20. Februar 2010, Bergsdorf / Museumshof Mühlenhaupt
Anarchie
mit dem Holzlöffel (193)


Rüsselhundbändiger Baumfreund Ekmel gibt der
Gransee-Zeitung ein erquickendes Erstinterview, dann stehen beide Doktoren
Rede, Fotos und Antwort. Gar nicht so leicht, das Pratajev-Universum mit dem
Gewerke der ARTigen eben nicht zu vermischen. Tags drauf fallen dann den
Brandenburgern um die Gemarkung Zehdenick die Eierlöffel aus der
Frühstückshand: „Anarchie mit dem Holzlöffel“ lautet die halbseitige
Überschrift. Und jeder Feuerwehrmann, der den Pratajev-Abend nicht miterleben
konnte, wird sich mächtig geärgert haben. Denn – was im weiteren Verlauf des
Abends geschieht, ist wahrlich schwer zu übertreffen und wird beim friedvollen
Eselstreicheln am nächsten Tag noch fütterndes Thema bleiben. Leider hat
Pratajev scheinbar keine Eseltexte der Nachwelt hinterlassen, vielleicht lässt
sich da noch etwas finden?
Hannelore, gute Geistin der Kulturstätte und
eben erst aus Portugal eingeflogen worden, ist die Witwe des Malers. Umsorgt
von charmanter Assistenz werden die Doktoren zur Bühne geleitet, warme Worte
erschallen und die Feldsteinscheune ist gefüllt bis auf den letzten Platz.
„Männer die am Feldrand stehen“ ertönt zum ersten Mal in diesem Jahr live auf
alle hernieder und ehe sich die Doktoren versehen, beglücken zwei Brandenburger
Rüsselhundbändiger die Bühne mit einem Fass aus Glas voller Holunderschnaps,
selbst gebrannt. Meine Güte, wie lecker ist das denn? Doktor Pichelstein greift
bei nächster Befüllung gleich zum randvollen Saftglas, nimmt mehr und mehr
Tempo auf, denn es ist ja Olympiade und was die Rodler von Vancouver konnten,
darf ein schneller Erlenholzgitarrist ebenso: sehr schnell sein. Doktor
Makarios hält furios mit, liest aus dem „Raucher von Bolwerkow“, weiter geht’s
im neuen Set und das Publikum gibt gleich zu Anfang Gas. Ja, so kann der Abend
nur gelingen und wird nachträglich gar überschäumen. Im zweiten Konzertblock
nach der Pause, der „Löffel aus Holz“ ist frisch und tosend verklungen, taucht
er in Reinkultur auf. Aber das kann man wirklich nur mit einem Bild davon
beschreiben:
Nach der 4. oder 10. Zugabe-Gemengelage (liebe
Samtmarie, auch du wurdest besungen) muss Schluss sein, der Holunderschnaps tat
sein übriges. An der Schnapsbar, am Merchstand und überall liegen sich die
Menschen in den Armen und haben das ein oder andere Lied der Russian Doctors
auf den Lippen.
21. Februar 2010, Berlin / Duncker
Küssen
macht schwanger, zumindest in Berlin (194)
Morgens hat Doktor Pichelstein ein wenig Mühe
von der Schlafresidenz bis zur Scheune zu gelangen. Die von Doktor Makarios
zuvor eifrig brotgefütterten Eseldamen Coco und Chanel stellen sich an der Tür
quer. Halb drinnen staubt der Haushund eifersüchtige Runden und so flüchtet der
Gitarrendoc schnell Richtung Frühstück, ein einziges Wiehern und Bellen im
Genick.
Gemütlichkeit lässt Zeit vergessen, der
Museumshof ist längst fürs Volk geöffnet, Doktoren müssen durch tauende
Schneelande weiter; ein Gasthof ist das Ziel. Einer, in dem viel meckerndes
Vieh zur Strafe ausgestopft an die Wand genagelt wurde. Brav futtert Doktor
Pichelstein sogar die Salatbeilage der wilden Mahlzeit in sich hinein, Doktor Makarios
indes kapituliert vor den grünen Gaben und wird von der drallen Chefkellnerin
zurecht ermahnt, doch bitte hier und jetzt etwas für die Gesundheit zu tun. Man
habe sich schon etwas dabei gedacht, dem Schussgut der Jäger ein wenig Salat
beizumengen. Doch nein, der gute Geschmack einer Birne an Preiselbeeren möge zum Schluss
obsiegen. Schwerfällig wechselt Doktor Pichelstein im Bus Gitarrensaiten,
draußen taut es weiterhin im kraftlosen Sonnenschein und die Autobahnen nach
Berlin scheinen flüssig vor Dreck.
Vorm Duncker-Club werden gefüllte Kinderwagen
gezählt. Waren es bei letzten Wartereien davor beinahe nur Hunde,
Scheißmaschinen streunender Sorte, die Berlins Ohntier-Gehwegbevölkerung in
Angst und Stapfschrecken versetzten, so greifen diesmal eindeutig und
mehrheitlich die Kinderwagen junger Väter und Mütter ins abendliche Panorama
ein. Besagte Hunde hatten einige Wochen zuvor die Duncker-Gegend ordentlich
gedüngt, Schnee und Eis konservierte die Kacke; im Tauwetter glänzt sie wieder
wie frisch gelegt. Und die Kinderwagen schieben kreuz und quer daran vorbei. Es
müssen Hunderte sein. Doktor Makarios mutmaßt sehr logisch, dass junge
Berlinerinnen mittlerweile selbst beim Küssen schwanger werden. Doktor
Pichelstein spricht von stattlichen Fickprämien, sprich Elterngeld, die für den
Gebärschub verantwortlich sein könnten. Ach und wie sie alle telefonieren, weil
sie von Freundinnen kommen, die auch alle beim Küssen schwanger wurden. Wie sie
ins Handy rufen: „Es war so schön bei euch!“ Man muss kein Pratajev-Kundiger
sein, um zu ahnen, wohin das alles noch führt. „Der Raucher von Bolwerkow“ hat
es allen vorgemacht.
Mittlerweile ist die Crew der veranstaltenden
Schönegeisterschau eingetroffen, Hendrik samt Vater und das Wiedersehen
versprüht Funken. Rasch steht die Bühne, lehnt der Löffel aus Holz im
Sängereckchen, füllt sich der Club, mutieren Getränkemarken zu Flüssiggeistern.
Ein Sonntagabend, den man gerne öfters markern würde. Alexander Engel wird
lesen, Makarios natürlich, Hendrik durchs Programm geleiten und dazwischen
doctort es später gewaltig. Vor allem im großen Konzertblock. Pratajev-Mitglied
Nummer 36, Kontaktmann zu ehemaligen SU-Geheimdienstkreisen in Persona
Eademakow, trägt den Doktoren Neustes aus der aktuellen Pratajev-Forschung zur
Hemdtasche. So führt die Deutsche Bücherei das zuletzt gedruckte Lesebuch des
großen Dichters unter der DBN-Nummer 99.621243.4. Und wer immer noch an der
Existenz S.W. Pratajevs zweifelt, möge sich dort einen Katalogauszug besorgen,
in dem es mittenmang heißt, dass Pratajev ein Schriftsteller aus Russland war.
„Ihr habt ihn ja endlich vertont, den dummen
Nachbarsjungen. Das war immer schon mein Lieblingsgedicht“, ja, solche Worte
flammen durch den Duncker und dann rückt die Zeit des Nachfolge-DJs näher
heran. Ein paar Zugaben runden das Fest der schönen Geister ab. Doktor
Pichelstein schnauft im Schwarzhemd, befüllt zunächst den Tourbus, dann sich
selbst, und alle anderen können’s auch alleine. Vater Hendrik sei Dank muss
niemand zum Schluss ein Taxi nehmen, auf geht’s Richtung Friedrichshain zur
Aftershow mit Burgern, Bier und viel schöner Zeit.
25.
Februar 2010, Fürstenwalde / Club im Park
Mein
Doktor, wer ist denn Dirk Michaelis? (195)


Eine mondäne Musikerwohnung wird bezogen.
Jetzt fragt man sich bestimmt: Was ist denn eine Musikerwohnung? Wohnt da ein
Musiker? Und stehen da lauter Instrumente herum? Nein, solcherlei Unterkünfte
sind eine feine Sache. Alles da, außer fünf finnische Punkmusiker auf
bedenklichen Matratzenbezügen, die seit der Erstvermietung nie gewechselt
wurden. Dafür lassen sich Bücher von Harald Schmidt und Roger Willemsen finden.
Ein großer, feiner Geist, dieser Willemsen. Wollte im letzten Jahr der
schwangeren Supermodelkatastrophe Heidi Klum „sechs Sorten Scheiße aus dem Leib
prügeln“. Allein dieses O-Tones wegen gehören seine Bücher verehrt. Unweit
davon liegen CDs von Dirk Michaelis und den Puhdys (Best of Super-Illu, unsere
Leser haben gewählt) herum. „Mein Doktor, wer ist denn Dirk Michaelis?“, will
Pichelstein wissen und erreicht damit, dass Makarios ganz aufgeregt ins
jammernde Stöhnende verfällt. „DAS ist ganz schlimm und schrecklich, Dirk
Michaelis und wie die alle heißen.“
Draußen strahlt derweil die Straßenlaterne
eine Posterlandschaft auf der gegenüberliegenden Zaunseite an:
Schnitzelhauswerbung. Daneben: Norbert Leisegang von der Gruppe Keimzeit bald
solo in Fürstenwalde. „Hier guck, hier guck“, ruft Doktor Makarios, „noch so
einer.“ Und auf dem aufgeweichten Permafrostboden tauchen langsam wieder Sylvesterknaller
und Goldbrandflaschen auf.
26.
Februar 2010, Wittenberg / Irish Harp Pub
The spirit of Margot Käßmann (196)
Der Jägerhof an der Leipzigerstraße in 14554
Seddinersee ist schon so etwas wie ein kulinarisches Fluxwunder. Besonderes Augenmerk
verdient ein feilgebotener, von außen beschilderter „Backschwein-Service“. „Was
ist das denn?“, runzeln Doktorenbrauen
auf und nieder. Nichts wie hinein, wo die Wildsuppe köchelt und die Hirschrotte
drohend von der Decke geweiht. Die Kellnerin ist eine von denen, die Pratajevs
Verse aus „Junge Burschen tanzen“ noch nicht beherzigte. Doch wenn sie nicht
hurtig aufpasst, wird man sie mästen wollen wie ein quiekendes Backschweinchen.
Damit sie nicht doch noch in die Großstadt abhaut. Nein bitte, das darf ihr
Verhängnis nicht sein. Duftende, randvolle Teller schlenkert sie jetzt heran;
schnell die Kippen ausgemacht und rein gehauen. So lange bis nur noch bleierne
Müdigkeit obsiegt. Wie gemein, rasten dürfen andere. Doktoren sind im Dienst,
respektive auf dem Weg in die Lutherstadt Wittenberg, ins Irish Harp Pub,
dorthin, wo die Flummitanzmädchen Fesselspiele lieben und auch dorthin, wo der
luthernde Geist Margot Käßmanns einst seinen Ursprung fand.
Wohl davon aufgeweckt ist er plötzlich da,
mitten im Geschehen, beschleicht den irischen Kneipenraum von der Telefonzelle
bis zum Damenklo: The spirit of Margot Käßmann, der Geist einer berühmten
Ex-Rotlicht-Promillebischöfin, die unlängst mit 1,54 Promille über eine
Hannoveraner Ampel schickerte. Und dabei mächtig verpetzt wurde. Der Geist legt
sich über Doktor Pichelstein, als dieser unverhohlen das erste Kilkenny
bestellt. Dann springt er auf Doktor Makarios über; eigentlich wollte der nur
einen weiteren Muntermacher ordern.. Doch nein, der Geist findet seine
Ausgeburt im Unbill des Betrachters und ist stärker. „Cola-Whiskey“, ruft der
Sangesdoktor, nichts vermag er dagegen zu unternehmen.
Den ersten, vorwiegend männlichen
Konzertgästen geht es später nicht anders. Aus der Traum von Limonade und
Wittenberger Zwetschgensaft. Guiness, Schnaps und Korn wandern über den Tresen,
als wäre das Zeug morgen verboten. Zu allem Überfluss wird Chili con Carne
hinzu bestellt. Da muss man kein Philosoph sein, um sich auszumalen, wie die
Wittenberger Innenstadt am nächsten Morgen aussehen wird: Maisstückchen, Carne-
und Bohnenbröckchen säumen glitzerndnasse Kopfsteinanlagen. The spirit of Margot
Käßmann ruft derweil: „Unter 1,54 Promille fang ich nicht einmal zu beten an.“
Besonders heftig wird im Verlauf des Abends diese Satzsichel noch auf einen
aufstrebenden Krankenpfleger niederprasseln.
