirligen Regionalligastadion gleicht. Dann spielen die Rockys und zwar so elektrisch gut, dass es den versorgenden Stromkreislauf gleich mehrfach zerlegt.

Unterdessen am Merchstand: Für jede heute gekaufte CD gibt’s ukrainischen Kartoffelschnaps, selbstgebrannt, in Schnapspfeifen ausgeschenkt. Seitens der Käufer versucht man zwar mehrfach, die mitreißende Doktoren-Verkäuferin zu ebensolchen Schlucken hinzureißen, doch Standhaftigkeit hat einen Satz geboren. Er lautet: „Ich hab lieber Likörchen dabei, zum Anstoßen, Prost.“ Ein Unterfangen, welches am nächsten Tag dennoch reichlich Reue erfahren wird. Doch so weit ist es lange nicht. Mit letzter Zugabe der Rockys drücken sich Doktor Makarios und Doktor Pichelstein gegenseitig auf die Bühne aus Holz. Schon stöpseln sich Gitarren, werden Stimmbänder geölt und Akkord-Feuerwerke gezündet. Die Stimmung ist eine Pracht, querbeet schickt Makarios sein heutiges Pratajev-Manifest durch die Menge, Pichelsteins Finger landen in der Hartsaitenschlacht. „Männer die am Elbhang stehen“ in Reinkultur. Selbst die Elbe vermag ihnen das Wasser nicht zu reichen.

„Mein Doktor, du blutest wie ein Schwein“, wundert sich Makarios und flüstert’s seinem heftig peitschenden Erlenholz-Gitarristen ins klebenasse Ohr. Und richtig: Holz plus aufgespanntes Saitenmaterial leuchtet reichlich blutbefleckt. Selbst Hemd und Hose gemahnen an den deutschen Einsatz in Afghanistan. Aber nun, was will man machen? Wie gut, dass ein Fliehender Chemnitz-Sturm an Schnapspfeifen naht. Zunächst daraus getrunken, dann den Mittelfinger der rechten Hand, Quelle allen Blutes, hinein getaucht, somit ausreichend desinfiziert, weiter geht’s. Die Alte Henne wird zur Fetten Henne und aus dem Fettfrosch wird ein Fickfrosch und aus der Nacht wird ein Morgen, ein letzter Tiefschluck in der verehrten Grottenwirtschaft, bevor Oberbürgermeisterin Helma Orosz, nackig an der Waldschlösschenbrücke, jeden Alptraum herrlich mit sich versüßt.

26. Juni 2010, Eibenstock/Skihütte 
Abwärts und bergauf (205) 

Nun kurz fort von dir, wertes Elbhangfest. Pratajev-Mitglied Nummer 36, Eademakow -  in seiner Funktion als „Kontaktmann zu ehemaligen SU-Geheimdienstkreisen“ lädt ein zum Rundgeburtstag ins Erzgebirge, nach Eibenstock, auf eine (wie sagt man gleich?) naturverbundene Skihütte. Damit nicht genug: 717 Meter über normal Null gelegen, wird sie später am Abend den Beweis antreten, Ort des bisher höchst gelegensten Doctors-Konzert zu sein. Bereits vor Fahrtantritt, am Küchentisch der Elbpension Große, rätseln beide Doktoren, wie es denn bloß das Tourauto so hoch hinauf schaffen soll? „Aber mein Doktor, schöne Gegend das Erzgebirge“, beruhigt Makarios den Pichelsteinfahrer. „Vielleicht transportieren wir die Gitarren ja mit einem Sessellift nach oben.“ Ein böhmischer Gesandter wird derweil draußen lautstark vom Herbergsvater zum Flaschensammeln animiert. An Jahren werden die beiden vielleicht 30 trennen, der Gesandte hat die 90 bereits überschritten und läuft gebückt.

Die erste Anhöhe liegt indessen keine 100 Meter zur linken; um möglichst rasch dem aufkommenden Festumzug zu entfliehen, senkrechtet der Audi flink und gewandt wie ein Frettchen gen Dresdener Fernsehturm hinauf. Radfahrer springen zur Seite, entgegenkommende Karossen müssen warten. Die Kopfsteinserpentinen verlangen unterm fahrenden Gewicht strenges Gangschalten zwischen eins und zwei, der Motor röhrt und irgendwann folgt das erste Blauschild Richtung Autobahn. Auf zu schönen Landen, die erste Paybackcard-Bockwursttankstelle schimmert als Nahziel.  

Der Erzgebirgler wäre keiner, wenn nicht Punkt 15 Uhr Kaffee und Kuchen bereit stünden. So ist die Zeit knapp; vom rasenfeinen Anwesen der hier verwurzelten Eademakow-Liegenschaften ist’s ein kurzer Weg gen Sommerrodelbahn und ja, dahinten, das müsste besagte Skihütte sein. Eine drahtne Engverwandte sitzt alsbald lotsend im Tourauto; um nicht achsbrechend auf erwartbaren Forstwegen aufzuschlagen, muss das Personengewicht im Audi harsch reduziert werden. Die Benutzungserlaubnis für Waldwege im Eigentum des Freistaates Sachsen liegt parat, los geht. Doktor Makarios treibt sich alldieweil von selbst den Berghang hoch. Immerhin zeigt die Quecksilbersäule hier einige Grade weniger als talwärts an.

Der Erzgebirgler wäre weiterhin keiner, wenn aller Humor ihn jemals verließe. So schunkelt der Wagen über Schotter, Sand und Baumwurzeln durchs ausgefurchte Schutzgebiet, zum Wandern sicherlich schön, zum Befahren ein Graus. „Meine armen Stoßdämpfer“, jammert Pichelstein zur Anverwandten. „Ach, meine Werkstatt schimpft auch immer mit mir“, regnet es Trost im Sonnenschein zurück. Überholt wird ein Förster mit Schäferhund, trägt ein Schießgewehr bei sich. Wie gut, dass die Benutzungserlaubnis gem. § 11 Abs 4 SächsWaldG sichtbar zur Frontscheibe liegt. „Die Höchstgeschwindigkeit darf 30 km/h nicht überschreiten“, besagt das Kopierpapier. Milde lächelt Doktor Pichelstein und wünscht sich einen Geländewagen mit Allradantrieb herbei. „Nur nicht abwärts blicken, keine Panik, Vorwärtsgang ist immer richtig.“ So schwitzt es und stöhnt es in einem und dann schimmert jedweder Lohn für die Mühe durch die staubigen Scheiben. Eine Idylle ist’s, eine wahre. Tief im Tal liegt Eibenstock, tief im Gras der Doktor Makarios. Meine Güte, wie froh ist man sich zu sehen. Und wohlauf, pünktlich zum Kaffee und selbstredend zum ersten Achtelfinalspiel der WM. Kühl prickelt in Bälde das tschechische Pilsener, vermischt sich Cola mit Whisky in emsiger Betriebsamkeit von Freunden und Verwandten. Kinder tollen, eines wird direkt vor, resp. beim Spielgucken der Urus gegen die Pferdelungen-F-Jugend Südkoreas gewickelt; es hat sich streng in die Pampers gemacht. Müff zieht durch die Hütte, nichts wie raus und Kippen in die glasklare Landschaft hinein rauchen.

Wieder hat’s ein Auto erstaunlicherweise den Berg unbeschadet hochgeschafft, darinnen verbirgt sich allerhand leckeres. Und der Erzgebirgler wäre weiterhin keiner, wenn er nicht mit dem Löffel aus Holz drohen würde, sollte wer nicht pünktlich stante pede vorm Besteck sitzen. Lieber schnell hinein, es lohnt sich wahrlich und schmeckt ungemein. Bei Tisch wird sich kennengelernt und der Satz: „Nun noch einen Teller, ich mach ihn dir voll“, bestimmt das Vokabular. Befürchtet wird nur der Gang zum Klo, wo’s nostalgisch plumpst, und wer die dafür vorgeschaltete, blecherne Gerätevorrichtung nicht alsbald korrekt in luftverdichtende Position bringt, dem droht Verwesungsunbequem.

Bevor Eademakow jene gestern bereits am Elbhang eingesetzten Schnapspfeifen zum Geschenk überreicht werden, respektive das Konzert startet, noch einmal lang an die frische Luft, runter zum Talsperrensee geblickt (zwei Dörfer drin), Blicke zur Rechten (Mördergrund), zur Linken (Teufelsgrund), und ein schleichendes ZDF-Abendprogrammgefühl bestimmt die Szenerie. „Der Pfarrer von Eibenstock“ oder „Manja, das Erzgebirgsmädchen“. Liebe Drehbuchschreiber, rasch ans Werk und bitte immer Fritz Wepper die Hauptrolle übertragen. Im „Pfarrer“ sollte zudem unbedingt ein Auto auf dem Weg zur Skihütte in die Schlucht stürzen.
  
Diese Gedanken in sich tragend geht’s schließlich ans Konzertwerk in zwei Blöcken und da kaum einer der Anwesenden bisher weder Wirken noch Werk S.W. Pratajevs zur Andacht nahm, gibt’s nebenher einen Crashkurs übers russische Landleben. Makarios stellt einzelne Themenfelder (Fetisch, Tiere, Krankheiten usw) zur Auswahl und die nimmermüden Doktoren entführen das Publikum mit größter Fabulierlust in die Welt des großen russischen Dichters. Das wohlige, applaudierende Erstaunen darüber ist hinterher so groß, dass einer der Anwesenden Pratajevs Erben eine Moskau-Reise anbietet. Nun, das klingt nicht verkehrt: Russian Doctors live in Moskau. Warum nicht?

In der Pause tröpfelt es Schnaps aus Flaschen, werden Gläser wonneleicht gefüllt. Doktor Pichelstein bekommt ein neues Fingerpflaster zum Absinth und sehr viel später endet dieser zu tiefst gelungene Abend im Hotel Saigon, im Eibenstocker Kleingartenviertel abwärts und bergauf. Zurück bleibt das Tourauto, sich darum zu kümmern obliegt Doktor Pichelstein erst in ein paar Stunden.                      