Das Konzert an sich verläuft zunächst
schiedlich-friedlich. Weil das randvoll gestaffelte Publikum eher mit sich
selbst beschäftigt ist, wird kein Schnaps zur Bühne getragen. Füße und Hände
wippen sich durchs erste Set, dann scheppert das zweite Intro geweiht zur
Pratajev-Messe. So, als bedürfe es einer großen Aufholjagt, legen die Doktoren
einen wehen Backenzahn zu. Der Eintritt liegt mittlerweile bei null, was zur
Folge hat, dass ein Speedball Wittenberger Novizen hineindrängt. Metamorphose.
Mit einem Mal gibt es kein Halten mehr und letztlich wird das verschlafene
erste Set beinahe komplett noch einmal gespielt. „Was ist denn hier los?“,
fragt Doktor Makarios seinen Gitarristen. „The spirit of Margot Käßmann“,
antwortet dieser und weiß, dass wenn die Finger morgen, in der Moritzbastei,
noch halten sollen, wirklich bald Schluss sein muss.
Gesagt, getan. Letzte Zugabe, mehr Getränke.
Der Schnapsbarkellner hat bereits gekündigt, wurde inzwischen durch einen
kurzsichtigen Gast ersetzt. Danke an dieser Stelle noch einmal, das kann man
gar nicht genug würdigen. Während unser aufstrebender Krankenpfleger sich
gerade noch rechtzeitig draußen vor die Glastür zum Gebrech aufstellt. Nur
wenige Augenblicke später befiehlt der Käßmann-Geist ihm leider: „Zurück in den
Irish-Harp-Strudel.“ Anrichten kann er dort nichts mehr; Kellner zwei wirft
entnervt das Handtuch und die Verbliebenden liegen sich heilig in den Armen.
Insgesamt eine großartige, eine irisch-russische Koproduktion. Irish Harp und
S.W. Pratajev, lang möge die Freundschaft leuchten.
27.
Februar 2010, Leipzig / Moritzbastei
Schnaps
verleiht Flügel (197)
Das Intro erklingt in eleganter Stärke, um die
Bühne zu erreichen, muss ein wenig Slalom an spanischen Wänden entlang
getänzelt werden. Gelingt tatsächlich unfallfrei und schon stehen die Männer am
Feldrand, beginnt Pratajevs Erbe an diesem Abend zu sprechen, zu singen und zu
spielen. Der erste Chemnitz-Schnaps wird den Protagonisten hochgereicht,
zeitgleich von einer Lady in Black als solcher angezweifelt. Erst als Doktor
Makarios ihr einen kräftigen Schluck ausleiht, verstummt die Diskussion
darüber. Wo kämen wir da auch hin? Pratajevs Erbe und die Huldigung des großen
Dichters haben gar nichts mit falscher Keuschheit vor dem Schnapse gemein. Wer
von der Schnapsbar singt und sowas wie Red Bull trinkt, leidet an chronischem
Universumsverlust. So ist das nun mal.
Heftig werden nun die Oberschenkel im Publikum
geklopft; Doktor Pichelstein kompensiert hinter der Bühne ausgeschwitzte
Mineralverluste, keuchend und pustend. Doktor Makarios liest mit anrührendem
Ernst derweil aus dem „Raucher von Bolwerkow“. Quellen der Heiterkeit branden
zu Applaus-Stürmen. Weiter geht’s mit frisch gestimmten Saiten unter
olympischen Augenringen. Doktor Pichelstein strauchelt bereits ein wenig, doch
der nächstgereichte Schnaps verleiht Flügel. Doktor Makarios fliegt mit Stimme und
Gruftrufen auf gleicher Höhe mit bis zum nahenden Ende, bis Feuer an die erste
Set-Zigarette gelegt werden muss. Doch lang ist nicht alles gespielt, bei
weitem nicht. Für solche Fälle liegen immer irgendwo Listen herum, aber
meistens werden die bereits vorm Konzert geklaut. Also: Freie Wahl, was soll’s
sein? Rasante Höhen- und Scheitelpunkte aus Pratajevs Gesamtwerk entlassen
beide Doktoren schließlich. Es folgen schmetterlingleichte Gedanken und das
mitten im kalten Winter. Der Abend klingt sogar im „Schwalbennest“ geheißenen
Teil der Moritzbastei aus. Was will man mehr?
26. März 2010, Dresden / Chemiefabrik
Herr B. aus C. hat ein Einsehen (198)
Der Bus
rollt über den Betonkrebs der Autobahn 14 Richtung Dresden, erste Senfflecken
verteilen sich über manchen Insassen. Das kommt davon, wenn einem die
Tankstellenbockwurst übel mitspielt. Noch schielt der Frühling durch die
Wolken, seine Winde verheißen indes nichts Gutes, Regen soll es alsbald geben.
Mit Windkraft im Rücken werden Dresdens schmucke Täler erreicht, schließlich
die Chemiefabrik an der Petrikirche und
ein Doktor sagt zum anderen: „Sollten wir nicht hineingehen und Messdiener
befreien?“ Oder junge Mädchen davon abhalten, Nonne zu werden? Doch eigentlich
ist es genau anders herum, denn immer weniger junge Mädchen wollen Nonne
werden. So stand es heute in der Zeitung und das ist mitunter gut für alle
Jungs, vor allem für jene aus den Kreisstädten.
Die
Vorband heißt „Hands up-Excitement“, am Bass: Hans Narva. Diesen bassenden
Götterboten der GDR-Indie-Szene zum ersten Mal live zu erleben, ist Doktor
Pichelstein eine Freude. Makarios kennt ihn natürlich und erteilt seinem
Gitarristen eine kleine, musikalische Lektion in Sachen „Herbst in Peking“,
„The Hidden Sea“, „Inchtabokatables“ usw. Es soll vorm Konzert
dann einen berlinalegefeierten Film geben: „Hans im Glück“; Herr Narva streift
darin in Hackschuhen durchs neue Playgroundberlin, erzählt seine Geschichte
dazu und schon knallt der Beamer alles darüber in weißes Leinen. Vergessen ist
der lange Soundcheck, verdrückt sind Nudelteller an Felskellerbieren. Pratajevs
Schnapsideen mögen später folgen, lange nachdem der Sandsturm fegte, das
Gewitter nahte und Dresden aus der Luft mit Gewitterschlägen nasspeitschte. So
sitzt man da, im Kreis der Lieben, der Pratajev-Freunde aus Karl-Marx-Stadt,
Großenhain, Dresden und neuerdings sogar: Freiberg. Manchmal steht man auf,
geht herum, schaut inbrünstig hin zur Leinwand. Ein toller Film. Da staunt die
Generation Kapuzenpulli.
Hands
up-Excitement streicheln hernach wilden Zauber aus den
Instrumenten und gemahnen ein wenig an Sonic Youth feat. Jens Friebe. Alles in
allem eine feine Sache da oben auf der Wölbebühne. Und gegen eins in der Nacht
übernimmt Pratajev das Zepter. Der Mischmann schwitzt und eilt, vergisst zwar
die DI-Kabel an den passenden Fleck zu setzen. Aber das macht nichts. The
Russian Doctors fangen noch mal von vorne an. Schnaps muss her, sehr schnell,
die nächtlichen Akkus drohen mit der Neige. Doch es kommt keiner, es herrscht
Schnapsdürre, obschon das Set fleht: „Jeder Schluck“, „Die Heilung“, „Schnaps
und Weiber“, „Schnapsbar“ – aha, endlich. Herr B. aus C. hat ein Einsehen. Mit
einem Male zieht Doktor Pichelstein das Tempo an, Doktor Makarios‘ gusseiserne
Sangeshysterie schwillt an wie der Bach, der draußen gerade zum Flusse wird.
Ein Verehrer der „Toten Katzen im Wind“ widmet diese Pratajev-Weise seinem
Freund aus der Psychiatrie, weitere Schnäpse folgen, und natürlich muss derlei
Zuspruch samt und sonders belohnt werden. Bis zur letzten Zugabe schlagen
Pratajev-Herzen höher, ein tapferer Videofilmer klagt langsam über
Playschmerzen in den Fingern. Und als der Morgen graut, geht wahrlich nichts
mehr. Lange Nacht, volle Gläser, vielen Dank dafür.
27. März 2010, Tharandt / Herberge am
Tharandter Wald
Schlotternde Knie im bebenden Heilungsseminar
(199)
Heiß
her aus ungelüfteten Bürostuben köchelt’s derzeit in und um Tharandt. Zum einen
bewegt das glückliche Kampfesende der „Erweiterten Grumbacher
Sondermülldeponiepläne“ (so die Sächsische Zeitung) friedliebende Gemüter.
Wahrlich, welch‘ krummer Gedanke, mitten ins Naherholungsgebiet ein solches
Unding hineinsetzen zu wollen. Zum anderen erklärte kürzlich das hiesige
Landratsamt den Gnadentod der Vossschen Fischzucht (versuchen Sie das doch
bitte 3x hintereinander unfallfrei zu sprechen) für zulässig. 4000 Exemplärchen
schaffte besagter Flossenfreund dazu in ein Becken mit ergänzendem
Kohlendioxid, wo alles starb, was vorher putzige Kreise zog. Weil die Umstände
es so wollten und die verbeamteten Umstände waren böse, hatte doch niemand den
Züchter darüber informiert, dass toxisches Tiefenwasser von anderswo gen
Tharandt umgeleitet wurde. Schlafende Bürokratie tötet Fische, das war schon
immer so. Pratajevs „Angler in der Dämmerung“ wären darüber ebenso höchst
unleidlich, ja böse geworden. Nun denn, was hat das alles mit dem 199. Konzert
der Russian Doctors zu tun? Gar nichts. Außer vielleicht, dass der heutige
Auftrittsort an der Tharandter Pienner Straße 55 knapp neben der Vossschen
Fischzucht zu finden ist. Gegenüber reißt ein Bach künftiges Elbwasser mit sich
und Doktor Pichelstein wird vom Platzwart angehalten, den Tourbus doch bitte
nicht in der Auffahrt stehen zu lassen. Weil der Wart einen Rüsselhund mit sich
führt, wird dem später tatsächlich Folge geleistet.
In der
Herberge gewinnt zuweilen Freund Lomo, beflügelt durch den 1:0-Auswärtssieg
seiner Dynamos in Braunschweig, schlauchende Kämpfe gegen tüftelschwere
Bierfasstechnik. Das erste Gezapfte steht bereit und Gattin Simone begrüßt
Gäste aus diversen Zeitepochen. Nachgeholt wird heute ein Geburtstag; Pratajevs
Leib- und Magenkapelle darf da nicht fehlen – und bedankt sich an dieser Stelle
vielmals für die Einladung, denn der Abend, die Nacht, der Morgen darauf lassen
und ließen wahrlich keine Wünsche offen. So viele liebe Menschen auf einmal,
das kann man sich nicht immer aussuchen. Eine perfekt perlende Party nimmt
Fahrt auf. Unergründlich lecker lockt der Speiseplan; nach knapper Laudatio der
Gastgebenden heißt es: Fettlebe. Suppen dampfen und ein jeder probiert sich
mutig an längst verschollen geglaubten Rezepten. Knoblauchnudeln mit Parmesan
machen die Runde; will man seinen Nachbarn zum Freund behalten, muss davon
unbedingt probiert werden. Doktoren prosten sich derart sattgemacht den ein
oder anderen Kräuterschnaps in den Schlund, schon tönt Pratajevs untrüglicher
Frohsinn aus der Bühnenecke. Ein erster Mix aus Lied- und Textgut wird
feilgeboten, während ungezügelt Knoblauchschwaden durch die Herberge duften.
Die
ersten Konzertrunden im bald bebenden Seminar erwischen zunächst lediglich trappelnde Schuhe und tosende Hände. Aber wer
den schmalen Grad zwischen Euphorie und Alkoholverzehr kennt, resp. schon
einmal auf einem Konzert der Russian Doctors war, der weiß, dass Pratajev die
Mutter aller Heilungen ist. In allen Variablen kommt sie zu Gehör; hinterher
stellen beide Doktoren wieder einmal einen Rekord auf: Niemand auf der Welt hat
bisher während eines Konzertes so oft Pratajevs „Die Heilung“ zum Besten gegeben.
Und wäre der traurige Vosssche Fischzüchter anwesend, hätte man auch ihm
behende ein heilendes Lied gewidmet. Aber es geht noch weiter, der Zenit ist
längst nicht erreicht. „Schlotternde Knie“ ruft Doktor Makarios ins Publikum
hinein. Ein galanter Aufmarschbefehl wird’s. Die ersten Knie in Hosen oder mit
offenen Röcken teilzeitbedeckt, schlottern bis zur mittleren Reihe vor; so
mutiert auch dieser Song zur Maxiversion. Eine junge Russin macht es allen vor,
schwingt dazu galant die Hüften. Und in den Pausen umströmt draußen frischer
Rauch, frische Luft und so manches Pratajev-Bekenntnis die Trinkenden. Bis der
Hammer in weichherzige Bettwäschearme fällt. Gute Nacht in aller Frühe.
03.
April 2010, Pirna / Kellerbar Quer
Zieh
Dein‘ Schlips aus
(201)
Von Ostern sollte eigentlich erwartet werden,
dass die Leute bunte Eier suchen, sich mit gekühlten Getränken ins Vergnügen
stürzen und friedlich ans Feuerchen setzen. Denn Ostern ist die Zeit der
legalen Brandschatzung. Wer es vorab nicht aushalten konnte, endlich öffentlich
Feuer legen zu dürfen, ließ den Roten Hahn bisweilen in Mietshauskellern los
und wurde hoffentlich erwischt. So brennt das Land am Ostersamstag vor sich
hin; der Weg von Leipzig bis Pirna ist mit Rauchschwaden verhüllt. „Alles muss
raus“, gemahnten die Möbelhäuser bereits um Gründonnerstag. Die Kunden
gehorchten, deckten sich bei IKEA ein, und für fleckige Sofas, altes Betten-
und Kücheninterieur steht ab sofort das Feuer Pate. Dem Saumagen der Nation
würden diese brennend-blühenden Landschaften sicherlich gefallen. Helmut Kohl
hat die 80 erreicht, Kundus ist jetzt auch offiziell Vietnam, Schalke 04
verliert gegen Bayern. Ein Tag also, den nur ein Russian Doctors-Konzert heilen
kann. Und so soll es sein.
Dem Heimatsender im Tourbus wird der Garaus
gemacht. Quer – die Nachtbar in Pirna, wie sie vollmündig heißt, dafür
angesteuert. Attila, ein waschechter Ungarnwirt, und Holger, der irgendwann
einmal nach Siebenbürgen auswandern möchte, weisen beide Doktoren samt Crew
ein. „Hier ist die Schnapsbar, dort die Bühne, Hunger? Durst? Kein Problem,
kommt sofort.“ Ja, so wird man gern empfangen und macht sich gleich ans zu
verkabelnde Werk. Schon passt der Sound, liegen die Pensionsschlüssel parat,
wird der Weg zur Bar geebnet. Aus gleich vier Sorten Obstbränden darf mitunter
probiert werden. Attila befüllt sämtliche Gläser, das Abendmahl verdaut sich
schließlich von selbst. Die Pratajev-Messe kann beginnen, Glockengeläut wummert
aus den Boxen zur Straße hoch. Pirna, aufwachen. Ab in die Querbar; erste
All-inclusive-Bändchen werden von der vermutlich (gemeinhin ein interessanter
Fetischgedanke) tschechischen Bardame einzelnen Gästen angeholfen. Dann füllt
sich der charmante Keller; Freunde der Langen-Straße-Hofnächte trudeln genauso
ein, wie noch unbedarfte Frauen Doktoren. Eine Herzspezialistin war auch im
Publikum, weiß Makarios am nächsten Tag zu berichten. Und selbstredend jene,
die nichts zu verbrennen hatten, respektive das IKEA-Motto „Wohnst du noch oder
lebst du schon?“ für deutlich überbewertet halten.
Am Merchstand scharren die Doktoren nicht
gerade mit den Hufen; versunken in trunkener Gemütlichkeit lässt sich das
Publikum aus allerlei Warten betrachten, all-inclusive eben. Findet auch Shiva,
heute Busverantwortlicher, und ertränkt den Schimmel des Lebens mit
Gerstensaft. Das Intro läuft um halb elf, Doktor Pichelstein besinnt sich
seiner Aufgaben, Doktor Makarios legt stimmlich Pratajevs Feldmänner drüber.
Die UV-Lampen glimmern nach Art Dolly Busters an der Decke und der Russenfunke
springt von der Bühne rüber aufs Thekenfeld, zu den Sofas und Sitzecken. Den
Landliedern folgen heilende Ärzte, schlimme Krankheiten bis zur Pause. Im
zweiten Block werden Tiere und Schnäpse zur Brust genommen. Die Zustimmung hallt
allerorten gen Kellergewölbe übers vorgesehene Set hinaus. Dann folgt die
dritte Halbzeit als großartiges Zutun; im Wunschkonzert sollen die Doktoren gar
„Männer sind Schweine“ spielen und weil sie das natürlich unterlassen, befällt
eine der All-inclusive-Gästinnen (AIG) tiefe Trauer. Mit verschmiertem lila
Lippenstift zieht sie sich an die Schnapsbar zurück und beklagt fortan den
Schicksalsblues. Darunter werden der AIG im Verlauf der Nacht stetig Münzen auf
den Boden fallen, Doktor Pichelstein wird später nicht genau wissen, wie ihm
geschieht und den lallend vorgetragenen Worten: „Zieh Dein‘ Schlips aus“
ungläubiges Staunen entgegenwirken. Was schlussendlich so ausgeht: Die AIG
stürzt sich auf den armen Pichelstein, versucht Sakko und Shirt vom Leib zu
reißen, darunter nach einem Phantomschlips Ausschau haltend, das ärztliche
„Männer sind Schweine“ im lila Mundgeschirr. Weitere Sätze großen Gehaltes, wie
dieser: „Du, hö ma, hey, ich red mit Dir, nü? Du siehst so traurig aus und
meine Freundin starb neulich mit 36 an Brustkrebs und ich bin ganz verliebt in
Dich“ werden folgen, die darob betroffen-amüsierte Querbartheke rauf und
runter.
Doch noch ist es nicht so weit, Doktor
Makarios stimmt zum letzten Mal die Schnapsbar an. In einer bisher nie
gespielten Variante. Die Strophen langsamstens, konträr dazu den Refrain im
Highspeed erklingend. So, als wüsste man bereits, dass Wirt Attila mit einem
Selbstgebrannten auf die Russian Doctors wartet.
15.
April 2010, Leipzig / Flowerpower
Sympathisanten
einer guten Welt (200)
Obschon das letzte Heimspiel noch gar nicht
lange her ist, füllt sich der schäumende Flowerpowerschlauch rasch mit
durstigen Gästen. Und mehr hätten es am Ende kaum sein können. So quillt das
liebste Wohnzimmer der Russian Doctors aus allen Nähten; wer einen Sitzplatz
ergatterte, hatte diesen im Laufe der Nacht scharf unter Bewachung zu stellen.
Gesandtschaften aus Pirna (Vielen Dank an Silvi & Stone für den
„Zieh-dein‘-Schlips-aus-Livemitschnitt“), Soltau, Karl-Marx-Stadt, Oranienburg
und anderswo sind früher bis ferner auszumachen. Die Freude ist selbstredend
groß. Gleichwohl der Pratajev-Kolchos „Löffel aus Holz“ hälftig im Autofond
verweilen muss. Fiebrig geht’s dort zu; Baumfreund Ekmel führt Doktor
Pichelstein hin. Die Mutter Theresa unter den Doktoren bietet heilenden Schnaps
an, genommen wird das frische Haus aus Stein IV der Pratajev-Gesellschaft. Na
das ist doch auch eine Lösung. Wenn schon kein Schnaps hineingeht, soll
wenigstens darüber gelesen werden. Während man dem russischen Wald das Attribut
des „stillen, rauschenden Therapeuten“ nachsagt, greift Pratajevs Heilung gern
in ähnlicher Art und Weise. Denn schließlich stammt Buchpapier von weisen
Bäumen ab.
Zurück im Flowerpower sollen die
Jubiläumsfestspiele, soll das 200. Konzert der Doktoren alsbald starten.
„Herzhafte Trinklieder“ versprechen die Konzertflyer; Prinz Sebastian verleibt
sich noch kurze Bruchstücke des Pratajev-Universums ein und wird kurzerhand zum
Ehrengast, respektive Ehrendoktor erkoren. Dann läuft’s Intro, Pratajevs Erben
stehen bereit für den Hürdenlauf, für das Beste aus 199 Retro-Konzerten. Ein
komplizierter Gedanke, war der Alkoholausschank vorab nun wahrlich reichlich.
Aber gut: „Wer viel Flüssigkeit verlieren wird, sollte vorher mehr als genügend
davon aufnehmen.“ Jene alte Tutukin-Weisheit lässt Doktor Pichelstein bereits nach den ersten Sanges-Botschaften
alle tempobremsenden Achtelschläge auf der Erlenholzgitarre vergessen. Heute
wird geschlagen was der Wald hergibt. Während Doktor Makarios‘ stimmlicher Tanz
dazu oftmals doppelte Saltos bewältigen muss. Beim „Biber“ naht die nächste
Hürde. Um davor nicht zu straucheln, balladiert sich das kleine Liedchen. Aber
nur, um im Refrain mit zehnfacher Geschwindigkeit wieder über sich hinaus zu
wachsen.
Unterdessen werden die ersten Sto Gramm-Gläser
Wodka auf die Bühne getragen. Immerhin: 100 Gramm temperierter Flüssiggeist,
also 10 cl, der ausreicht, um manches Gleichgewicht ad absurdum zu führen. In
Russland wird es übrigens als große Unhöflichkeit angesehen, eine Einladung zum
Wodkatrinken auszuschlagen, bzw. das bereitgestellte Glas nicht auszutrinken.
Da hilft nur eines: Essen Sie vorher so viel Sie können. Möglichst das, was
Salatfreunde, Käferzähler und andere Veganer nicht im Land haben wollen: Hühner,
Kühe, Fische und Schweine. Denn seien wir mal ehrlich: würde niemand mehr auf
diese Tiere zurückgreifen wollen, wäre streng genommen etwa die treuäugige Kuh
vom glatten Aussterben bedroht. Wo doch ihre Milch bereits als „weißes Blut“
vegan gegeißelt wird. Wollen wir das? Aber nun, zum Essen ist man vorm Konzert
gar nicht gekommen. Höchstens zum Krimskoje-Anstoß aufs 200. Konzert bei
liebreizend besorgten Schokoladenriegeln aus dem Russenshop Ecke
Kaufland/Kohlgartenstraße.
Weiter geht’s. Die Songs überschlagen sich im
Wunschblock. Mittlerweile bricht die 3. Konzertstunde an, Pause einberechnet.
Die Sympathisanten einer guten, einer russischen Landdichterwelt feiern und so
soll es sein. Sto Gramm-Lieferant Strobi lächelt und vielleicht mag er sich denken:
Mal schauen, mal schauen, vielleicht wird’s ja so noch schneller. Schon wieder
stehen die Monstergläser in Reichweite. Erinnerungen an Chemnitz, Subway to
Peter, 2009 werden wach. „Klassischerweise trinkt man Wodka pur und eigentlich
immer in einem Zug. So hält man es zumindest in seiner russischen Heimat“,
raten studierte Experten. Die „Schnapsbar“ hallt erneut durchs Flowerpower.
„Der Tierarzt“ reiht sich ein, „Der Bauch“, „Als das Eis kam“ und dem
Gitarrendoktor schwinden kreislaufende Sinne. Die Finger blutig, des Leidens
froh, am Boden kauernd. „Mein Doktor, wir müssen das nächste Mal mehr Balladen
spielen“, keucht es aus ihm heraus. Dann richtet Makarios seinen Gitarristen
auf. „Das machen wir bestimmt“, trösten heisere Worte durch die Nacht, bringen
Islands Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen in Wallung und legen den
gesamten Flugverkehr über Nordeuropa lahm.
„The Schnapsbar strikes back“ liest sich
später am Horizont und Pratajevs „Idyll“ überdauert die Nacht.
07.
Mai 2010, Cottbus / Chekov
Morgen
geschlossen wegen heute
oder:
Ein
Knochen aus Hund zur Guten Nacht (202)
Free Kachelmann! Seitdem unser Schweizer
Wettermann im Gefängnis sitzt, hat sich die aschedumme Wolkenlage überm
Tourgebiet der Russian Doctors sehr zum Nachteil verändert. Selbst Moskau
meldet Sonnenschein, doch heute geht es nur bis Cottbus, ins Teehaus Chekov.
Ganz nach Pratajevs Gusto wird per Schild aus Holz bereits verkündet: „Morgen
geschlossen wegen heute“. „Na das kann ja was werden“, raunen sich Doktoren zu
und begehen die alte Spree-Schwimmbandanlage mit Blickrichtung Stadion der
Freundschaft. Hinter sich gelassen eine arg strapazierende, umgehungsträchtige
Wald- und Wiesenpartie von Leipzig zur Energie-Durch-Kohlestadt, vor sich den
Gesang des „Wanderers“ aus Pratajevs Werk.
Nach dem Soundcheck darf getafelt werden.
Gleich um die Ecke ist der richtige Ort dafür, er nennt sich „Zelle“.
Kachelmann ist nicht auszumachen, schade. Dafür eine Hand voll junger
Aktivisten, die sich um koschere Zubereitungsnormen im erstaunlichen Sinne des
Veganismus/Vegetarismus diskutierend abmühen. Eine geschätzt 15-jähringe
Antifaschistin steht im Mittelpunkt, noch ganz nassgespritzt von zeitnahen
Wasserpistolenschlachten. Makarios und Pichelstein schmeckt’s Gekochte dennoch
hervorragend. Besonders verlockend ist allerdings die Aussicht auf Nachtisch,
auf Döner-für-später, versprochen aus Veranstalterhand. Die gibt man gerne und
freut sich gemeinsam aufs kommende, pratajevreiche Bühnenbüffet. Zurück zum
Teehaus Chekov, mal schauen, was schon los ist.