27. Juni 2010, Dresden/ Elbhangfest, Grottenwirtschaft 
Singspucke (206) 

Frühstücksfettlebe im Hotel mit dem vietnamesischen Stadtnamen, in dem alles aus Bambus zu bestehen scheint. Nur die Klobrillen nicht, die sind aus Holz. Zum Rauchen geht’s auf den Freisitz. Eilig stürmt stoffbepackt die Herbergsmutter herbei, ruft „Pops hoch, ja, Kissen, weich“. Man gehorcht allenthalten und schon will gar nicht mehr aufgestanden werden. Aber das geht nicht, das heutige Konzert an der elbhangigen Grottenwirtschaft soll vorm 16-Uhr-Spiel der deutschen Mannschaft über die Bühne gebracht werden und bis dahin heißt’s wach und fit zu sein. Das Auto muss vom Berg hinunter, Eademakow organisiert den Shuttleservice, schon sieht sich Doktor Pichelstein erneut sterbend untergehen. Doch am Ende ist alles gut. Mit dickem Filz malten Angehörige den Weg von der Skihütte zum Saigon aufs Papier. Eine Wegbeschreibung, die nur ein wahrer Erzgebirgler nonchalant hinbekommt. Wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass sich Doktor Pichelstein ohne seinen verehren Navigator Makarios überall und immer verfährt. Welch ein Glück also, dass kein Notruf von der tschechischen Grenze beim kissensitzenden Sangesdoktor abgegeben werden muss.

Die Klimaanlage im Auto hat ihre besten Jahre bereits hinter sich, die Sonne brennt, der Schweiß rinnt, Dresden wird über Pirnas Umgehung erreicht und als endlich das Elbhangfest teilweise im Schritttempo durchfahren ist, heißt es: Gitarren besaiten, für Flüssigkeitszufuhr sorgen, folkloristischen Neil-Young-Klängen (feat. Peter-Bursch-Liederbuch, Teil eins bis drei) lauschen (Bye bye love usw), Bühne umbauen und folgende Sätze des vorbändigen Zupfgitarristen kopfschüttelnd hinnehmen. Sie lauten: „Hm, habt ihr vielleicht eigene Mikros dabei? Ich weiß ja nicht, also ich bin ein bisschen vorsichtig mit meinen Schätzchen, wenn jemand außer mir rein singt.“ Da fragt man sich natürlich, was das soll. Sind Doktoren etwa dafür bekannt, schlimme Krankheiten mittels Singspucke zu übertragen? Nein, ganz im Gegenteil. Sie bringen die Heilung, stets und immer, und weil man mit solcherlei Mikrofon-Pathologie bei Zeiten rechnen muss, haben Doktoren selbstredend eigene Singkörper dabei.

An dieser Stelle möchten wir mal unserem lieben Hendrik und den anderen Freunden der Grottenwirtschaft danken. Dem Hansi und einfach allen, denn immer wenn’s zum Elbhang geht, freuen sich Doktoren ganz doll aufs Wiedersehen. Nicht nur, weil ein leeres Glas in Augenschlaggeschwindigkeit wieder ein volles wird, die Fischbrötchen nach Art Pratajevs munden wie der Kuchen aus der Pfanne. Nein, an der Grottenwirtschaft sind stets alle so herrlich entspannt. Wenn am letzten Elbhangabend die Zigarren zum Whisky kreisen, ach, dann weiß man, dass die Welt wahrlich schön sein kann. Und so startet das Über-die-Straße-Konzert der Doktoren. Während Makarios und Pichelstein den Vorzeltschatten innehaben, räkeln sich die Konzertangereisten im Bankstelldichein ein paar Baumschattenmeter weiter. Die Sonne brennt sich fest, Doktor Pichelsteins rechter Daumen gerät blutig unter Hartsaitenbeschuss. Schnell muss es gehen, wollen viele Songs in knapp über einer Stunde gespielt werden.

Zwischen Merchansturm und Achtelfinalspiel Deutschland vs. England verdient sich’s Töchterchen von Pratajev-Mitglied Biberowitsch die ein oder andere Karussellfahrt. In Heimarbeit wurden vorab Tischaufsteller bastelnd zum Verkauf gemalt. So ziert etwa seitdem ein zeichnerisches Werk namens „Bebende Brust“ den Schreibtisch der Pratajev-Zentrale. Dann gewinnt Deutschland 4:1; Doktor Makarios is not amused, sein Tippweltmeister ist draußen. „England is going home“, wird skandiert, doch eigentlich ist’s egal. Bei all den schönen Momenten, die noch lange nicht vergangen sind.                

06. August 2010, Oranienburg / Biker-Club
Unter Rockern (207) 

In zwei Tagen ist „Internationaler Tag der Katze“. Was liegt da näher, als rasch noch einen Pratajev-Text zu vertonen? Er heißt „Kommt die Katz‘“ und beschreibt genau das Gegenteil. Das gemeinhin als „symphytisches Felltier“ hoch im Kuschelkurs stehende Objekt der Begierde kommt nämlich „nie mehr nach Haus“. Armer Pratajev, wissen wir doch längst, dass mit der „Katz‘“ ein echtes, streunendes Frauchen gemeint war. Die Forschung tippt hier auf Helga Bauer, genannt „Peitscha“. Wahrlich, so eine verliert man ungern. Näheres darüber im Haus aus Stein Nr. 5 (Almanach der Pratajev-Gesellschaft, Febr. 2011).

Bis kurz vor den Autonbahntoren Berlins waren beide Doktoren über ein wetterschönes Wochenende d‘accord, durchkurvten lange vorab (um überhaupt dem Freitagsgewimmel der Stadt zu entkommen) historische Leipzigecken, welche Doktor Pichelsteins Horizont um Längen und engmaschige Straßenplusbahntrassen erweitern sollten. „Da, das ist der Prügelweg“, gemahnte Doktor Makarios etwa mit Zeigefinger gen Chemie-Leipzig-Stadion im vergessenen (aber grünen!) Stadtteil Leutzsch. Der Doktor M. wird es, als LOK-Fan früher Stunden, wissen. Mehr nicht vom Leipziger Fußball, erfreulich sieht noch anders aus. Erfreulicher wären auch Pratajevs Sonnenschüsse, doch der Himmel weint und die Scheibenwischer haben bis Brandenburg eine Menge zu tun. Oranienburg, die ehemalige holländische, später russische Enklave, versteckt sich immerhin vor Wolkenbrüchen. Untröstlich sind hier lediglich zwei Autofahrer, die sich kurz zuvor in voller Fahrt vor einem Kreisverkehr das Blech gaben. Der Tourbus fährt an juvenilen Rasern vorbei, deren Leben nun für lange Zeit ein völlig anderes sein wird. Tauschen möchte man mit denen in keinster Weise. Nun denn. Den Biker-Club zu finden gestaltet sich mittelgradig schwer, doch als Doktor Pichelstein das Steuer endlich verlassen darf, überwiegt die Freude. Steffen, Mann für alles und fürsorglicher Veranstalter, gibt den Scout. Bald ploppt das Flensburger und jedem Rocker, dem die Hand geschüttelt wird, steht ein Lächeln im Gesicht geschrieben. The Russian Doctors – erstmals in Oranienburg. Und hoffentlich bald wieder, denn der Abend wird aufs Äußerste gelingen. Das sei bereits verraten.

Fleißig geht’s ans Autogrammeschreiben; im Club spielt bereits eine Coverband  laute Zartweisen. Sängerin und Bassistin gehen als heilungskonforme Blondkatzen durch, später werden sie vom Baumfreund Ekmel zur „Version B“ der pratajevschen Heilung vorgeführt. Bleiben wir gleich dort, denn Oranienburg hat sich kämpferisch vorgenommen: „Was beim 200. Konzert im Leipziger Flowerpower Geschichte schrieb, soll bei den Rockern, im Biker-Club, harsche Wiederholung erlangen.“ Was schrieb die Geschichte? Hier die Lösung für jede große Multiple-Choice-Diplomarbeit über Pratajevs Erben: Das Publikum versuchte im April 2010, unter Zuhilfenahme unzähliger Sto-Gram-Becher Vodka beide Doktoren kampfunfähig zu machen. Rückblickend gelang das sogar; Doktor Pichelstein musste direkt von der Bühne in die Waagerechte verlegt werden.

Schnaps um Schnaps wird gereicht, Lied folgt auf Text, folgt auf Lied und die „Katze kommt nie mehr nach Haus“ rahmt sich mehrfach, über die Pause hinaus, zur Premiere. Schnaps Nummer drei verschluckte vorab den „Raucher von Bolwerkow“-Text, doch in Oranienburg zählt nur eines: der passive Fetisch. Und so kommt die längste jemals gespielte Version des Knappzeilers „Beim Bücken“  gerade recht.  Dann muss es irgendwann gut sein, die Zugaben verschlucken weiteren Schnaps und je später er getrunken wird, desto wärmer schmeckt er.

Vermisst wurde nur Bermasik Junior, Holzlöffelschnitzer der Pratajev-Gesellschaft. Hoffen wir, dass er beim nächsten Mal mit einigen Damengebissen aus Holz aufwarten kann. Und danken allen, den Rockern, den Bückern, den Bikern, unserem gruftrufenden Dichtergott Pratajev und natürlich allen Katzen dieser Welt. Für ihren unermüdlichen Einsatz, Licht ins dunkle Leben zu bringen. Auch wenn sie dafür manchmal vorne ans Fahrrad geschnallt werden. Eine letzte Bratwurst rundet den Tag ab und froh sind Makarios und Pichelstein, dass die Herberge gleich um die Ecke steht. Nur Schnaps geht nicht mehr ein noch aus.           