Gemütlich tröpfeln die Gäste ein, ARTiges
Stammpublikum ist darunter und KuK von der Gruppe Sandow tauscht süßen Wein
gegen trockenen. Meistermuse Momo und den Mann mit dem beachtlichen Hutwerk
zieht’s hernach Richtung Aftershowigkeit. Dann schrillt die Sirene, schreiten
beide Doktoren zur Bühne. Von oben herab lässt sich im Rundblick schwerlich
erkennen, wie voll das Teehaus wirklich ist. Doch da das Klatschen, wohlige
Brüllen und beachtliche Rufen nach Pratajevs Lyrikperlen bis zur letzten Zugabe
nicht abebbt, wollen wir mal von einer feinen Fülligkeit im Raume ausgehen.
Immer wieder greift Doktor Pichelstein in den eigens für ihn auf die Bühne
gebauten Bierkühlschrank. Zuletzt wurde einem gewissen Charles Bukowski (in der
Hamburger Markthalle, am 18. März 1978) diese Ehre zuteil. Ach, werte
Veranstalter. Ein prall gefüllter, unter Eis gesetzter Kühlschrank auf der
Bühne, das ist wirklich etwas sehr gelungenes. Und weil der heutige Abend ein
ebensolches Schicksal von sich gibt, liegen sich Doktor Makarios und Doktor
Pichelstein, hoch erfreut darüber, später beim Gläschen Pfefferminzschnaps in
den Armen. Auf in die Zelle, dort wohnt der Wanderer, der Musiker, wenn er im
Teehaus Chekov absteigt. Und im unteren Segment eines Hochbettes wartet bereits
ein Hundeknochen, vielleicht aber auch ein Knochen aus Hund, auf Doktor
Pichelsteins Ruhekissen. Wer hat den da bloß hingelegt?
08.
Mai 2010, Dresden/ Kunsthof Gohlis
Das
erste Gitarristinnen-Autogramm der Russian Doctors (203)
Vom gestrigen Auftritt des Irish International
Blues-Rock-Gitarristen Eamonn Mc Cormack noch schwer baileysgezeichnet,
sonnt sich die Belegschaft des Gohliser Kunsthofes links der dresdnerischen
Elbe. Zehn stromernde Katzen und zwei Kleinsthunde schauen ab und zu nach dem
rechten. Herrchen bis Weibchen schwelgen unterm blauen Himmel, der es windig
schafft, zumindest am Tag der Befreiung für Antidepressionskapriolen zu sorgen.
Zuvor hatten beide Doktoren in der Dresdener Innenstadt einen Fußballnachmittag
voller Qualen zu durchleiden. Nürnberg muss in die Relegation, Bayern ist
Meister, Hamburg verpasst die Euroliga. Es gilt ein saisonübergreifendes
Trostlied der Band Element of Crime anzustimmen, in dem es treffend heißt: „Im
Fernsehen, wo deine Mannschaft die Meisterschaft fröhlich versiebt, reichen
sich Euro und Markstück die Hände und sagen: Wir haben uns lieb“. Gespielt in
a-moll, G-Dur sowie E-Dur.
Dass sich diese 3 Akkorde u.a. ebenso in der
Russian-Doctors-Komposition „Auch die Ratte hat ein Herz“ befinden, weiß seit
Mitte letzter Woche tendenziell jeder, denn: Das neue, große Liederbuch
Pratajevs ist auf dem Markt der Nachspiel- und Singmöglichkeiten aufgetaucht.
Hab Dank, lieber Verlag Andreas Reiffer dafür. Und im Voraus sei gesagt: Heute,
am Tag der Befreiung oder: „At the Great Raid“, wie Mr. Mc Cormack die Sache
gewiss sieht, verkauft sich die mitgeführte Charge Liederbücher höchst komplett
aus.
Der Kunsthofgohlis ist ein Kleinod, ein
malerischer, ein skulptur- und pflanzenumschmückter. Dazu frisch renoviert
herausgeputzt und wenn man genauer hinschaut, blicken Schweiß, Staub und
wochenlange Maloche zurück. Nach Bergsdorf, bei Tourbeginn, die zweite feine
Kunstbeflissenheit, in der Pratajevs Erben zu Gast sein dürfen. Und genau wie
in Brandenburg spielt das Umsorgen der Herren Makarios und Pichelstein eine
tragende Rolle. Bierchen hier, Kaffee da, die Schnapsbar wird aufgetankt,
Anlage und Sound werden hergerichtet und bei weitem traut keiner Doktor
Pichelstein zu, den Titel „Schnellster Gitarrist der Welt“ auf legalem Wege
erspielt zu haben. Des Gitarrendoktors Aussage: „Nun, vor jedem Doctors-Konzert
sollten die Instrumente schon mit frischen Saiten aus Stahl bestückt werden“,
entgegnet man mit Trugschlüssen. Noch. Die große Hoftür öffnet sich, eine
Wachkatze sitzt mittenmang in Position und jagt plärrende Amseln über
Baumkronen davon. Zumindest träumt die Katz‘ das ganz gewiss. Erste Gäste aus
der Heimat sind Silvi und Stone. Kesselgulasch dampft Hunger herbei, unseren
Zschonergrundbadwirt, Landärzte, Mathematiker und alle, die bis tief in die
Nacht nicht nach Hause gehen. Stühle und Tische besetzen sich und an der
Schnapsbar drängen leere Gläser auf Spülung, Nachfüllung, große Gemütlichkeit
bis zur Pause, bis zum Schluss des Pratajev-Reigens über alle Set-Eskapaden
hinweg.
Die Doktoren spielen sich in einen Rausch,
erhalten dergestalt große Geschenke bereits beim Spielen (z.B. eine wahnsinnig
leckere Flasche Vodka und zwar nicht aus dem Aldi!). „Verrücktes Huhn“ wird
Doktor Pichelstein vom umtriebigen Gitarristen des Hofstaates, Chris Rasch,
geheißen. Wenn das mal kein Kompliment ist. Ja und so lugt’s später bis
nächtlicher; Liederbücher kreisen, Doktor Pichelstein gibt damit von Tisch zu
Tisch Gitarrenkurse im Schnelldurchlauf. Zuletzt erscheint noch ein
sympathischer Saufaus und besorgt sich ein Autogramm. Erstaunlicherweise nicht
von einem der Herren Doktoren, sondern von Pichelsteins letzter Schülerin. Mit
ganzem, schwankendem Stolz schreitet er gen Schnapsbar und raunt zum
Kunsthofuwe: „Hier, guck mal, ich hab ein Autogramm von der Gitarristin
bekommen“. „Toll toll“, sagt darauf der Uwe und fragt sich, wie ihm heute wohl
geschah.
25. Juni 2010, Dresden / Gare de la Lune,
Elbhangfest
Blutgitarre & Kartoffelschnaps (204)
„Dieses Fest hat zu Recht den Ruf, eines der
schönsten Feste der Stadt zu sein. Hier finden gewürdigtes kulturelles Erbe,
Bürgerengagement und Kreativität ein harmonisches Miteinander, das auch die
Fußball-WM einzubinden wusste.“
Ja, so
klingen weise Nachrufe aufs mittlerweile 20. Elbhangfest heute. Gesprochen
wurden sie von Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz. Genauer von jener
CDU-Regentin, deren Berühmtheit darauf zurückzuführen ist, dass sie - bis auf
Strapse und Amtskette tragend - splitterfasernackt vor der
welterbevernichtenden Waldschlösschenbrücke herumsteht. Zwar lediglich auf
einem Portrait der hiesig tünchenden Pinselkoryphäe Erika Lust dargestellt –
aber für Frau Orosz war’s Grund genug, Ende letzten Jahres dagegen, um
Unterlassung flehend, empört vor den Kadi zu ziehen. Zunächst verboten die
Richter alle orosz’sche Nackigkeit per Eilverfahren, im späteren
Berufungsverfahren lobten sie diese fürwahr als „ein Bildnis der
Zeitgeschichte“. Ergo: Frau Orosz darf nun wieder schamhaft öffentlich gezeigt
werden. Jener Wirt, der besagte Kunst für schlappe 1500 € als erster erstand,
holte die pinselige Weltkultur aus dem Tresor und trank darauf sicherlich so
manchen gewinnbringenden Schnaps.
In
Leipzig und Umgebung sprach man diesbezüglich von der „Dresdener
Nackt-Bild-Posse“ und schüttelte mal wieder manchen Kopf über die königliche
Hauptstadt aller Sachsen. Da Erika Lust aus Kasachstan stammt, somit eine
mutmaßliche Verehrerin Pratajevs sein dürfte, wollen wir sie hiermit für ihren
großen Sieg der künstlerischen Freiheit besonders loben.
Als The
Russian Doctors den Garten des Gare de la Lune betreten, beginnt gerade der
Sommer heiß zu jucken. Die erste Kapelle des Abends spielt sich, dick beanzugt,
in einem nie enden Soundcheck warm. Bis allerorten begriffen wird, dass dies
jetzt schon das Konzert sein soll. Denn man wartet geduldig auf die Rockys,
natürlich unbedingt auf Pratajevs Erben, döst friedlich schnabulierend vor sich
hin, fragt sich, warum auf der Bühne zwei Mädchen in zu langen, immerhin
trägerlosen Kleidern das feilgebotene Coverset der Marke „Best of Die Ärzte
feat. Madness an Pogo in Togo“ hintergründig zerhopsen und nicht einer aus dem
Publikum einen stoppeligen Teddy Mischka zum Dank dafür gen Bühne wirft. Zwischen
letztem Gruppenspiel im WM-Zelt und Merchstand am freundlichen Mischer
zerwandern sich derweil die Wege. Alkoholische Vorräte sind hingegen schwerlich
zu ordern, da der Konzertgarten alsbald einem quirligen Regionalligastadion
gleicht. Dann spielen die Rockys und zwar so elektrisch gut, dass es den
versorgenden Stromkreislauf gleich mehrfach zerlegt.
Unterdessen
am Merchstand: Für jede heute gekaufte CD gibt’s ukrainischen Kartoffelschnaps,
selbstgebrannt, in Schnapspfeifen ausgeschenkt. Seitens der Käufer versucht man
zwar mehrfach, die mitreißende Doktoren-Verkäuferin zu ebensolchen Schlucken
hinzureißen, doch Standhaftigkeit hat einen Satz geboren. Er lautet: „Ich hab
lieber Likörchen dabei, zum Anstoßen, Prost.“ Ein Unterfangen, welches am nächsten
Tag dennoch reichlich Reue erfahren wird. Doch so weit ist es lange nicht. Mit
letzter Zugabe der Rockys drücken sich Doktor Makarios und Doktor Pichelstein
gegenseitig auf die Bühne aus Holz. Schon stöpseln sich Gitarren, werden
Stimmbänder geölt und Akkord-Feuerwerke gezündet. Die Stimmung ist eine Pracht,
querbeet schickt Makarios sein heutiges Pratajev-Manifest durch die Menge,
Pichelsteins Finger landen in der Hartsaitenschlacht. „Männer die am Elbhang
stehen“ in Reinkultur. Selbst die Elbe vermag ihnen das Wasser nicht zu
reichen.
„Mein
Doktor, du blutest wie ein Schwein“, wundert sich Makarios und flüstert’s
seinem heftig peitschenden Erlenholz-Gitarristen ins klebenasse Ohr. Und
richtig: Holz plus aufgespanntes Saitenmaterial leuchtet reichlich
blutbefleckt. Selbst Hemd und Hose gemahnen an den deutschen Einsatz in
Afghanistan. Aber nun, was will man machen? Wie gut, dass ein Fliehender
Chemnitz-Sturm an Schnapspfeifen naht. Zunächst daraus getrunken, dann den
Mittelfinger der rechten Hand, Quelle allen Blutes, hinein getaucht, somit
ausreichend desinfiziert, weiter geht’s. Die Alte Henne wird zur Fetten Henne
und aus dem Fettfrosch wird ein Fickfrosch und aus der Nacht wird ein Morgen,
ein letzter Tiefschluck in der verehrten Grottenwirtschaft, bevor
Oberbürgermeisterin Helma Orosz, nackig an der Waldschlösschenbrücke, jeden
Alptraum herrlich mit sich versüßt.
26. Juni 2010, Eibenstock/Skihütte
Abwärts und bergauf (205)
Nun
kurz fort von dir, wertes Elbhangfest. Pratajev-Mitglied Nummer 36, Eademakow
- in seiner Funktion als „Kontaktmann zu
ehemaligen SU-Geheimdienstkreisen“ lädt ein zum Rundgeburtstag ins Erzgebirge,
nach Eibenstock, auf eine (wie sagt man gleich?) naturverbundene Skihütte.
Damit nicht genug: 717 Meter über normal Null gelegen, wird sie später am Abend
den Beweis antreten, Ort des bisher höchst gelegensten Doctors-Konzert zu sein.