07. August 2010, Pirna/Hofnacht  
Katastrophentouristen (208) 

Auf dem Niedriglohnsektor hört man gerne vom bösen Satz „Mehr Monat als Geld auf dem Konto“. Nach einem Doctors-Konzert lautet das davon abgeleitete Sujet: „Mehr Schnaps als Tag im Kopf“. Den Fahrer des Tourbusses, in Person Doktor Pichelstein, trifft ebendiese Weisheit manchmal hart und heftig. Und wenn es dann noch regnet, im Bus selbst wohliger Müff aufsteigt, das Wuschen der Scheibenwischer jede Langmut bestimmt - dann ist Erlösung fern, unterbrochen durch Tankstellenbockwürste und literweise Kaffee plus Cola.

Doch stets werden sie tröstend ausgesprochen, die besorgten Sätze des Navigators Makarios: „Mein Doktor, geht es Dir gut? Kannst Du noch fahren?“ Die Antwort lautet in der Regel: „Aber nur mit MDR Radio Sachsen“. Schon beschallen Günter Geißler (haben wir  ihn selig), Marianne Rosenberg, Frank Schöbel und der gefürchtete Roger Whittacker („Ich ging fort, obwohl ich doch glücklich war bei dir, doch mein Traum von Freiheit war stärker. Ich war dumm, nun komm ich zurück und an der Tür steht ein fremder Name. Und darum: Wenn es dich noch gibt…Hmm Hmm Hmm Hmm Hmm“) die trübe Stimmung. Bald wippen alle entzückt mit. Was wäre die Welt ohne derart anrührende Songtexte? Ja und richtig, was mag die Frau vom Roger wohl gedacht haben? Solche Fragen muss man stellen! „Dieses Schwein, lässt mich hier schwanger zurück und dann klingelt der zehn Jahre später einfach wieder. „Hello again, du isch möschte disch heut noch sehn“, selbes Thema, anderer Autobahnkilometer.

Pratajevs Texte sind dagegen aus einem völlig anderen Holz, wie wir alle wissen. Heute geht’s nach Pirna, zur Hofnacht, dort vermag später am Abend die Rede von ihnen sein. In der Langen Straße und der Regen donnert aufs Blech. Nasse Premiere also, denn seit Beginn der Doctors-Festspiele vor einigen Jahren nässte es am ersten Augustwochenende dergestalt in Pirna noch nie. Ins Casa Italiana geht’s zunächst, dortselbst warten feinste Pensionszimmer. Erschöpft liegt man herum, doch nicht ewig. Draußen tritt die Elbe über die Ufer. Mal gucken, mal gucken. Tatsächlich: Vier Autos droht der Strom mit sich reißen zu wollen. Der Pegel steigt, das Wasser läuft ins Innere der Wagen. Doktoren reihen sich ein in die neugierige Gilde der Katastrophentouristen. Ordnungsamtfrauen in dicken Gummistiefeln werden zu Street-View-Furien, knipsen digitale Beweise aus misslichen Lagen. Da! Endlich rast Abschleppservice Uwe Schulz heran, delegiert durch die örtliche Polizei. Herr Schulz wittert das Geschäft des Tages und beeilt sich mit dem Abtransport seiner zur Luft gehieften Ladung. Sturzbäche verlassen das erste Auto und ein Rentner ist sich sicher, dass da nichts mehr zu machen sei. Elberadfahrer, ganze Lehrerzimmer, steigen ab. Camcorder surren, sächsische Mundart schimpft auf in Scherben stampfende Pfützenkinder hinab. Doktoren zwängen sich unter den Schnäpelschirm und ein aufgeregtes Mädchen betritt die Szene. Es rennt direkt auf die Elbe zu. „Mein Auto! Mein Auto!“ Bis eben trockene Stiefelchen stehen randvoll im Wasser. „Schafft sie’s?“ Man ist sich nicht sicher und starrt gebannt. Ein Elbedampfer macht kehrt; Flussabwärts geht nichts mehr. Dickes Holz treibt auf dem Wasser und das Mädchen würgt den Motor ab, falscher Gang, Hysteriefaktor 100, dann Applaus! Pech für Uwe Schulz, doch der hat bereits den nächsten Wagen am Haken.

Italienische Speisen rücken die Leiber zurecht; Zeit wird’s für den wahren Grund des Pirna-Ausfluges. Die Hofnacht startet durch und der sonst quirlige Besucherstrom sucht beschirmten Dächerschutz. Auswärtigen Gästen bleibt kaum eine Chance heute anzukommen. In Chemnitz sterben die ersten im Wäschekeller. Und viele  Landwege nach Pirna sperrte man besser ab. Aber dennoch: Doktoren bauen an der Bühne, Soundcheck und Hofdach halten, was sie versprechen. Die ersten Doctors-Freunde triefen heran. Pratajevs Gesellschaftsmitglied 31, Oleg Odinakov, schafft es fast pünktlich und auch sonst wird’s voll, wenn auch nicht proppevoll. Eigentlich müssten jetzt stante pede Pratajevs Texte „Reg dich nicht auf / wenn es mal regnet / und der Bach zum Flusse schwillt (…)“ oder „Und der See trat über die Ufer“ gespielt werden. Doch nein, besser nicht. Den Südküsten-Amis mutet man derzeit auch nicht Pratajevs abgewandelten Text „Als das Öl kam so plötzlich“ zu. Soviel Pietät muss sein, mehr Konzert darf sein und es wird eine lange, wasserrauschende Nacht werden. Mündend im feierlichen Beginn des „Internationen Katzentages“.

Nächtens wird die Elbe weiter steigen und damit drohen, die Hofnacht vollends zu bewässern. Mit ungeschätzten Promillewerten muss sogar der Bus noch in Sicherheit gebracht werden. „Hinauf, hinauf, alles muss hinauf“, wird man’s durch die Gegend schallen hören. Bis in die Querbar hinein. Auf einen Schlafschlummertrunk unter Trunkenen. Nass, wie sie alle sein werden. Von oben, unten und erst recht von innen. 

17.September 2010, Berlin/Schokoladen  
Erneuerbare Energien (209) 

Unmittelbaren Uhrzeigern kann man durchaus feindlich gesinnt sein; grimmiger Fatalismus breitet sich im Tourauto aus. Berlin will partout nicht in die Nähe des Geschehens rücken; das oder besser der Schokoladen in Mitte schon gar nicht. Hunderte Polizeiwannen stehen Pate im Stau. Sei es vorm Herrenklo der Raststätte Fläming, sei es am Berliner Ring. Denn morgen erwartet die Hauptstadt 100.000 Demonstranten zur Umzingelung des Regierungsviertels gegen garstig blühende Atomlandschaften.

Dabei bringt die dafür verantwortliche, derzeitige Bundesregierung bereits genügend erneuerbare Energien in Umlauf. Das heiße Reden schwingende Unternehmerwindrad Westerwelle (no one can reach me the water) sei hier ebenso erwähnt wie der pharmafreundliche Gesundheitssolarpark Philipp Rösler oder die Biogasanlage Merkel. Doch genug der wohlfeinen Empörung, denn dies ist immer noch ein Kohlekraftwerk, nein, ein Tourtagebuch. Darin spielt sich anderes ab. Nämlich die Musik der Russian Doctors, das trinkfreudige Andenken Pratajevs und all die Dinge, die nebenher passieren. Dinge, die zum Nachdenken anregen (in welcher Stadt gab’s die meisten Schnäpse auf die Bühne gereicht?), Momente, die unvergessen bleiben (wo ist eigentlich der Hotelschlüssel?), Erlebnisse, die vorhersehbar sind (immer diese Strafzettel in Berlin am nächsten Mittag) und Abenteuer, von denen die Jungs und Mädels von TKKG oder den drei Fragezeichen kaum zu träumen wagen – meistens mit einem Happy End versehen: „Herr Doktor, wir sind nur zwei Stunden zu spät dran, 4 Stunden Leipzig-Berlin, das ist Rekord.“  Weniger mit einem Worst Case: „Sie haben im Hotelzimmer geraucht!“ Kurzum: detailverliebtes, unvergessenes, mit großem Dank ans Publikum und die Veranstalter versehenes Glück.

So geht es dann gleich vom Entfernungspunkt Parkplatz (siehe Strafzettel) mit Sack und Pack auf die Bühne, ein rasches Astra wird gekippt, Sound- und Lichtcheck folgen den Kartonpizzas (meine Güte, wie notwendig! Dass die Verantwortlichen im Schokoladen aber auch jeden Wunsch von den Lippen lesen können). Selbst die oftmals bange Frage: „Kann der Mischer das Intro über die Anlage abspielen?“ verraucht, bevor sie erst gestellt wird. Noch schnell ein Anruf im Hotel: „Wir sind dann so gegen zwei in der Früh da“ (von wegen: halb fünf wäre näher dran gewesen) und schon füllt sich der Bürgersteig vorm Club, verteilen sich Astra-Biere und Mixturen, beginnt der Einlass mit dem Treffen feinster Freunde. Ah! Eademakow, Hendrik, die Fanclubs Potsdam I und II (danke, Robin nochmal für die herzensgute Faltratte nach einem Modell des französischen Meisters Eric Joisel) trudeln ein. „Oranienburg fehlt noch“, sagt ein Doktor dem anderen. Oranienburg wird vermisst. Denn hätte das fehlende Auto aus der ehemaligen holländischen Enklave den Weg geschafft, wäre das Schokoladen wirklich bis auf den letzten Stehplatz gefüllt gewesen. Will heißen: So pickepackevoll war’s bei den Doctors in Berlin zuletzt 2006. An der Demo morgen kann’s kaum liegen, denn ein Demonstrant muss bekanntlich morgens früh aus den Federn. Ein Unterfangen, welches nach einem Doctors-Konzert nahezu unmöglich erscheint. Sei’s drum.