Bereits vor Fahrtantritt, am Küchentisch der Elbpension Große, rätseln beide
Doktoren, wie es denn bloß das Tourauto so hoch hinauf schaffen soll? „Aber
mein Doktor, schöne Gegend das Erzgebirge“, beruhigt Makarios den
Pichelsteinfahrer. „Vielleicht transportieren wir die Gitarren ja mit einem
Sessellift nach oben.“ Ein böhmischer Gesandter wird derweil draußen lautstark
vom Herbergsvater zum Flaschensammeln animiert. An Jahren werden die beiden
vielleicht 30 trennen, der Gesandte hat die 90 bereits überschritten und läuft
gebückt.
Die
erste Anhöhe liegt indessen keine 100 Meter zur linken; um möglichst rasch dem
aufkommenden Festumzug zu entfliehen, senkrechtet der Audi flink und gewandt
wie ein Frettchen gen Dresdener Fernsehturm hinauf. Radfahrer springen zur
Seite, entgegenkommende Karossen müssen warten. Die Kopfsteinserpentinen
verlangen unterm fahrenden Gewicht strenges Gangschalten zwischen eins und
zwei, der Motor röhrt und irgendwann folgt das erste Blauschild Richtung
Autobahn. Auf zu schönen Landen, die erste Paybackcard-Bockwursttankstelle
schimmert als Nahziel.
Der
Erzgebirgler wäre keiner, wenn nicht Punkt 15 Uhr Kaffee und Kuchen bereit
stünden. So ist die Zeit knapp; vom rasenfeinen Anwesen der hier verwurzelten
Eademakow-Liegenschaften ist’s ein kurzer Weg gen Sommerrodelbahn und ja,
dahinten, das müsste besagte Skihütte sein. Eine drahtne Engverwandte sitzt
alsbald lotsend im Tourauto; um nicht achsbrechend auf erwartbaren Forstwegen
aufzuschlagen, muss das Personengewicht im Audi harsch reduziert werden. Die
Benutzungserlaubnis für Waldwege im Eigentum des Freistaates Sachsen liegt
parat, los geht. Doktor Makarios treibt sich alldieweil von selbst den Berghang
hoch. Immerhin zeigt die Quecksilbersäule hier einige Grade weniger als
talwärts an.

Wieder
hat’s ein Auto erstaunlicherweise den Berg unbeschadet hochgeschafft, darinnen
verbirgt sich allerhand leckeres. Und der Erzgebirgler wäre weiterhin keiner,
wenn er nicht mit dem Löffel aus Holz drohen würde, sollte wer nicht pünktlich
stante pede vorm Besteck sitzen. Lieber schnell hinein, es lohnt sich wahrlich
und schmeckt ungemein. Bei Tisch wird sich kennengelernt und der Satz: „Nun
noch einen Teller, ich mach ihn dir voll“, bestimmt das Vokabular. Befürchtet
wird nur der Gang zum Klo, wo’s nostalgisch plumpst, und wer die dafür vorgeschaltete,
blecherne Gerätevorrichtung nicht alsbald korrekt in luftverdichtende Position
bringt, dem droht Verwesungsunbequem.
Bevor
Eademakow jene gestern bereits am Elbhang eingesetzten Schnapspfeifen zum
Geschenk überreicht werden, respektive das Konzert startet, noch einmal lang an
die frische Luft, runter zum Talsperrensee geblickt (zwei Dörfer drin), Blicke
zur Rechten (Mördergrund), zur Linken (Teufelsgrund), und ein schleichendes
ZDF-Abendprogrammgefühl bestimmt die Szenerie. „Der Pfarrer von Eibenstock“
oder „Manja, das Erzgebirgsmädchen“. Liebe Drehbuchschreiber, rasch ans Werk
und bitte immer Fritz Wepper die Hauptrolle übertragen. Im „Pfarrer“ sollte
zudem unbedingt ein Auto auf dem Weg zur Skihütte in die Schlucht stürzen.
Diese Gedanken in sich tragend geht’s schließlich ans Konzertwerk in zwei Blöcken und da kaum einer der Anwesenden bisher weder Wirken noch Werk S.W. Pratajevs zur Andacht nahm, gibt’s nebenher einen Crashkurs übers russische Landleben. Makarios stellt einzelne Themenfelder (Fetisch, Tiere, Krankheiten usw) zur Auswahl und die nimmermüden Doktoren entführen das Publikum mit größter Fabulierlust in die Welt des großen russischen Dichters. Das wohlige, applaudierende Erstaunen darüber ist hinterher so groß, dass einer der Anwesenden Pratajevs Erben eine Moskau-Reise anbietet. Nun, das klingt nicht verkehrt: Russian Doctors live in Moskau. Warum nicht?
In der
Pause tröpfelt es Schnaps aus Flaschen, werden Gläser wonneleicht gefüllt.
Doktor Pichelstein bekommt ein neues Fingerpflaster zum Absinth und sehr viel
später endet dieser zu tiefst gelungene Abend im Hotel Saigon, im Eibenstocker
Kleingartenviertel abwärts und bergauf. Zurück bleibt das Tourauto, sich darum
zu kümmern obliegt Doktor Pichelstein erst in ein paar Stunden.
27. Juni 2010, Dresden/ Elbhangfest,
Grottenwirtschaft
Singspucke (206)
Frühstücksfettlebe
im Hotel mit dem vietnamesischen Stadtnamen, in dem alles aus Bambus zu
bestehen scheint. Nur die Klobrillen nicht, die sind aus Holz. Zum Rauchen
geht’s auf den Freisitz. Eilig stürmt stoffbepackt die Herbergsmutter herbei,
ruft „Pops hoch, ja, Kissen, weich“. Man gehorcht allenthalten und schon will
gar nicht mehr aufgestanden werden. Aber das geht nicht, das heutige Konzert an
der elbhangigen Grottenwirtschaft soll vorm 16-Uhr-Spiel der deutschen
Mannschaft über die Bühne gebracht werden und bis dahin heißt’s wach und fit zu
sein. Das Auto muss vom Berg hinunter, Eademakow organisiert den
Shuttleservice, schon sieht sich Doktor Pichelstein erneut sterbend untergehen.
Doch am Ende ist alles gut. Mit dickem Filz malten Angehörige den Weg von der
Skihütte zum Saigon aufs Papier. Eine Wegbeschreibung, die nur ein wahrer
Erzgebirgler nonchalant hinbekommt. Wobei nicht außer Acht gelassen werden darf,
dass sich Doktor Pichelstein ohne seinen verehren Navigator Makarios überall
und immer verfährt. Welch ein Glück also, dass kein Notruf von der
tschechischen Grenze beim kissensitzenden Sangesdoktor abgegeben werden muss.
Die
Klimaanlage im Auto hat ihre besten Jahre bereits hinter sich, die Sonne
brennt, der Schweiß rinnt, Dresden wird über Pirnas Umgehung erreicht und als
endlich das Elbhangfest teilweise im Schritttempo durchfahren ist, heißt es:
Gitarren besaiten, für Flüssigkeitszufuhr sorgen, folkloristischen
Neil-Young-Klängen (feat. Peter-Bursch-Liederbuch, Teil eins bis drei) lauschen
(Bye bye love usw), Bühne umbauen und folgende Sätze des vorbändigen
Zupfgitarristen kopfschüttelnd hinnehmen. Sie lauten: „Hm, habt ihr vielleicht
eigene Mikros dabei? Ich weiß ja nicht, also ich bin ein bisschen vorsichtig
mit meinen Schätzchen, wenn jemand außer mir rein singt.“ Da fragt man sich
natürlich, was das soll. Sind Doktoren etwa dafür bekannt, schlimme Krankheiten
mittels Singspucke zu übertragen? Nein, ganz im Gegenteil. Sie bringen die
Heilung, stets und immer, und weil man mit solcherlei Mikrofon-Pathologie bei
Zeiten rechnen muss, haben Doktoren selbstredend eigene Singkörper dabei.
An
dieser Stelle möchten wir mal unserem lieben Hendrik und den anderen Freunden
der Grottenwirtschaft danken. Dem Hansi und einfach allen, denn immer wenn’s
zum Elbhang geht, freuen sich Doktoren ganz doll aufs Wiedersehen. Nicht nur,
weil ein leeres Glas in Augenschlaggeschwindigkeit wieder ein volles wird, die
Fischbrötchen nach Art Pratajevs munden wie der Kuchen aus der Pfanne. Nein, an
der Grottenwirtschaft sind stets alle so herrlich entspannt. Wenn am letzten
Elbhangabend die Zigarren zum Whisky kreisen, ach, dann weiß man, dass die Welt
wahrlich schön sein kann. Und so startet das Über-die-Straße-Konzert der
Doktoren. Während Makarios und Pichelstein den Vorzeltschatten innehaben,
räkeln sich die Konzertangereisten im Bankstelldichein ein paar
Baumschattenmeter weiter. Die Sonne brennt sich fest, Doktor Pichelsteins
rechter Daumen gerät blutig unter Hartsaitenbeschuss. Schnell muss es gehen,
wollen viele Songs in knapp über einer Stunde gespielt werden.
Zwischen
Merchansturm und Achtelfinalspiel Deutschland vs. England verdient sich’s
Töchterchen von Pratajev-Mitglied Biberowitsch die ein oder andere
Karussellfahrt. In Heimarbeit wurden vorab Tischaufsteller bastelnd zum Verkauf
gemalt. So ziert etwa seitdem ein zeichnerisches Werk namens „Bebende Brust“
den Schreibtisch der Pratajev-Zentrale. Dann gewinnt Deutschland 4:1; Doktor
Makarios is not amused, sein Tippweltmeister ist draußen. „England is going
home“, wird skandiert, doch eigentlich ist’s egal. Bei all den schönen
Momenten, die noch lange nicht vergangen sind.
06.
August 2010, Oranienburg / Biker-Club
Unter
Rockern (207)
In zwei Tagen ist „Internationaler Tag der
Katze“. Was liegt da näher, als rasch noch einen Pratajev-Text zu vertonen? Er
heißt „Kommt die Katz‘“ und beschreibt genau das Gegenteil. Das gemeinhin als
„symphytisches Felltier“ hoch im Kuschelkurs stehende Objekt der Begierde kommt
nämlich „nie mehr nach Haus“. Armer Pratajev, wissen wir doch längst, dass mit
der „Katz‘“ ein echtes, streunendes Frauchen gemeint war. Die Forschung tippt
hier auf Helga Bauer, genannt „Peitscha“. Wahrlich, so eine verliert man ungern.
Näheres darüber im Haus aus Stein Nr. 5 (Almanach der Pratajev-Gesellschaft,
Febr. 2011).
Bis kurz vor den Autonbahntoren Berlins waren
beide Doktoren über ein wetterschönes Wochenende d‘accord, durchkurvten lange
vorab (um überhaupt dem Freitagsgewimmel der Stadt zu entkommen) historische
Leipzigecken, welche Doktor Pichelsteins Horizont um Längen und engmaschige
Straßenplusbahntrassen erweitern sollten. „Da, das ist der Prügelweg“, gemahnte
Doktor Makarios etwa mit Zeigefinger gen Chemie-Leipzig-Stadion im vergessenen
(aber grünen!) Stadtteil Leutzsch. Der Doktor M. wird es, als LOK-Fan früher
Stunden, wissen. Mehr nicht vom Leipziger Fußball, erfreulich sieht noch anders
aus. Erfreulicher wären auch Pratajevs Sonnenschüsse, doch der Himmel weint und
die Scheibenwischer haben bis Brandenburg eine Menge zu tun. Oranienburg, die
ehemalige holländische, später russische Enklave, versteckt sich immerhin vor
Wolkenbrüchen. Untröstlich sind hier lediglich zwei Autofahrer, die sich kurz
zuvor in voller Fahrt vor einem Kreisverkehr das Blech gaben. Der Tourbus fährt
an juvenilen Rasern vorbei, deren Leben nun für lange Zeit ein völlig anderes
sein wird. Tauschen möchte man mit denen in keinster Weise. Nun denn. Den
Biker-Club zu finden gestaltet sich mittelgradig schwer, doch als Doktor
Pichelstein das Steuer endlich verlassen darf, überwiegt die Freude. Steffen,
Mann für alles und fürsorglicher Veranstalter, gibt den Scout. Bald ploppt das
Flensburger und jedem Rocker, dem die Hand geschüttelt wird, steht ein Lächeln
im Gesicht geschrieben. The Russian Doctors – erstmals in Oranienburg. Und
hoffentlich bald wieder, denn der Abend wird aufs Äußerste gelingen. Das sei
bereits verraten.


Vermisst wurde nur Bermasik Junior,
Holzlöffelschnitzer der Pratajev-Gesellschaft. Hoffen wir, dass er beim
nächsten Mal mit einigen Damengebissen aus Holz aufwarten kann. Und danken
allen, den Rockern, den Bückern, den Bikern, unserem gruftrufenden Dichtergott
Pratajev und natürlich allen Katzen dieser Welt. Für ihren unermüdlichen
Einsatz, Licht ins dunkle Leben zu bringen. Auch wenn sie dafür manchmal vorne
ans Fahrrad geschnallt werden. Eine letzte Bratwurst rundet den Tag ab und froh
sind Makarios und Pichelstein, dass die Herberge gleich um die Ecke steht. Nur
Schnaps geht nicht mehr ein noch aus.
07.
August 2010, Pirna/Hofnacht
Katastrophentouristen
(208)
Auf dem Niedriglohnsektor hört man gerne vom
bösen Satz „Mehr Monat als Geld auf dem Konto“. Nach einem Doctors-Konzert
lautet das davon abgeleitete Sujet: „Mehr Schnaps als Tag im Kopf“. Den Fahrer
des Tourbusses, in Person Doktor Pichelstein, trifft ebendiese Weisheit
manchmal hart und heftig. Und wenn es dann noch regnet, im Bus selbst wohliger
Müff aufsteigt, das Wuschen der Scheibenwischer jede Langmut bestimmt - dann
ist Erlösung fern, unterbrochen durch Tankstellenbockwürste und literweise
Kaffee plus Cola.
Doch stets werden sie tröstend ausgesprochen,
die besorgten Sätze des Navigators Makarios: „Mein Doktor, geht es Dir gut?
Kannst Du noch fahren?“ Die Antwort lautet in der Regel: „Aber nur mit MDR
Radio Sachsen“. Schon beschallen Günter Geißler (haben wir ihn selig), Marianne Rosenberg, Frank Schöbel
und der gefürchtete Roger Whittacker („Ich ging fort, obwohl ich doch glücklich
war bei dir, doch mein Traum von Freiheit war stärker. Ich war dumm, nun komm
ich zurück und an der Tür steht ein fremder Name. Und darum: Wenn es dich noch
gibt…Hmm Hmm Hmm Hmm Hmm“) die trübe Stimmung. Bald wippen alle entzückt mit.
Was wäre die Welt ohne derart anrührende Songtexte? Ja und richtig, was mag die
Frau vom Roger wohl gedacht haben? Solche Fragen muss man stellen! „Dieses
Schwein, lässt mich hier schwanger zurück und dann klingelt der zehn Jahre
später einfach wieder. „Hello again, du isch möschte disch heut noch sehn“,
selbes Thema, anderer Autobahnkilometer.
Pratajevs Texte sind dagegen aus einem völlig
anderen Holz, wie wir alle wissen. Heute geht’s nach Pirna, zur Hofnacht, dort
vermag später am Abend die Rede von ihnen sein. In der Langen Straße und der
Regen donnert aufs Blech. Nasse Premiere also, denn seit Beginn der
Doctors-Festspiele vor einigen Jahren nässte es am ersten Augustwochenende
dergestalt in Pirna noch nie. Ins Casa Italiana geht’s zunächst, dortselbst
warten feinste Pensionszimmer. Erschöpft liegt man herum, doch nicht ewig.
Draußen tritt die Elbe über die Ufer. Mal gucken, mal gucken. Tatsächlich: Vier
Autos droht der Strom mit sich reißen zu wollen. Der Pegel steigt, das Wasser
läuft ins Innere der Wagen. Doktoren reihen sich ein in die neugierige Gilde
der Katastrophentouristen. Ordnungsamtfrauen in dicken Gummistiefeln werden zu
Street-View-Furien, knipsen digitale Beweise aus misslichen Lagen. Da! Endlich
rast Abschleppservice Uwe Schulz heran, delegiert durch die örtliche Polizei.
Herr Schulz wittert das Geschäft des Tages und beeilt sich mit dem Abtransport
seiner zur Luft gehieften Ladung. Sturzbäche verlassen das erste Auto und ein
Rentner ist sich sicher, dass da nichts mehr zu machen sei. Elberadfahrer,
ganze Lehrerzimmer, steigen ab. Camcorder surren, sächsische Mundart schimpft
auf in Scherben stampfende Pfützenkinder hinab. Doktoren zwängen sich unter den
Schnäpelschirm und ein aufgeregtes Mädchen betritt die Szene. Es rennt direkt
auf die Elbe zu. „Mein Auto! Mein Auto!“ Bis eben trockene Stiefelchen stehen
randvoll im Wasser. „Schafft sie’s?“ Man ist sich nicht sicher und starrt
gebannt. Ein Elbedampfer macht kehrt; Flussabwärts geht nichts mehr. Dickes
Holz treibt auf dem Wasser und das Mädchen würgt den Motor ab, falscher Gang,
Hysteriefaktor 100, dann Applaus! Pech für Uwe Schulz, doch der hat bereits den
nächsten Wagen am Haken.

Nächtens wird die Elbe weiter steigen und
damit drohen, die Hofnacht vollends zu bewässern. Mit ungeschätzten
Promillewerten muss sogar der Bus noch in Sicherheit gebracht werden. „Hinauf,
hinauf, alles muss hinauf“, wird man’s durch die Gegend schallen hören. Bis in
die Querbar hinein. Auf einen Schlafschlummertrunk unter Trunkenen. Nass, wie
sie alle sein werden. Von oben, unten und erst recht von innen.
17.September
2010, Berlin/Schokoladen
Erneuerbare
Energien (209)
Unmittelbaren Uhrzeigern kann man durchaus
feindlich gesinnt sein; grimmiger Fatalismus breitet sich im Tourauto aus.
Berlin will partout nicht in die Nähe des Geschehens rücken; das oder besser
der Schokoladen in Mitte schon gar nicht. Hunderte Polizeiwannen stehen Pate im
Stau. Sei es vorm Herrenklo der Raststätte Fläming, sei es am Berliner Ring.
Denn morgen erwartet die Hauptstadt 100.000 Demonstranten zur Umzingelung des
Regierungsviertels gegen garstig blühende Atomlandschaften.
Dabei bringt die dafür verantwortliche,
derzeitige Bundesregierung bereits genügend erneuerbare Energien in Umlauf. Das
heiße Reden schwingende Unternehmerwindrad Westerwelle (no one can reach me the
water) sei hier ebenso erwähnt wie der pharmafreundliche Gesundheitssolarpark
Philipp Rösler oder die Biogasanlage Merkel. Doch genug der wohlfeinen
Empörung, denn dies ist immer noch ein Kohlekraftwerk, nein, ein Tourtagebuch.
Darin spielt sich anderes ab. Nämlich die Musik der Russian Doctors, das
trinkfreudige Andenken Pratajevs und all die Dinge, die nebenher passieren.
Dinge, die zum Nachdenken anregen (in welcher Stadt gab’s die meisten Schnäpse
auf die Bühne gereicht?), Momente, die unvergessen bleiben (wo ist eigentlich
der Hotelschlüssel?), Erlebnisse, die vorhersehbar sind (immer diese
Strafzettel in Berlin am nächsten Mittag) und Abenteuer, von denen die Jungs
und Mädels von TKKG oder den drei Fragezeichen kaum zu träumen wagen – meistens
mit einem Happy End versehen: „Herr Doktor, wir sind nur zwei Stunden zu spät
dran, 4 Stunden Leipzig-Berlin, das ist Rekord.“ Weniger mit einem Worst Case: „Sie haben im
Hotelzimmer geraucht!“ Kurzum: detailverliebtes, unvergessenes, mit großem Dank
ans Publikum und die Veranstalter versehenes Glück.
So geht es dann gleich vom Entfernungspunkt
Parkplatz (siehe Strafzettel) mit Sack und Pack auf die Bühne, ein rasches
Astra wird gekippt, Sound- und Lichtcheck folgen den Kartonpizzas (meine Güte,
wie notwendig! Dass die Verantwortlichen im Schokoladen aber auch jeden Wunsch
von den Lippen lesen können). Selbst die oftmals bange Frage: „Kann der Mischer
das Intro über die Anlage abspielen?“ verraucht, bevor sie erst gestellt wird.
Noch schnell ein Anruf im Hotel: „Wir sind dann so gegen zwei in der Früh da“
(von wegen: halb fünf wäre näher dran gewesen) und schon füllt sich der
Bürgersteig vorm Club, verteilen sich Astra-Biere und Mixturen, beginnt der
Einlass mit dem Treffen feinster Freunde. Ah! Eademakow, Hendrik, die Fanclubs
Potsdam I und II (danke, Robin nochmal für die herzensgute Faltratte nach einem
Modell des französischen Meisters Eric Joisel) trudeln ein. „Oranienburg fehlt
noch“, sagt ein Doktor dem anderen. Oranienburg wird vermisst. Denn hätte das
fehlende Auto aus der ehemaligen holländischen Enklave den Weg geschafft, wäre
das Schokoladen wirklich bis auf den letzten Stehplatz gefüllt gewesen. Will
heißen: So pickepackevoll war’s bei den Doctors in Berlin zuletzt 2006. An der
Demo morgen kann’s kaum liegen, denn ein Demonstrant muss bekanntlich morgens
früh aus den Federn. Ein Unterfangen, welches nach einem Doctors-Konzert nahezu
unmöglich erscheint. Sei’s drum.
Pratajevs Doktoren spielen sich in den nächsten Stunden den Fatalismus der Anreise aus den Poren. Deospray muss gar verteilt werden, leckere Schnäpse stranden am Bühnenrand, setzen erneuerbare Energien frei, und selbst der Kiezschläfer zu Pichelsteins Rechten erwacht „Beim Bücken“, rollt die roten Augen und kann nicht glauben, was er hört und sieht. Ob es zwischendurch eine Pause gab, lässt sich kaum mehr nachvollziehen; Makarios führt den Abend letztlich an die wohlverdiente Schnapsbar und Pichelsteins Finger müssen eisgekühlt werden. Schlapp wie eine Luftmatratze nach drei Tagen Festival hockt man da und wieder einmal nährt sich der Gedanke: Was bei Tage furchtbar ist, wird durch Pratajev am Abend schwer belohnt. Dafür gibt es ihn, dafür war er da und bekannt, unser großer, russischer Dichter mit dem gelben Zettel in der Hand. Vielleicht war der Zettel auch weiß oder ein Schnapsglas oder ein Schlips aus Lurch oder eine sehr junge Schwesternschülerin. Wer will das schon so genau wissen, morgens, wenn sich der Hotelpage fragt: Wo bleiben denn bloß meine Russian Doctors?
18.September 2010, Schwerin/Zeppelinbar
Offenporiger Asphalt (210)
„Saubamachen?“ Es klopft knöchrig an der Hotelzimmertür. Immer wieder und spricht darunter asiatisch. Auscheckzeit im knappen, nahen Westteil Berlins; Doktor Pichelstein duscht derweil noch in einer eher meditativen Geschwindigkeit. Dabei ausgeführte Yoga-Verrenkungen sind indes weniger meditativ gemeint, sondern dienen in erster Linie der Orientierung mitsamt der gern gestellten Frage: „Wo bin ich hier eigentlich?“ „Nicht in der Musikerwohnung des Schokolandens“, beglückwünscht dazu das innere Gemüt. Denn besagte Unterkunft ist eher etwas für Bands, die ihren Meister beim Nachtpullern suchen. Und nicht nur ob des langen Kloweges wandernde Hämatome und Schmerzen davontragen. Derartige Wege während einer Tour wurden bisher im Reisebuch der Russian Doctors noch nie beleuchtet. Das wollen wir mal ab heute ändern und verweisen auf diverse, diesbezügliche Abenteuer der Bands Die Art vs. Wissmut. Wenn Doktor Makarios im Tourauto plötzlich herzhaft mit Lachen und Niesen zugleich beginnt, steckt ihm nämlich meistens eine solche Anekdote im Hals. Keine wollen wir hier erwähnen, fragt die ARTigen da mal besser selbst.
Ein Frühstück für 15 Euro kann kein gutes sein, also hinaus aus dem Hotel. Hinunter in die U-Bahn, wo der Handy-Empfang kurzwelliger wird. Der Fanclub Wismar will wissen, wo die Doktoren heute aufspielen und wann’s los geht. „Schwerin“ lautet die nahelegende Antwort, „Zeppelinbar.“ Allein das Aussprechen dieser beiden Wörter weckt wohlige Erinnerungen ans letzte und ans vorletzte Jahr. Übrigens fand 2009 dann doch ein morgendlicher Klosuchweg statt; er endete (bekanntlich) mit wüsten Beschimpfungen eines voyeuristischen Nachbarn. Die Sonne schien und warm war’s; heute kühlt es sehr. Und später, auf dem Berliner Ring, fängt’s sogar zu regnen an. Ganz Brandenburg ist ein einziges, überlaufendes Fass Regen; nur manchmal erleuchtet sich der Himmel darüber und trägt hellgraues Zellophan. Der Weg führt über eine Teststrecke. Über offenporigen Asphalt. Hui, mag man da denken. Offenporiger Asphalt! Das klingt schon irgendwie nach Betonkrebsabwehr, nach früher Gesichtspflege des derzeitigen Außenministers, ist aber nur eine „spezielle Art des Asphaltbetons“, die in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Auch: Dränasphalt, Flüsterasphalt oder lärmoptimierter Asphalt genannt. Wobei beiden Doktoren das mit dem „Flüsterasphalt“ am besten gefällt. „Komm, mein Doktor, lass uns nur noch über Flüsterasphalt fahren. Dann machen wir weniger Lärm.“
Wie schön. Kaum von der Bahn runtergefahren, scheint die Sonne wieder. Bächlein fließen an Minen- und Munitionsgebieten vorbei. Landmaschinen gewinnen alle Oberhände, die Wälder sind alt und gut gemischt. Pilzgebiete türmen sich auf in ländlicher Gegend. „Ah! Steinpilze“, denkt Doktor Makarios. „Pause machen“, hingegen Doktor Pichelstein. NDR 2 liefert die passende Bundesliga dazu. Reporterin Sabine Töpperwien wird erst später vom Sender hinzugeschaltet; die schreit bis zur Schlusskonferenz nur für den WDR. Das ist gemeinhin wichtiges Wissen! Denn Frau T. ist so etwas wie die schreiende Naddel unter den Bohlens dieser Fußballwelt.