Pratajevs Doktoren spielen sich in den nächsten Stunden den Fatalismus der Anreise aus den Poren. Deospray muss gar verteilt werden, leckere Schnäpse stranden am Bühnenrand, setzen erneuerbare Energien frei, und selbst der Kiezschläfer zu Pichelsteins Rechten erwacht „Beim Bücken“, rollt die roten Augen und kann nicht glauben, was er hört und sieht. Ob es zwischendurch eine Pause gab, lässt sich kaum mehr nachvollziehen; Makarios führt den Abend letztlich an die wohlverdiente Schnapsbar und Pichelsteins Finger müssen eisgekühlt werden. Schlapp wie eine Luftmatratze nach drei Tagen Festival hockt man da und wieder einmal nährt sich der Gedanke: Was bei Tage furchtbar ist, wird durch Pratajev am Abend schwer belohnt. Dafür gibt es ihn, dafür war er da und bekannt, unser großer, russischer Dichter mit dem gelben Zettel in der Hand. Vielleicht war der Zettel auch weiß oder ein Schnapsglas oder ein Schlips aus Lurch oder eine sehr junge Schwesternschülerin. Wer will das schon so genau wissen, morgens, wenn sich der Hotelpage fragt: Wo bleiben denn bloß meine Russian Doctors?      

18.September 2010, Schwerin/Zeppelinbar   
Offenporiger Asphalt (210) 

„Saubamachen?“ Es klopft knöchrig an der Hotelzimmertür. Immer wieder und spricht darunter asiatisch. Auscheckzeit im knappen, nahen Westteil Berlins; Doktor Pichelstein duscht derweil noch in einer eher meditativen Geschwindigkeit. Dabei ausgeführte Yoga-Verrenkungen sind indes weniger meditativ gemeint, sondern dienen in erster Linie der Orientierung mitsamt der gern gestellten Frage: „Wo bin ich hier eigentlich?“ „Nicht in der Musikerwohnung des Schokolandens“, beglückwünscht dazu das innere Gemüt. Denn besagte Unterkunft ist eher etwas für Bands, die ihren Meister beim Nachtpullern suchen. Und nicht nur ob des langen Kloweges wandernde Hämatome und Schmerzen davontragen. Derartige Wege während einer Tour wurden bisher im Reisebuch der Russian Doctors noch nie beleuchtet. Das wollen wir mal ab heute ändern und verweisen auf diverse, diesbezügliche Abenteuer der Bands Die Art vs. Wissmut. Wenn Doktor Makarios im Tourauto plötzlich herzhaft mit Lachen und Niesen zugleich beginnt, steckt ihm nämlich meistens eine solche Anekdote im Hals. Keine wollen wir hier erwähnen, fragt die ARTigen da mal besser selbst.

Ein Frühstück für 15 Euro kann kein gutes sein, also hinaus aus dem Hotel. Hinunter in die U-Bahn, wo der Handy-Empfang kurzwelliger wird. Der Fanclub Wismar will wissen, wo die Doktoren heute aufspielen und wann’s los geht. „Schwerin“ lautet die nahelegende Antwort, „Zeppelinbar.“ Allein das Aussprechen dieser beiden Wörter weckt wohlige Erinnerungen ans letzte und ans vorletzte Jahr. Übrigens fand 2009 dann doch ein morgendlicher Klosuchweg statt; er endete (bekanntlich) mit wüsten Beschimpfungen eines voyeuristischen Nachbarn. Die Sonne schien und warm war’s; heute kühlt es sehr. Und später, auf dem Berliner Ring, fängt’s sogar zu regnen an. Ganz Brandenburg ist ein einziges, überlaufendes Fass Regen; nur manchmal erleuchtet sich der Himmel darüber und trägt hellgraues Zellophan. Der Weg führt über eine Teststrecke. Über offenporigen Asphalt. Hui, mag man da denken. Offenporiger Asphalt! Das klingt schon irgendwie nach Betonkrebsabwehr, nach früher Gesichtspflege des derzeitigen Außenministers, ist aber nur eine „spezielle Art des Asphaltbetons“, die in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Auch: Dränasphalt, Flüsterasphalt oder lärmoptimierter Asphalt genannt. Wobei beiden Doktoren das mit dem „Flüsterasphalt“ am besten gefällt. „Komm, mein Doktor, lass uns nur noch über Flüsterasphalt fahren. Dann machen wir weniger Lärm.“

Wie schön. Kaum von der Bahn runtergefahren, scheint die Sonne wieder. Bächlein fließen an Minen- und Munitionsgebieten vorbei. Landmaschinen gewinnen alle Oberhände, die Wälder sind alt und gut gemischt. Pilzgebiete türmen sich auf in ländlicher Gegend. „Ah! Steinpilze“, denkt Doktor Makarios. „Pause machen“, hingegen Doktor Pichelstein. NDR 2 liefert die passende Bundesliga dazu. Reporterin Sabine Töpperwien wird erst später vom Sender hinzugeschaltet; die schreit bis zur Schlusskonferenz nur für den WDR. Das ist gemeinhin wichtiges Wissen! Denn Frau T. ist so etwas wie die schreiende Naddel unter den Bohlens dieser Fußballwelt. 

Während Doktor Makarios samt Pilzkörbchen im groben Dickicht entschwindet, liegt Doktor Pichelstein im Auto, zieht ab und an eine Gitarrensaite auf und beobachtet all jene Wanderer, die ihn umso misstrauischer beobachten. „Hm, wie passt das zusammen? Sitzt einer hier im Auto aus Leipzig am Waldrand, hört Radio und fuchtelt mit einer Gitarre herum?“ Übrigens lautet der Standartsatz in strukturschwachen Regionen, was die kameraeske Boulevard-Aufbearbeitung von Mord und Totschlag á la „Der Raucher von Bolwerkow“ betrifft: „In dieser Gegend! Nein, das hätte ich nie für möglich gehalten. Das liest man doch immer nur über die Großstadt.“ Von wegen. Selbst Pratajev wusste es als Agrarromantiker besser.

Dann aber wird städtisch vorgefahren, das Schloss hinter sich gelassen, im Wurm (so heißt das quirlige Gebiet um die Zeppelinbar tatsächlich) gehalten, ausgestiegen. Die Knie schlottern ein wenig, der Lange raucht vor der besten Schnitzelbar der Welt und das Hallo ist sehr groß. Wie wunderbar, wie gut. Die einzige Frage, die jetzt noch bleibt, ist folgende: Erst den Schnitzelteller verputzen oder vorher einen Willkommensschnaps kippen? Nur Schwerenöter finden auf sowas keine passende Antwort. Sie lautet natürlich: Beides zugleich. Los geht’s mit dem Konzert erst in 3 Stunden. Wer jetzt ins Zeppelin rein darf, sollte vorher schlau gewesen sein und reserviert haben. Alle Tische sind belegt. Einer davon gebührt den Doktoren bis zum nächsten Tisch und der verortet sich wenige Ecken weiter. Volle Kaffeetassen nebst Astra im Alternativcafé, Ecke Ergo-Versicherungsgruppe. Leicht fallen die Augen zu, auf geht’s und zurück, von Null auf Hundert. Gar nicht so einfach.

Des Langen Assistentin gemahnt zum Bühnenaufbau, der Mischerchef selbst bleibt cool wie immer. Ob’s diesmal wieder ein Konzertglas voll Wasser gibt? Und dann kommen sie beinahe alle wieder, die Freunde, das Publikum vom letzten Jahr. Und haben ganze Nachbarschaften in Mittäterschaft gezogen. Vor lauter, feiner Konversation gerät der Soundcheck leicht ins Hintertreffen. Ukrainischer Schnaps wird vorm Zeppelin bereits in Plastebechern gereicht. Oder ist es russischer? Beschwingt davon versuchen Doktoren beim Intro Haltung einzunehmen. „Hier sind sie, The Russian Doctors…“ Doktor Pichelsteins Finger, ob der gestrigen Schlacht im Schokoladen mit Fixomull versorgt, halten Schritt und rasen davon. Makarios ringt mit der Stimme und alle damit ein. Der Lange macht einen Superjob und tatsächlich: heute gibt’s kein Wasser, sondern Vodka. Und diese ersten Gläser werden beileibe nicht die letzten sein. Der Applaus ist stets warmer Regen auf offenporigem Asphalt, die Pause ein Zuckerbrot und die Peitsche schwingt mit. Bis zum Schluss im rappelvollen Club. Bis gar nichts mehr geht, so etwa drei Stunden später. Doch die Schnapsbar führt die Siechenden dann wieder ans Licht.        

Am nächsten Mittag, in der Pension, weiß keiner der Doktoren dem anderen ein entsprechendes, nächtliches Kloabenteuer zu berichten. In solchen Fällen sprechen die Experten von einem „reibungslosen Verlauf“.  

24.September 2010, Chemnitz/Subway to Peter    
Die wirklich wichtigen Nachrichten (211) 

Die wirklich wichtigen Nachrichten kommen nie in den Nachrichten vor – das ist eine alte Weisheit, die beiden Doktoren häufig zur Last fällt. Denn hätten beispielsweise die Tagesthemen erwähnt, dass Chemnitz bis auf Weiteres aus Leipzig nicht wie gewohnt zu erreichen ist, sprich: Die Bundesstraße 95 nur noch autobahnbauverzögerte Makulatur ist, wäre der Tag ein wenig heller gewesen. Doktor Pichelsteins Miene ist eh nicht freudig verstärkt, zumal die Abfahrt vom Labelbüro der Doctors einer stauenden Wiederholungsschleife anheimfällt. Bestenfalls betrachtet man es so: Der Auspuff am Tour-Audi hätte niemals den bis dato noch unbekannten Wald- und Wiesenwegen (den Begriff der „Landstraße“ wollen wir lieber außen vor lassen, denn hiesige Beton- und Kopfsteinausläufer verdienen diese Note kaum) gen Chemnitz stand gehalten. Nur gut, dass die wohlfeine Tourbelegschaft auf den hinteren Sitzen so gute Ohren hat. „Es klappert, es klappert immer lauter unter mir!“ So wird eben umgesattelt auf den Bus portugiesischer Herstellung. Wie gut, dass der noch auf dem Hof steht und in (wiederholt) rekordverdächtiger Zeit von zwei Stunden schließlich das Subway to Peter erreicht. Pichelstein ist ganz grün im Gesicht. „Schotterschotter, brems, holper, kurvkurv“ – letzte Beschreibungen einer unrühmlichen Andacht verdingen sich im Kurzzeitgedächtnis. Und selbst der sonst so zuverlässige Gutelaunebär MDR Antennen Sachsen bringt bis zum Schluss keine echten Schlager zum Wohlfühlen und Mitsingen. Nein, Evergreens auf Englisch stehen heute auf der Abendplayliste Wie furchtbar. Wie schrecklich. Da kann jetzt nur noch das Subway helfen, ein kaltes „Breschnew-Bier“ aus Uwes Kühlschrank, dazu ein Schnaps und gefühlte zwei Minuten Soundcheck. Und natürlich ein volles Subway, angeführt von den Fanclubs Karl-Marx-Stadt, den Pratajev-Freunden der Fliehenden Stürme, den virtuellen Freunden, die in Echtzeit viel besser, schöner und manchmal auch genauso gut aussehen. All das mag bitte in Erfüllung gehen.

Unter Nudeln, denn „1000 Nudeln durchbohren mein Herz“ hat Pratajev mal gedichtet, mischt sich Salat. Doktoren lutschen darunter hinaus warmes Tofu, Pichelstein ist noch immer grün im Gesicht. Aber diesmal liegt’s am Thekenlicht, bald wird‘s verschattet durch einkehrendes Publikum. „Das Projekt der Musiker Makarios, ex-Frontmann von Die Art, und Pichelstein vertont die Lyrik des fast vergessenen russischen Schriftstellers Pratajev. Eine Trash-Pop-Lesung mit schwarzem Humor und in atemberaubender Geschwindigkeit vorgetragene Heimatlieder, untermalt durch Gitarrengewitter (…)“  trinkt sich derweil warm am okkupierten Stammtisch der Pratajev-Freunde KMS und ein Doktor fragt den anderen, ob er bereits bei Die Art wieder gekündigt habe. „Nein, mein Doktor“, beruhigt Makarios, „hab ich nicht.“ Obwohl’s im Stadtmagazin, dem innovativen, eloquenten (um diese beiden Fremdwörter einmal gezielt einsetzen zu dürfen) „Stadtstreicher“ auf Seite 72, Heft 0910, genauso geschrieben steht. „Die wirklich wichtigen Nachrichten kommen nie in den Nachrichten vor“, entgegnet Pichelstein und erntet Zustimmung.

Die Uhr drückt auf die Tube, es geht auf nach 22 Uhr zu, die Erfüllung naht, das Intro lässt sich via Hausanlage großflächig einschalten, Uwe sei Dank. „Hoffentlich reicht heute der Vodka-Vorrat“, genau das mögen sich viele deren denken, denen der Tagesbefehl: „Doctors mit Schnaps töten“ noch vom letzten Konzert der Erben Pratajevs im Subway in Erinnerung geblieben ist. Doch heute, tata, ist vor allem Doktor Pichelstein auf der Höhe. Obwohl er selbst nicht weiß, warum. Am Tofu kann’s wahrlich nicht liegen. Oder vielleicht doch – schließlich besteht vegetarisches Lutschvergnügen in erster Linie aus Chemie-Böhlen-Geschmacksverstärkern. Und dagegen bildet NUR klarer, reiner Schnaps heilende Antipoden.

Nur zweimal fällt für Sekundenbruchteile der Strom aus, das ist Minusrekord der letzten Konzerte hier. Vielleicht hülfe etwas Kontaktspray, etwas Isolierband der Technik weiter. Aber privjet! Alles geht weiter und alles wird gut, nein, bestens, denn Chemnitz sitzt nicht geschlossen vorm Freitagsfernseher und hört die wirklich wichtigen Nachrichten nicht, die es eben nicht gibt. Nein, das Subway ist rappelvoll und die Zustimmung prasselt aus allen Ecken prächtig gen Bühne. In der Pause grünt Doktor Pichelstein diesmal vor Glück und gönnt sich den stillen Moment eines Franz-Beckenbauers beim WM-Sieg 1990. Außerdem ist der Weg zur Schnapsbar viel zu weit und weiterhin außerdem stehen jetzt schon 14 halbleere Vodkagläser hinter ihm. Das Motto lautet: „Heute wird genippt und nicht gekippt“.

Doch keine Sorge, nach dem letzten Akkord, der letzten Zugabe und der Weltpremiere des Karussellführerliedes „Der Starke“, sind alle Gläser blankgezogen. Mehr kann kaum berichtet werden, denn am Ende sitzt man wieder dort, wo der Abend begann. Schwitzend, rosarot im Gesicht, Kirschschnaps verkostend, glücklich. Bleib uns noch lange erhalten, Subway to Peter in Chemnitz und kommt alle ja wieder beim nächsten Mal. 


25.September 2010, Zernsdorf/Privatparty     
Draußen zu Hause (212) 

Dankenswerter Weise ruhten Doktoren nächtens in pflegerischer Umnachtung, nein Unterkunft, denn die Umstände mit der Umnachtung betrafen lediglich Doktor Pichelstein, der mal wieder mit einem nächtlichen Kloweg in Konflikt geriet. Was ihn letztlich ritt, schweren Harndranges ins Schlafzimmer der Gastgeber vorzudringen, um dort sukzessive gar an den Jalousien zu ruckeln, lässt sich selbst beim Frühstück nicht vollends aufklären. Das gastgebende Helsingirl war aber dann so freundlich, sich des Pichelsteinchens anzunehmen und führte es gekonnt eine richtungsweisende Tür weiter. An dieser Stelle nochmals vielen Dank dafür. Zur Belohnung gibt’s Freikarten fürs Pratajev-Fest am 04.11. in Leipzig. Die müssten noch auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer liegen. Nicht auszudenken, was alles geschehen könnte, würde man die Doktoren mal in einem Camp am Hindukusch spielen lassen. Schlagzeile: „Leipziger Musiker auf Klosuche von Taliban gefangengenommen. Hohe Lösegeldforderung. KT Guttenberg reist in die Region. Bin Laden zu Verhandlungen bereit. Vermummte al Qaida-Kämpfer bringen Video-Botschaft beim Sender al dschasira heraus. Doktor Pichelstein hockt mit verbundenen Augen und einer Erlenholzgitarre auf dem Boden und muss das Lied „Tote Bundeswehrsoldaten im Wind“ singen.

Doch zurück zum Tagesmenü; heute geht es nach Zernsdorf, Richtung Berlin, genauer: Richtung Königs-Wusterhausen, Schönefelder Kreuz. In brandenburgische Idyllen, welche sich eigentlich nur durch die Auswüchse einer in gewissen Kreisen beliebten Bekleidungsmarke trügen könnten. Doch wir wollen das mal nicht näher kommentieren und in seiner Gänze kaum überbewerten. Denn, betrachtet man solcherlei Chosen auf Realitätsebenen, haben wir es hier mit überteuerten Stofffetzen zu tun, deren augenscheinliche Symbolik die Guten von den Bösen trennt und die damit Handelbetreibenden schwerstens reich macht. Über die Outdoor-Firma Jack Wolfskin lässt sich – unabhängig vom politischen Standpunkt – ähnliches berichten. Wer meint, in einer 200 € teuren Labeljacke draußen zu Hause sein zu müssen, bitteschön, der soll das tun. Trotzdem sei es gestattet, mit spöttischen Fingern auf die wettergestählten, generationsübergreifenden Tatzenträger (gerne an der rauen Ostsee im Partnerlook) zu zeigen, sie anzulächeln und mit einem zünftigen „Aha, mal wieder draußen zu Hause“ zu begrüßen.

Zwischenstation „Adams Gasthof“, Markt 9 in Moritzburg. Sauerbraten für den Makarios, Wildgulasch für den Pichelstein. Die Kellnerinnen sehen um drei Uhr nachmittags mittlerweile so aus, als wäre es drei Uhr nachts. Kein Wunder bei dem Andrang aus Schloss- und Pferdefreunden, die sich hauptsächlich aus Touristenbussen rekrutieren. Nach ersten Schätzungen fühlen sich mindestens 40 % der älteren Semester heute draußen zu Hause. Wind weht, Regen fächert, nichts wie zurück in den Tourbus, die Bundesligakonferenz hat schon begonnen und endet mit der Frage: Warum führt Google maps sämtliche Zielfindungsbesucher der Karl-Marx-Straße auf eine Piste namens „Am Erlengrund“? Hat Google maps etwas gegen Karl-Marx? Steckt einer dieser Unternehmerstammtische der FDP dahinter? Kann uns das mal jemand erklären? Mit Sicherheit nicht. Also steuert Doktor Pichelstein, auf Geheiß seines Sangesdoktors, die Sackgasse „Am Teich“ an. Erkundigungen beim heutigen Konzertgastgeber müssen eingeholt werden. Kalf ist gleich dran und wenig später ist das Ziel erreicht. Ein Haus am See, mit Steg, mit einem echten Angler in der (bald schon) Dämmerung. Der Fang wird zwar nicht subito zur Suppe verarbeitet, sieht aber prächtig aus. Schön ist’s hier und weil’s draußen regnet wird der hochgastfrequentierte Partyabend nach drinnen verlegt. Quasi in die Küche des Hauses. Technik steht bereit, Bierchen ebenso, Kinder jagen der Katze nach und „Die schöne Welt“ ufert aus, beschwingt den Abend, lädt ein zum Soundcheck, zur Soljanka, zu russischen Brotaufstrichen.