Während Doktor Makarios samt Pilzkörbchen im groben Dickicht entschwindet, liegt Doktor Pichelstein im Auto, zieht ab und an eine Gitarrensaite auf und beobachtet all jene Wanderer, die ihn umso misstrauischer beobachten. „Hm, wie passt das zusammen? Sitzt einer hier im Auto aus Leipzig am Waldrand, hört Radio und fuchtelt mit einer Gitarre herum?“ Übrigens lautet der Standartsatz in strukturschwachen Regionen, was die kameraeske Boulevard-Aufbearbeitung von Mord und Totschlag á la „Der Raucher von Bolwerkow“ betrifft: „In dieser Gegend! Nein, das hätte ich nie für möglich gehalten. Das liest man doch immer nur über die Großstadt.“ Von wegen. Selbst Pratajev wusste es als Agrarromantiker besser.
Dann aber wird städtisch vorgefahren, das Schloss hinter sich gelassen, im Wurm (so heißt das quirlige Gebiet um die Zeppelinbar tatsächlich) gehalten, ausgestiegen. Die Knie schlottern ein wenig, der Lange raucht vor der besten Schnitzelbar der Welt und das Hallo ist sehr groß. Wie wunderbar, wie gut. Die einzige Frage, die jetzt noch bleibt, ist folgende: Erst den Schnitzelteller verputzen oder vorher einen Willkommensschnaps kippen? Nur Schwerenöter finden auf sowas keine passende Antwort. Sie lautet natürlich: Beides zugleich. Los geht’s mit dem Konzert erst in 3 Stunden. Wer jetzt ins Zeppelin rein darf, sollte vorher schlau gewesen sein und reserviert haben. Alle Tische sind belegt. Einer davon gebührt den Doktoren bis zum nächsten Tisch und der verortet sich wenige Ecken weiter. Volle Kaffeetassen nebst Astra im Alternativcafé, Ecke Ergo-Versicherungsgruppe. Leicht fallen die Augen zu, auf geht’s und zurück, von Null auf Hundert. Gar nicht so einfach.
Des Langen Assistentin gemahnt zum Bühnenaufbau, der Mischerchef selbst bleibt cool wie immer. Ob’s diesmal wieder ein Konzertglas voll Wasser gibt? Und dann kommen sie beinahe alle wieder, die Freunde, das Publikum vom letzten Jahr. Und haben ganze Nachbarschaften in Mittäterschaft gezogen. Vor lauter, feiner Konversation gerät der Soundcheck leicht ins Hintertreffen. Ukrainischer Schnaps wird vorm Zeppelin bereits in Plastebechern gereicht. Oder ist es russischer? Beschwingt davon versuchen Doktoren beim Intro Haltung einzunehmen. „Hier sind sie, The Russian Doctors…“ Doktor Pichelsteins Finger, ob der gestrigen Schlacht im Schokoladen mit Fixomull versorgt, halten Schritt und rasen davon. Makarios ringt mit der Stimme und alle damit ein. Der Lange macht einen Superjob und tatsächlich: heute gibt’s kein Wasser, sondern Vodka. Und diese ersten Gläser werden beileibe nicht die letzten sein. Der Applaus ist stets warmer Regen auf offenporigem Asphalt, die Pause ein Zuckerbrot und die Peitsche schwingt mit. Bis zum Schluss im rappelvollen Club. Bis gar nichts mehr geht, so etwa drei Stunden später. Doch die Schnapsbar führt die Siechenden dann wieder ans Licht.
Am nächsten Mittag, in der Pension, weiß keiner der Doktoren dem anderen ein entsprechendes, nächtliches Kloabenteuer zu berichten. In solchen Fällen sprechen die Experten von einem „reibungslosen Verlauf“.
24.September 2010, Chemnitz/Subway to Peter
Die wirklich wichtigen Nachrichten (211)
Die wirklich wichtigen Nachrichten kommen nie in den Nachrichten vor – das ist eine alte Weisheit, die beiden Doktoren häufig zur Last fällt. Denn hätten beispielsweise die Tagesthemen erwähnt, dass Chemnitz bis auf Weiteres aus Leipzig nicht wie gewohnt zu erreichen ist, sprich: Die Bundesstraße 95 nur noch autobahnbauverzögerte Makulatur ist, wäre der Tag ein wenig heller gewesen. Doktor Pichelsteins Miene ist eh nicht freudig verstärkt, zumal die Abfahrt vom Labelbüro der Doctors einer stauenden Wiederholungsschleife anheimfällt. Bestenfalls betrachtet man es so: Der Auspuff am Tour-Audi hätte niemals den bis dato noch unbekannten Wald- und Wiesenwegen (den Begriff der „Landstraße“ wollen wir lieber außen vor lassen, denn hiesige Beton- und Kopfsteinausläufer verdienen diese Note kaum) gen Chemnitz stand gehalten. Nur gut, dass die wohlfeine Tourbelegschaft auf den hinteren Sitzen so gute Ohren hat. „Es klappert, es klappert immer lauter unter mir!“ So wird eben umgesattelt auf den Bus portugiesischer Herstellung. Wie gut, dass der noch auf dem Hof steht und in (wiederholt) rekordverdächtiger Zeit von zwei Stunden schließlich das Subway to Peter erreicht. Pichelstein ist ganz grün im Gesicht. „Schotterschotter, brems, holper, kurvkurv“ – letzte Beschreibungen einer unrühmlichen Andacht verdingen sich im Kurzzeitgedächtnis. Und selbst der sonst so zuverlässige Gutelaunebär MDR Antennen Sachsen bringt bis zum Schluss keine echten Schlager zum Wohlfühlen und Mitsingen. Nein, Evergreens auf Englisch stehen heute auf der Abendplayliste Wie furchtbar. Wie schrecklich. Da kann jetzt nur noch das Subway helfen, ein kaltes „Breschnew-Bier“ aus Uwes Kühlschrank, dazu ein Schnaps und gefühlte zwei Minuten Soundcheck. Und natürlich ein volles Subway, angeführt von den Fanclubs Karl-Marx-Stadt, den Pratajev-Freunden der Fliehenden Stürme, den virtuellen Freunden, die in Echtzeit viel besser, schöner und manchmal auch genauso gut aussehen. All das mag bitte in Erfüllung gehen.
Unter Nudeln, denn „1000 Nudeln durchbohren mein
Herz“ hat Pratajev mal gedichtet, mischt sich Salat. Doktoren lutschen darunter
hinaus warmes Tofu, Pichelstein ist noch immer grün im Gesicht. Aber diesmal
liegt’s am Thekenlicht, bald wird‘s verschattet durch einkehrendes Publikum.
„Das Projekt der Musiker Makarios, ex-Frontmann von Die Art, und Pichelstein
vertont die Lyrik des fast vergessenen russischen Schriftstellers Pratajev.
Eine Trash-Pop-Lesung mit schwarzem Humor und in atemberaubender
Geschwindigkeit vorgetragene Heimatlieder, untermalt durch Gitarrengewitter
(…)“ trinkt sich derweil warm am
okkupierten Stammtisch der Pratajev-Freunde KMS und ein Doktor fragt den
anderen, ob er bereits bei Die Art wieder gekündigt habe. „Nein, mein Doktor“,
beruhigt Makarios, „hab ich nicht.“ Obwohl’s im Stadtmagazin, dem innovativen,
eloquenten (um diese beiden Fremdwörter einmal gezielt einsetzen zu dürfen)
„Stadtstreicher“ auf Seite 72, Heft 0910, genauso geschrieben steht. „Die
wirklich wichtigen Nachrichten kommen nie in den Nachrichten vor“, entgegnet Pichelstein
und erntet Zustimmung.
Die Uhr drückt auf die Tube, es geht auf nach
22 Uhr zu, die Erfüllung naht, das Intro lässt sich via Hausanlage großflächig
einschalten, Uwe sei Dank. „Hoffentlich reicht heute der Vodka-Vorrat“, genau
das mögen sich viele deren denken, denen der Tagesbefehl: „Doctors mit Schnaps
töten“ noch vom letzten Konzert der Erben Pratajevs im Subway in Erinnerung
geblieben ist. Doch heute, tata, ist vor allem Doktor Pichelstein auf der Höhe.
Obwohl er selbst nicht weiß, warum. Am Tofu kann’s wahrlich nicht liegen. Oder
vielleicht doch – schließlich besteht vegetarisches Lutschvergnügen in erster
Linie aus Chemie-Böhlen-Geschmacksverstärkern. Und dagegen bildet NUR klarer,
reiner Schnaps heilende Antipoden.
Nur zweimal fällt für Sekundenbruchteile der
Strom aus, das ist Minusrekord der letzten Konzerte hier. Vielleicht hülfe
etwas Kontaktspray, etwas Isolierband der Technik weiter. Aber privjet! Alles
geht weiter und alles wird gut, nein, bestens, denn Chemnitz sitzt nicht
geschlossen vorm Freitagsfernseher und hört die wirklich wichtigen Nachrichten
nicht, die es eben nicht gibt. Nein, das Subway ist rappelvoll und die
Zustimmung prasselt aus allen Ecken prächtig gen Bühne. In der Pause grünt
Doktor Pichelstein diesmal vor Glück und gönnt sich den stillen Moment eines
Franz-Beckenbauers beim WM-Sieg 1990. Außerdem ist der Weg zur Schnapsbar viel
zu weit und weiterhin außerdem stehen jetzt schon 14 halbleere Vodkagläser
hinter ihm. Das Motto lautet: „Heute wird genippt und nicht gekippt“.
Doch keine Sorge, nach dem letzten Akkord, der
letzten Zugabe und der Weltpremiere des Karussellführerliedes „Der Starke“,
sind alle Gläser blankgezogen. Mehr kann kaum berichtet werden, denn am Ende
sitzt man wieder dort, wo der Abend begann. Schwitzend, rosarot im Gesicht,
Kirschschnaps verkostend, glücklich. Bleib uns noch lange erhalten, Subway to
Peter in Chemnitz und kommt alle ja wieder beim nächsten Mal.
25.September 2010, Zernsdorf/Privatparty
Draußen
zu Hause (212)
Dankenswerter Weise ruhten Doktoren nächtens
in pflegerischer Umnachtung, nein Unterkunft, denn die Umstände mit der
Umnachtung betrafen lediglich Doktor Pichelstein, der mal wieder mit einem
nächtlichen Kloweg in Konflikt geriet. Was ihn letztlich ritt, schweren
Harndranges ins Schlafzimmer der Gastgeber vorzudringen, um dort sukzessive gar
an den Jalousien zu ruckeln, lässt sich selbst beim Frühstück nicht vollends
aufklären. Das gastgebende Helsingirl war aber dann so freundlich, sich des
Pichelsteinchens anzunehmen und führte es gekonnt eine richtungsweisende Tür
weiter. An dieser Stelle nochmals vielen Dank dafür. Zur Belohnung gibt’s
Freikarten fürs Pratajev-Fest am 04.11. in Leipzig. Die müssten noch auf dem
Beistelltisch im Wohnzimmer liegen. Nicht auszudenken, was alles geschehen
könnte, würde man die Doktoren mal in einem Camp am Hindukusch spielen lassen.
Schlagzeile: „Leipziger Musiker auf Klosuche von Taliban gefangengenommen. Hohe
Lösegeldforderung. KT Guttenberg reist in die Region. Bin Laden zu
Verhandlungen bereit. Vermummte al Qaida-Kämpfer bringen Video-Botschaft beim
Sender al dschasira heraus. Doktor Pichelstein hockt mit verbundenen Augen und
einer Erlenholzgitarre auf dem Boden und muss das Lied „Tote Bundeswehrsoldaten
im Wind“ singen.