Die Bühne ist eingekesselt von zwei Schnapsbars. So spielt es sich wahrlich gerne in mehreren Blöcken. Zwischendrin brennt das Lagerfeuer draußen aus Mischwald, wird Pratajev für alle wieder lebendig, denn genauso mag es in den 50er Jahren gewesen sein. Früh fallen erste Gäste um, feiern die beiden possierlichen Ratten im Käfig mit, halten die Konzertkinder bei Liedern wie „Gefesselt“ besser mal die Ohren zu. Zernsdorf, du Idyll am Speckgürtel Berlins. Deine Kalf-Familie, dein See und auch deine Schuhberge vor den Türen werden uns immer in wahrer Erinnerung bleiben. Darauf eine prächtige gute Nacht. Morgen geht’s zurück nach Leipzig. Noch ein letzter Balkonschluck auf einen wundervollen Tag und Abend. Draußen zu Hause. Drinnen aber noch viel lieber.        

08.Oktober 2010, Braunschweig/Riptide   
Der Tag des Eies, an dem die Integrierten gegen die Nichtintegrierten Fußball spielen, das Riptide erfolgreich dagegen hält und Kräutern aus dem Wolfenbütteler Wald der schluckreiche Garaus gemacht wird  (213) 

Viele Wörter mit einem „au“ vorne dran rücken den heutigen, internationalen Tag des Eies ins rechte Dotterlicht. So ist man ausgeschlafen, ausgeruht, weil tags zuvor wenig ausgetrunken wurde. Selbst einem Auffahrunfall auf der hoch frequentierten Autobahn 2 entkamen die reisenden Doktoren durch rasches Aufmerken; Doktor Makarios‘ O-Ton: „Die zieht rüber, die in dem blauen Bus zieht rüber“, lässt Doktor Pichelsteins Turnschuh rechtzeitig auf der Bremse landen. Der Audi dreht ein wenig ab, kracht aber nicht in den Kühllaster aus Bulgarien vor ihm. Manchen Menschen sollte das Autofahren von Geburt an verboten werden. Darüber hinaus sollte dieses Verbot auf Generationen hinweg vererbt werden. Das wäre doch mal was, au au.

Thorsten Beiderbeck schreibt in einer gnadenlos trefflichen Rezension auf den   „Entdeckungs- und Empfehlungwebseiten QYPE“ über das Braunschweiger Café Riptide folgendes: „Entspannte Atmosphäre (und es gibt ClubMate).“ Mehr fiel Herrn Beiderbeck seinerzeit nicht ein, außer, dass er dem Riptide im Nachclick einen Viersternestatus verpasste. Aber was bitte ist ClubMate? Lässt es sich trinken oder handelt es sich dabei um eine subversive Bedeutungsschwangerschaft? Doktoren jedenfalls fahren vor, erkämpfen einen dieser raren Innenstadtparkplätze mit Strafzettelgarantie; die Riptidler werden begrüßt und die Freunde ist trunken, als Verleger Wallgold II jun. mit einem Bauchladen voller Bücher um die Ecke biegt. Um diese Zeit, kurz vor 20 Uhr. Welch‘ Einsatz für die Autoren des Verlages Andreas Reiffer. Das loben wir uns, das macht kein herkömmlicher Verleger nach. Herr Reiffer war es auch, der den Kontakt ins Riptide herstellte. Dafür gebührt ganz besonderer Dank auf einer Welt, die so klein ist, als wäre sie ein rundes Ei, umschwirrt von Sternen und Monden aus Salz. Denn kaum ist der Soundcheck getan, schäumt das leckerkehlige Rotlicht-Astra als Rinnsal zum Flusse, begegnet Doktor Pichelstein einer ehemaligen Chefin aus Münster. Vor elf Jahren verlor man sich aus den Augen und auf die Frage: „Was machst du denn sonst noch so?“ - nachdem sich die Vorgängerfrage: „Was machst du denn so?“ erledigt – erläutert Doktor Pichelstein das Pratajev-Universum und erntet wie so oft ein wenig Ratlosigkeit der Folge: „Hm, Pratajev, hm, aha. Russischer Dichter, soso.“

Großflächige Konkurrenz weht die Doktoren am heutigen Tag an. Ob’s dennoch voll wird? So spielen um Gunst und Aufmerksamkeit gleich die Integrierten gegen die Nichtintegrierten Fußball (Ausnahme: M. Özil, späterer Torschütze zum 2:0) im TV und im Berliner Olympiastadion. Wobei man sich diesbezüglich durchaus fragen sollte, ob nicht haufenweise Bürger deutschen Migrationshintergrundes ein so genannter „Integrationskurs“ feat. „Integrationstest“ (bekannt durch Funk, Fernsehen und Thilo Sarrazin) auf Dauer und Erträglichkeit gut täte? Schließlich hängt die Grundlage staatsbürgerlichen Lebens und jedes verantwortlichen Handelns in einem Gemeinwesen von der Kenntnis grundlegender Fakten eines Landes ab. Wenn dem so ist, dann beantworten Sie folgende Fragen: Wie viele Einwohner hat Deutschland? Wer oder was ist ClubMate? Nennen Sie drei Flüsse, die durch Deutschland fließen! Nennen Sie drei deutsche Mittelgebirge! Wie viele Bundesländer hat die Bundesrepublik Deutschland? Nennen Sie sieben Bundesländer und ihre Hauptstädte! (Quelle: Integrationstest des Landes Hessen, außer: Frage 2) Setzen, sechs, ausweisen. Der nächste bitte.

Doch hinfort, du Politik des Schreckens. Und hinein in die Bühnenecke, unweit der Schnapsbar im Riptide. Platten und CDs im Nacken, viel Publikum vor der Gitarre und vor den Mikros. Gut so, sehr gut. Damit war kaum zu rechnen und es dauert nicht lange, dann fängt Doktor Makarios sie alle ein. Mit Wortgewalt, mit Pratajevs Texten, den Zwischenrufen und Gitarrengewittern des Ärztekollegen Pichelstein zur Rechten.

Es wird eines der kürzeren Konzerte, weil nach 23 Uhr die Hörrohre der innerstädtischen Nachbarschaft mit den Blaulichtern der Braunschweiger Polizei kurzgeschaltet werden. Und so geht’s nach etwa 1,5 Stunden bereits wieder an die frische Luft. 3:0 besiegte mittlerweile Deutschland die Türkei, Eberswalder Veterinäre stoßen auf Doktor Kuhin an, Pratajevs liebsten Tierarzt. Und sowieso geht es allen wie der Kuh heute Abend. Denn der Kuh geht’s gut. Und denen, die davon singen, ganz besonders. Auch noch in der Früh, am Frühstückstisch des Verlagshauses. Auf dem die Flasche mit den Kräutern aus dem Wolfenbütteler Wald stetig leerer wird.     

09.Oktober 2010, Weißenfels/Vodkaria im Schloßcafé   
„Ihr seht aber scheiße aus!“ (214) 

Doktor Pichelstein blinzelt verschlafen in die pralle Sonne, Doktor Makarios ist schon länger auf den Beinen, respektive auf der Verlegerterrasse, und man resümiert, freut sich über das Glück des gestrigen Abends. Ein Westbesuch, wie er lange nicht war, muss bald zu Ende gehen. Die Kniee schlottern ein wenig, der gebrühte Automatenkaffee mundet am Lachsbrötchen. Ja, den Erben Pratajevs geht’s mal wieder ganz schön gut. So wünscht man sich das Beste beim Abschied im Meiner Verlagshaus und fragt sich, ob Herr Reiffer nicht bald – ob der vielen, schönen Buchvorräte – anbauen sollte. Vielleicht eine schmucke Dependance in Leipzig gründen? Das wäre doch was. Aber nun; Strafzettel von der Windschutzscheibe genommen, über A2-freies Gebiet, über Bundesstraßenland, durch den Harz geht’s weiter im Toursegen gen Weißenfels. Der freundlichen bis trinkfreundlichen Stadt im anhaltinischen Teil Sachsens (wie böse, königstreue Zungen behaupten).

Zwischengestoppt wird in Leipzig, da ist die große Radio-Antenne-Schlagerparade des heutigen Samstags bereits Geschichte. Sind die herbstlichen Hits von Helene Fischer („Von Null auf Sehnsucht“) oder des bemerkenswerten Frank Ramond („Das war doch gerade neulich“) bereits Ohrwürmer von gestern. Wobei vor allem Doktor Makarios folgende Textzeile des Künstlers Ramond (wird zumindest auf Radio Antenne französisch ausgesprochen, ja ausgehaucht, du liebe Güte!) „Ich war zu jedem Scheiß bereit. Und schrieb im Keller ein paar Schnulzen. Die eine traf den Nerv der Zeit (…)“ in großes Staunen und Raunen versetzt. Großer Text, viel Gefühl und Information, möchte man meinen. Aber da beide Doktoren nicht eben über gemütliches Kellerinterieur verfügen, dort selbst eher das steht, was einst einem widerstehlichen Touch an Unbrauchbarkeit anheimfiel, sind auch in Zukunft keine „im Keller geschriebenen Schnulzen“ der Russian Doctors zu erwarten. Obwohl derlei Schmalz und  Gehauche sicherlich den Nerv der Zeit treffen könnten. Es folgt eine kleine, ideenbehaftete Auswahl: „Die feuchte Schimmelwand“, „Eine Assel am Mittag“, „Ein Sommer mit vier Reifen“ oder „Die vergessene Matratze“.

Weißenfels wird in anbrechender Dunkelheit erreicht, unten rattert der Kopfstein, oben flattern Pappplakate mit der Posterdraufschrift: „Die Russen kommen“. „Damit sind wohl wir gemeint“, sagt ein Doktor dem anderen und nickt sich wissend selbst zu. Dawei, dawei, dann nichts wie hinein in die Vodkaria des Schloßcafés - der Empfang ist riesig. Es gibt Vodka zur Begrüßung und Vodka zum Essen und der Tisch darunter biegt sich. Gefüllte Pelmeni, russischer Streichquark, Senfgrukenhäppchen und immer wieder Vodka. Zur Verdauung, Appetitanregung, zum Anstoßen. Unter Fotobeschuss liegt der Vodkaria-Sowjet; Kommandant Berlin hat den Laden im Griff. Leicht schwankend wird nach diesem Frontalangriff aufs helle Köpfchen die Bühne aufgebaut, läuft der Soundcheck wohlig am Rücken herunter, wird’s voller und voller an der Schnapsbar. Plötzlich jonglieren sich Eisblöcke mit Hammer- und Sichelgravuren auf den Tischen, werden darin vielsortige Vodka-Flaschen platziert, sogar eine Vodka-Lutscheisbahn zeigt Statur. Zeit ist es, das Konzert alsbald zu beginnen, sonst wird’s ein Schuss nach hinten. Schüsse nach vorne, in offene Münder, die sich zeitgleich am Absingen der russischen Nationalhymne versuchen, fallen auch; doch ist die dafür zuständige Kalashnikow aus durchgekühltem Glas. Drinnen schüttelt sich das Vodkamagazin und die Feldmänner legen los.

Vor lauter Schnapsseligkeit dauert’s tatsächlich ein wenig, bis auch der Letzte im Saal begreift, dass die Musik nun live spielt. Davon schließlich beeindruckt wird der Vodka von russischen Matrosen auf die Bühne gereicht. Die Gläser sind kopfwärts gefüllt. Nur sind es keine Gläser, sondern derart genormte Eisblöcke. Herrlich ist‘s, wenn der Schmerz nachlässt. Und die Pause einschlägt. Danach gibt’s wahrlich kein Halten mehr, tanzen die Matroschkas übers Parkett, wird keine Zugabe ausgelassen, stehen knapp 3 Stunden Konzert auf der Habenseite; ein Pusten und Keuchen beider Doktoren ist zu hören, der Weg an die Schnapsbar gerade noch machbar. Dawei, dawei im Gelbfroschtempo. Und aus sicherer Distanz betrachtet wird das Rund der Bar zum Hahnenkämpfchen; unter den Geschlechtern ist einiges zu klären, von dem tags drauf gewiss niemand mehr etwas ahnt. Wie gut, dass Schnaps so vergesslich macht. Vielleicht liegt darin auch ein bisschen Heilung. Aber erstaunlich ist es schon, wenn der eine nicht mehr weiß, dass er nicht mehr mit der einen zusammen ist, weil der andere die jetzt haben will. Nicht der im Holzfällerhemd; der platziert zwar gerade die Hände auf den Po der ganz anderen, doch kommt damit nicht weit, später sitzt die ganz andere auf dem Schoß des völlig anderen und niemand wird sie kriegen. Doktoren geraten auf Beobachtungsposten völlig durcheinander, fragen aber schon mal nach.

„Plopp“, macht das 5-Uhr-Beck’s in der nahegelegenen Pension „Am Klemmberg“ (Motto: „Bei uns liegen sie immer richtig“), wenig später wird besagtes Motto flurwärts durch ein zackiges „Wenn ihr noch frühstücken wollt, dann aber Hoppi Hoppi“ jäh unterbrochen. Also: Marschbefehl zum Speisesaal. Im Flur treffen sich beide Doktoren artig im Nachtkostüm wieder. Doch kaum darin im Speisesaal erschienen – der zudem von einem kichrigen, weiblichen Klassentreffen ab 40 teilbesetzt ist – heißt es vom Buffet her schallend: „Ihr seht aber scheiße aus!“ Tja, was soll man dem entgegen halten? „Das war der Schnaps“, versucht Doktor Pichelstein den hustenden Hauch einer Erklärung abzugeben. Doch die harte Wirtin lacht nur, wie es früher, zum Entsetzen Pratajevs, in Russland mancherorts nicht anders war.

Sehr still wird das Frühstück eingenommen. Aber damit ist es nicht vorbei. „Im Zimmer geraucht!“ fällt sie, die harte Wirtin, wenig später über Doktor Makarios her und mit einem zünftigen: „Zack zack, fertig werden!“ ist Doktor Pichelstein gemeint, der unbedingt noch duschen musste. Was wirklich Not tat. Mit Angst im Genick geht’s zurück zum Auto, nach Leipzig, ins Bett.             

04.November 2010, Leipzig/Fahrradladen Rückenwind, Pratajev-Novemberfest
Dobrij vetscher, dorogie gosti kongressa Pratajewa! Pratajevs Freunde – Tutukins Erben (215) 

Endlich taucht er auf dem schlank gewordenen Kalender auf, der lang ersehnte Jahrestag der Pratajev-Gesellschaft 2010. Noch schnell ein wenig an der Uhr gedreht, schon stürmt’s abendlich durch Leipzig hindurch. Der Herbst macht ordentlich Werbung für sich; güldene Blätter fegen durch die Lüfte und Pratajevs Freunde aus zum Teil weiten Fernen herbei. Die Laubsauger schweigen, friedlicher Feierabend beherrscht den Sektor krimineller Stadtreiniger. 

Mitunter beteiligen sich die Doktoren Makarios und Pichelstein emsig an der Herrichtung des heutigen Rückenwind-Festortes. Es gilt nach Geschäftsschluss Fahrräder aller Couleur in einen Lagerraum zu verbringen. Im Geiste Tutukins versteht sich; jener Freund aus Pratajevs frühen Jahren gab schließlich Ausschlag und Grund genug, das 1. gesellschaftliche Novemberfest eben an einem Ort abzuhalten, an den es einen Radfahrgott wie Tutukin mit Sicherheit zum Stalle gezogen hätte. Im Nu entsteht freie Fläche, baut sich die Bühne davor auf, wird die Dopingbar aus dem Schleußiger Regionalwarenladen von gegenüber befüllt. Bayerisches Hundebier, Wurzener Gerste verkisten sich in Ausschanknähe. Ebenso ein kühlschrankbehafteter Vodkavorrat, der im Laufe der nächsten Stunden einfach verdunsten wird. Bergsdorfer Blutdoping an Russenschokolade schenkt derweil Frau Doktor Manjoschka in Kassennähe all jenen ein, die mit vorbestellten und bestellten Karten hineindürfen. Limitiert wurde der Abend auf 50 Gäste und weil Donnerstag ist, stellt sich bald heraus, wer von ihnen vorab weder Krankenschein noch Urlaub in den Chefetagen eingereicht hatte. Doch lange Gesichter sehen anders aus; es gibt sogar Festteilnehmer mit weitaus interessanteren Gesichtszügen, als sonst. Herr B. aus C. etwa trägt, einer alten Zahnweisheit zum Schuldspruch, mit seinem 1-cm-Lächeln heute besonders dickbackig auf. Böse Zungen behaupten sogar, Tiger Woods hätte ein neues Golfballversteck gefunden.

Der 2009er Forschungspokal der Pratajev-Gesellschaft glänzt neben seiner mit ihm verpartnerten Russensektflasche. Bühnenwärts lagert ebenso das Wappen Leipzig-Schleußigs mit einem eingravierten „M“ für die spätere Auslobung des schnellsten, hiesigen Meister-Akustikgitarristen unter der Schirmherrschaft von Doktor Pichelstein. In der Mitte läutet Doktor Makarios mit einer zünftigen Festrede den Abend ein. The Russian Doctors spielen hernach den „Rotarmisten“, singen über „Männer die am Feldrand stehen“ und warnen mit dem Lied vom „Idyll“ all jene, die sich im Laufe der Nacht noch besonders gut an diesen Wimpernschlag des Tages erinnern werden. Denn wie heißt es im Refrain gleich? „Und hoffentlich muss ich nicht brechen, das könnte sich, wenn es die Mädchen sehen, ganz bitterböse rächen.“ Doktor Pichelsteins Ungeheuerlichkeiten aus den jüngst entdeckten Tagebüchern der Helga „Peitscha“ Bauer folgen im Anschluss, dann gibt’s erneut Doktoren live, im Wechsel mit Makarios‘ zu Tränen der Freude rührender Nachlassentdeckung „Pratajev – Meine Mutter“. Es folgt ein weiterer Höhepunkt: Der durch seine Berichterstattungen in der Haus-aus-Stein-Reihe weit über das erzgebirgische Eibenstock hinaus bekannt gewordenen Pratajev-Forscher Ebergard Arturowitsch Eademakow betritt das tonverstärkte Geschehen und hält – als dritter, ewiger Pokalpreisträger des „Wanderers“ - kühne Publikumsansprache. Welch ein Augenblick; der Gewinn einer Champions Leage ist feuchtes Laub dagegen. So feucht wie der Russensekt, der es geschüttelt in den goldenen Gravurpokal schafft. Erster Sieger im Wettbewerb „Schnellster Akustikgitarrist“ wird, anfeuernde Augenblicke später, Vincent Oley; im direkten Vergleich mit Marc Knochen überzeugte der fidele Gitarrist der Bands Lizard Pool und Zin das geneigte Publikum. Dann ist Pause, Zeit für frivole Geselligkeit, Zeit fürs Klo, fürs Leeren der Schnapsbar sowieso.

Silvi und Stone harren bereits bestuhlt in Steckdosennähe der Dinge, als das Abschlusskonzert der Russian Doctors, samt Wunschblock am Ende aller Zugaben, beginnt. Pratajevs Freunde und Tutukins Erben feiern sich und alle, die heute kommen konnten und durften. Die Party, der Abend, das Treffen mit all jenen, die größtenteils arg weit weg wohnen, nimmt familiäre Gestalt an. Ach, es müsste ständig Novemberfest sein, da wird man sogar ein bisschen wehmütig. Zunächst noch drinnen mit Belegschnitten in Händen, dann draußen, ordentlich gedopt bei frischer Nachtluft. Ja, es ist Herbst und nicht nur die Blätter fallen, auch die Säfte steigen aus den Gallen und wollen einen jungen Mann an langem Haar gen Häuserwand verlassen. Doch Doktor Pichelsteins erste Hilfe naht rasch mit einem Jägermeisterflachmann aus guter Wolfenbütteler Schule.

Dann nichts wie hinein ins Lastentaxi. Frau Doktor Manjoschka stellt eine kleine Reisegruppe zur Straße der tschechischen Hauptstadt zusammen. Herr B. aus C. hadert weiterhin mit den Tiger-Woods-Golfbällen, das Helsingirl bastelt rasch eine Übeltüte aus einem Russian-Doctors-Plakat. Gas gibt der Taxifahrer, hat er doch Angst um seine Polster. Pokalträger Eademakow rettet derweil mit einem erstaunlichen Griff ins Volle die letzte Hundebierflasche vorm Auslauf und am nächsten Mittag ist Freitag, einfach nur Freitag. Es sei denn, der Wecker verlangt etwas anderes von der Welt. Dankedankedanke fürs Dabeisein, lautet am Schluss der Segensgruß.   
             


26.November 2010, Leipzig/Frau Krause
Am Tag als die Jodelkönigin starb (216) 

„The Russian Doctors in Pratajevs Teehaus Protnik“ – welch eine historische Schlagzeile, doch nein. Wir sind im Leipziger Süden, in Connewitz, obwohl die Frau Krause schon stark den russischen Landen entgegen strebt. Vielleicht sind wir auch in Prag, in Žížkov, und nebenan saßen einst die russischen Offiziere vorm Wodka-Knobelbecher. Dies alles im wohlig-poetischen Sinne gemeint, denn wen es dann und wann gen Connewitz zieht, dem sei die Frau Krause in der Simildenstraße als unbedingtes Muss in den Wohlfühlnavigator hineingelegt. „Kaum fassbar, dass wir hier noch nie gespielt haben“, tuschelt ein Doktor dem anderen zu. Dann wird lecker gespeist, geraucht und auf Pratajev angestoßen. Die Bühne steht bereits und nach dem zweiten Becherovka liegt die harte Woche in Scherben. Freitag ist’s und das darf man gerne wörtlich nehmen. Prost, mein lieber Wirt, hier ist’s schön.

Vorweg genommen sei gesagt: Noch in der Nacht wird der liebe Gott die 90-Jährige Margot Hellwig aus Reit im Winkl zu sich rufen, Ehrenringträgerin ihrer bajuwarischen Heimat. Unvergessener Dirndlfrohsinn, Alpenglühen, Sex mit Florian Silbereisen und Psychopharmaka im Lackschuhversteck. Lasst uns eine Gedenkminute einlegen. Doch das geht ja gar nicht. Die Nachricht kommt erst morgen raus und geschichtsträchtig darf deshalb vermeldet werden: Als die Jodelkönig aller Deutschen starb, betrank sich ein feiernd‘ Volk in der prall gefüllten, dicht gedrängten Frau Krause und entließ zwei völlig erschöpfte Doktoren erst nach drei Stunden feinster Arbeit aus ihrem Pratajev-Set. In zwei Gruppen teilt sich besagtes Volk: in jene, die vorwiegend gelben Schnaps verkonsumieren und in jene, die den Rest der Getränkekarte kippen. Und natürlich ist da noch Baumfreund Ekmel, angereist aus der brandenburgischen Heimat Helga Bauers, heute mit einem leichten Hang zur Zurückhaltung versehen. Denn tags drauf, um neun, muss er auf die A9 und Freitag ist morgen leider nicht angesagt.

Nahezu furios jagen Makarios und Pichelstein die Feldmänner, Angler, Ratten, Biber, Katzen usw. durchs Haus. Ein erster, noch schüchterner Schnaps wird galant aus Richtung Merchtisch gereicht. „Aha“, denkt sich da der schwarze Tanzblock zur Linken, „So geht das also.“ Schon fließen die Tablettpinnchen mit dem Feuerwassser bühnenwärts. Zur Belohnung wird erstmals „Jeder Schluck“ in der tragischen Version gespielt. Mit waschechtem Aaaa,ahhh,aahh-Arrangement in den sonst so gitarrenlastigen Mittelteilen. Da bleibt keine Kehle, kein Auge trocken und später sind die Schnapsflaschen derart leer, dass nur noch Eierlikör die Bestände sichert. „Alle Schnapslieder nochmal“, wird verlangt. Gesagt, getan. Geburtstag hat dann auch noch wer und schwer werden die Beine, die Arme, so schwer, dass beide Doktoren gegen Ende des Abends nur mehr sitzen können. Auf Stühlen aus Holz, vor Knobelbechern, Pratajevs Werk verteidigend und wissbegierigen Studenten näher bringend. Der Vorstand der BSG Chemie steht Pate. Was für ein Abend, was für ein Morgen. Frau Krause macht’s möglich. Hoffentlich immer wieder.           

27.November 2010, Frankenberg/Privatparty
Wir ackern und jodeln für Deutschland (217) 

 „Die Jodelkönigin Maria Hellwig ist tot“. Jetzt ist die Nachricht auch im Radio angekommen. Beide Doktoren erfüllt sofort tiefe Trauer, schallendes Gelächter folgt auf dem Fuße. „Jodelkönigin, so ein Unsinn“, ruft Doktor Pichelstein. Und Doktor Makarios entdeckt bereits die nächste Merkwürdigkeit des Tages. Ein großflächiges Plakat nahe Frohburg mit der Aufschrift: Wir ackern für Deutschland – die deutschen Bauern“. Herrlich. Was das Handwerk kann („Am Anfang waren Himmel und Erde. Den Rest haben wir gemacht“), gebührt nun auch den praktizierenden Feldmännern. Da zieht man gerne den Hut, den Obstler gleich mit aus der Tasche. Und ackert und jodelt für Deutschland, dessen schönste Kurven nicht unbedingt mit dem Tourbus zu erreichen sind. Dafür aber Frankenberg bei Kälte und abendlicher Nacht. Sehr nah am Erzgebirge gelegen, wirklich sehr nah, doch zu denen will man sich hier nicht zählen. Vielleicht liegt’s am nahen Weihnachtsfest, an Schwibbögen, Räuchermännchen und Bergmannskapellen. Denn um Weihnachten herum wird das Erzgebirge mit seinen durchaus verschrobenen Kauzigkeiten allgegenwärtig. Besonders eben auf einem budenreichen Weihnachtsmarkt. Ein wahlloser Flecken Erde, den Doktor Makarios wie die Pest meidet und wer Max Goldt kennt, der weiß, dass es dafür einen Zauber gibt. Den Zauber des seitlich dran vorbeigehens. Doktor Pichelstein hingegen fühlt sich sehr zu einem einzigen Flecken Leipziger Duselei hingezogen: Ecke Galerie Kaufhof, dort gibt’s Jahr um Jahr den besten Glühwein und die leckersten Bratwürste in der ganzen Leipziger Innenstadt. Zu erkennen ist der vertäfelte Stand übrigens an seinem Leuchtturm. Wer dort steht und nippend still verharrt, möchte den kleinen und großen Sorgen unserer wohlhabenderen Studenten und Studentinnen höchste Aufmerksamkeit widmen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Welt der Marke FDP wird einfach immer dümmer und scheinbar niemand kann das stoppen. Da ist man lieber zum zweiten Mal im ganzen Leben werktätig in Frankenberg.

Vor drei Jahren gab es hier, in der Feiertischlerei, bereits einen Doktoren-Auftritt und wieder heißt das holde Geburtstagskind Sanne. Um Punkt zwölf werden die Sektkorken deshalb knallen und bis dahin darf man tun und lassen, was einem so behagt. Die edel besetzte Schnapsbar austrinken, lecker futtern, sich an heiß gegrillten Würstchen laben, soundchecken, kuscheln, der Vorband lauschen, sitzen, tanzen, springen. Seitens der Doktoren geschieht dies alles mitunter etwas verlangsamt, Frau Krause lässt grüßen. Schöne Sache, großer Anlass, herrlich! An dieser Stelle schon mal: Vielen Dank für die Einladung, es war den Doktoren ein Fest und Doktor Pichelstein schaffte es gar, am nächsten Mittag den Tourbus wieder heile nach Leipzig zurückzusteuern. Was zugegebener Maßen nicht leicht war und einem spendierfreudigen Herrn Jägermeister angekreidet werden dürfte.

Anders als 2007 muss heute niemand ins idyllige Draußen brechen. Es sei denn ganz klammheimlich. Selbst die Wodka-Gummibärchen-Cocktails richten keinen großen Schaden an und so startet das Pratajev-Set mit allem, was es an Schnaps, Tierliedern, Landluft  und Weibern gemessen, beinhaltet, schwankendschnell durch. Sogar ans „Jägerlatein“ wird sich zurück erinnert, lange nicht mehr gespielt. Und es wird schließlich der Punkt erreicht, an dem Doktor Pichelstein die Gitarre nicht mehr kontrollieren kann. Die Finger wetzen gekonnt übers Erlenholz, als gäbe es kein Morgen (rasch etwas Klebeband drauf, damit sie nicht verbluten), als sei der Titel „Doppelolympiasieger im Schnellgitarrespielen“ noch zu toppen. Der dritte Wodka hat also die Bühne in der Zielgeraden erreicht. Was die beiden Doktoren sich dortselbst dann manchmal zuflüstern, hat etwas folgenden Inhalt: „Mein Doktor, nicht so schnell…“ – „Jaja, beim nächsten Stück…“

Gebremst wird der Rausch mit einer Slow-Motion-Dreifach-Heilung; erstmals präsentiert Doktor Makarios darin die gesungene Version C des „Alten Mütterchens“, dann wird pausiert, werden die Stimmen wieder flott gemacht. Boxenstopp an der Schnapsbar. Kurven, wohin man blickt. Doch Ende gut, alles gut – die letzte Zugabe liegt lang hinter Sannes Ansprache an die Werktätigen von Frankenberg zurück und soll allen in Erinnerung bleiben. An das, was die Russian Docs auch im nächsten Jahr vorhaben, denn nach dem Ausflug an den Rand des Erzgebirges ist erst mal Spielpause bis Januar. Dann wird in Chemnitz wieder geackert. Wenn auch nicht für Deutschland und schon gar nicht gejodelt.                

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