Doch zurück zum Tagesmenü; heute geht es nach Zernsdorf,
Richtung Berlin, genauer: Richtung Königs-Wusterhausen, Schönefelder Kreuz. In
brandenburgische Idyllen, welche sich eigentlich nur durch die Auswüchse einer
in gewissen Kreisen beliebten Bekleidungsmarke trügen könnten. Doch wir wollen
das mal nicht näher kommentieren und in seiner Gänze kaum überbewerten. Denn,
betrachtet man solcherlei Chosen auf Realitätsebenen, haben wir es hier mit
überteuerten Stofffetzen zu tun, deren augenscheinliche Symbolik die Guten von
den Bösen trennt und die damit Handelbetreibenden schwerstens reich macht. Über
die Outdoor-Firma Jack Wolfskin lässt sich – unabhängig vom politischen
Standpunkt – ähnliches berichten. Wer meint, in einer 200 € teuren Labeljacke
draußen zu Hause sein zu müssen, bitteschön, der soll das tun. Trotzdem sei es
gestattet, mit spöttischen Fingern auf die wettergestählten,
generationsübergreifenden Tatzenträger (gerne an der rauen Ostsee im
Partnerlook) zu zeigen, sie anzulächeln und mit einem zünftigen „Aha, mal
wieder draußen zu Hause“ zu begrüßen.

Die Bühne ist eingekesselt von zwei
Schnapsbars. So spielt es sich wahrlich gerne in mehreren Blöcken. Zwischendrin
brennt das Lagerfeuer draußen aus Mischwald, wird Pratajev für alle wieder
lebendig, denn genauso mag es in den 50er Jahren gewesen sein. Früh fallen
erste Gäste um, feiern die beiden possierlichen Ratten im Käfig mit, halten die
Konzertkinder bei Liedern wie „Gefesselt“ besser mal die Ohren zu. Zernsdorf,
du Idyll am Speckgürtel Berlins. Deine Kalf-Familie, dein See und auch deine
Schuhberge vor den Türen werden uns immer in wahrer Erinnerung bleiben. Darauf
eine prächtige gute Nacht. Morgen geht’s zurück nach Leipzig. Noch ein letzter
Balkonschluck auf einen wundervollen Tag und Abend. Draußen zu Hause. Drinnen
aber noch viel lieber.
08.Oktober
2010, Braunschweig/Riptide
Der
Tag des Eies, an dem die Integrierten gegen die Nichtintegrierten Fußball
spielen, das Riptide erfolgreich dagegen hält und Kräutern aus dem
Wolfenbütteler Wald der schluckreiche Garaus gemacht wird (213)
Viele Wörter mit einem „au“ vorne dran rücken
den heutigen, internationalen Tag des Eies ins rechte Dotterlicht. So ist man
ausgeschlafen, ausgeruht, weil tags zuvor wenig ausgetrunken wurde. Selbst
einem Auffahrunfall auf der hoch frequentierten Autobahn 2 entkamen die
reisenden Doktoren durch rasches Aufmerken; Doktor Makarios‘ O-Ton: „Die zieht
rüber, die in dem blauen Bus zieht rüber“, lässt Doktor Pichelsteins Turnschuh
rechtzeitig auf der Bremse landen. Der Audi dreht ein wenig ab, kracht aber
nicht in den Kühllaster aus Bulgarien vor ihm. Manchen Menschen sollte das
Autofahren von Geburt an verboten werden. Darüber hinaus sollte dieses Verbot
auf Generationen hinweg vererbt werden. Das wäre doch mal was, au au.

Großflächige Konkurrenz weht die Doktoren am
heutigen Tag an. Ob’s dennoch voll wird? So spielen um Gunst und Aufmerksamkeit
gleich die Integrierten gegen die Nichtintegrierten Fußball (Ausnahme: M. Özil,
späterer Torschütze zum 2:0) im TV und im Berliner Olympiastadion. Wobei man
sich diesbezüglich durchaus fragen sollte, ob nicht haufenweise Bürger
deutschen Migrationshintergrundes ein so genannter „Integrationskurs“ feat.
„Integrationstest“ (bekannt durch Funk, Fernsehen und Thilo Sarrazin) auf Dauer
und Erträglichkeit gut täte? Schließlich hängt die Grundlage staatsbürgerlichen
Lebens und jedes verantwortlichen Handelns in einem Gemeinwesen von der
Kenntnis grundlegender Fakten eines Landes ab. Wenn dem so ist, dann beantworten
Sie folgende Fragen: Wie viele Einwohner hat Deutschland? Wer oder was ist
ClubMate? Nennen Sie drei Flüsse, die durch Deutschland fließen! Nennen Sie
drei deutsche Mittelgebirge! Wie viele Bundesländer hat die Bundesrepublik
Deutschland? Nennen Sie sieben Bundesländer und ihre Hauptstädte! (Quelle:
Integrationstest des Landes Hessen, außer: Frage 2) Setzen, sechs, ausweisen.
Der nächste bitte.
Doch hinfort, du Politik des Schreckens. Und
hinein in die Bühnenecke, unweit der Schnapsbar im Riptide. Platten und CDs im
Nacken, viel Publikum vor der Gitarre und vor den Mikros. Gut so, sehr gut.
Damit war kaum zu rechnen und es dauert nicht lange, dann fängt Doktor Makarios
sie alle ein. Mit Wortgewalt, mit Pratajevs Texten, den Zwischenrufen und
Gitarrengewittern des Ärztekollegen Pichelstein zur Rechten.
Es wird eines der kürzeren Konzerte, weil nach
23 Uhr die Hörrohre der innerstädtischen Nachbarschaft mit den Blaulichtern der
Braunschweiger Polizei kurzgeschaltet werden. Und so geht’s nach etwa 1,5
Stunden bereits wieder an die frische Luft. 3:0 besiegte mittlerweile
Deutschland die Türkei, Eberswalder Veterinäre stoßen auf Doktor Kuhin an,
Pratajevs liebsten Tierarzt. Und sowieso geht es allen wie der Kuh heute Abend.
Denn der Kuh geht’s gut. Und denen, die davon singen, ganz besonders. Auch noch
in der Früh, am Frühstückstisch des Verlagshauses. Auf dem die Flasche mit den
Kräutern aus dem Wolfenbütteler Wald stetig leerer wird.
09.Oktober
2010, Weißenfels/Vodkaria im Schloßcafé
„Ihr
seht aber scheiße aus!“ (214)
Doktor Pichelstein blinzelt verschlafen in die
pralle Sonne, Doktor Makarios ist schon länger auf den Beinen, respektive auf
der Verlegerterrasse, und man resümiert, freut sich über das Glück des
gestrigen Abends. Ein Westbesuch, wie er lange nicht war, muss bald zu Ende
gehen. Die Kniee schlottern ein wenig, der gebrühte Automatenkaffee mundet am
Lachsbrötchen. Ja, den Erben Pratajevs geht’s mal wieder ganz schön gut. So
wünscht man sich das Beste beim Abschied im Meiner Verlagshaus und fragt sich,
ob Herr Reiffer nicht bald – ob der vielen, schönen Buchvorräte – anbauen
sollte. Vielleicht eine schmucke Dependance in Leipzig gründen? Das wäre doch
was. Aber nun; Strafzettel von der Windschutzscheibe genommen, über A2-freies
Gebiet, über Bundesstraßenland, durch den Harz geht’s weiter im Toursegen gen
Weißenfels. Der freundlichen bis trinkfreundlichen Stadt im anhaltinischen Teil
Sachsens (wie böse, königstreue Zungen behaupten).
Zwischengestoppt wird in Leipzig, da ist die
große Radio-Antenne-Schlagerparade des heutigen Samstags bereits Geschichte.
Sind die herbstlichen Hits von Helene Fischer („Von Null auf Sehnsucht“) oder
des bemerkenswerten Frank Ramond („Das war doch gerade neulich“) bereits
Ohrwürmer von gestern. Wobei vor allem Doktor Makarios folgende Textzeile des
Künstlers Ramond (wird zumindest auf Radio Antenne französisch ausgesprochen,
ja ausgehaucht, du liebe Güte!) „Ich war zu jedem Scheiß bereit. Und schrieb im
Keller ein paar
Schnulzen. Die eine traf den Nerv der Zeit (…)“ in großes Staunen
und Raunen versetzt. Großer Text, viel Gefühl und Information, möchte man
meinen. Aber da beide Doktoren nicht eben über gemütliches Kellerinterieur
verfügen, dort selbst eher das steht, was einst einem widerstehlichen Touch an
Unbrauchbarkeit anheimfiel, sind auch in Zukunft keine „im Keller geschriebenen
Schnulzen“ der Russian Doctors zu erwarten. Obwohl derlei Schmalz und Gehauche sicherlich den Nerv der Zeit treffen
könnten. Es folgt eine kleine, ideenbehaftete Auswahl: „Die feuchte Schimmelwand“,
„Eine Assel am Mittag“, „Ein Sommer mit vier Reifen“ oder „Die vergessene
Matratze“.
Weißenfels wird in anbrechender Dunkelheit
erreicht, unten rattert der Kopfstein, oben flattern Pappplakate mit der
Posterdraufschrift: „Die Russen kommen“. „Damit sind wohl wir gemeint“, sagt
ein Doktor dem anderen und nickt sich wissend selbst zu. Dawei, dawei, dann
nichts wie hinein in die Vodkaria des Schloßcafés - der Empfang ist riesig. Es
gibt Vodka zur Begrüßung und Vodka zum Essen und der Tisch darunter biegt sich.
Gefüllte Pelmeni, russischer Streichquark, Senfgrukenhäppchen und immer wieder
Vodka. Zur Verdauung, Appetitanregung, zum Anstoßen. Unter Fotobeschuss liegt
der Vodkaria-Sowjet; Kommandant Berlin hat den Laden im Griff. Leicht
schwankend wird nach diesem Frontalangriff aufs helle Köpfchen die Bühne
aufgebaut, läuft der Soundcheck wohlig am Rücken herunter, wird’s voller und
voller an der Schnapsbar. Plötzlich jonglieren sich Eisblöcke mit Hammer- und
Sichelgravuren auf den Tischen, werden darin vielsortige Vodka-Flaschen
platziert, sogar eine Vodka-Lutscheisbahn zeigt Statur. Zeit ist es, das
Konzert alsbald zu beginnen, sonst wird’s ein Schuss nach hinten. Schüsse nach
vorne, in offene Münder, die sich zeitgleich am Absingen der russischen
Nationalhymne versuchen, fallen auch; doch ist die dafür zuständige Kalashnikow
aus durchgekühltem Glas. Drinnen schüttelt sich das Vodkamagazin und die
Feldmänner legen los.
Vor lauter Schnapsseligkeit dauert’s
tatsächlich ein wenig, bis auch der Letzte im Saal begreift, dass die Musik nun
live spielt. Davon schließlich beeindruckt wird der Vodka von russischen
Matrosen auf die Bühne gereicht. Die Gläser sind kopfwärts gefüllt. Nur sind es
keine Gläser, sondern derart genormte Eisblöcke. Herrlich ist‘s, wenn der
Schmerz nachlässt. Und die Pause einschlägt. Danach gibt’s wahrlich kein Halten
mehr, tanzen die Matroschkas übers Parkett, wird keine Zugabe ausgelassen,
stehen knapp 3 Stunden Konzert auf der Habenseite; ein Pusten und Keuchen
beider Doktoren ist zu hören, der Weg an die Schnapsbar gerade noch machbar.
Dawei, dawei im Gelbfroschtempo. Und aus sicherer Distanz betrachtet wird das
Rund der Bar zum Hahnenkämpfchen; unter den Geschlechtern ist einiges zu
klären, von dem tags drauf gewiss niemand mehr etwas ahnt. Wie gut, dass
Schnaps so vergesslich macht. Vielleicht liegt darin auch ein bisschen Heilung.
Aber erstaunlich ist es schon, wenn der eine nicht mehr weiß, dass er nicht
mehr mit der einen zusammen ist, weil der andere die jetzt haben will. Nicht
der im Holzfällerhemd; der platziert zwar gerade die Hände auf den Po der ganz
anderen, doch kommt damit nicht weit, später sitzt die ganz andere auf dem
Schoß des völlig anderen und niemand wird sie kriegen. Doktoren geraten auf
Beobachtungsposten völlig durcheinander, fragen aber schon mal nach.
„Plopp“, macht das 5-Uhr-Beck’s in der
nahegelegenen Pension „Am Klemmberg“ (Motto: „Bei uns liegen sie immer
richtig“), wenig später wird besagtes Motto flurwärts durch ein zackiges „Wenn
ihr noch frühstücken wollt, dann aber Hoppi Hoppi“ jäh unterbrochen. Also:
Marschbefehl zum Speisesaal. Im Flur treffen sich beide Doktoren artig im
Nachtkostüm wieder. Doch kaum darin im Speisesaal erschienen – der zudem von
einem kichrigen, weiblichen Klassentreffen ab 40 teilbesetzt ist – heißt es vom
Buffet her schallend: „Ihr seht aber scheiße aus!“ Tja, was soll man dem
entgegen halten? „Das war der Schnaps“, versucht Doktor Pichelstein den
hustenden Hauch einer Erklärung abzugeben. Doch die harte Wirtin lacht nur, wie
es früher, zum Entsetzen Pratajevs, in Russland mancherorts nicht anders war.
Sehr still wird das Frühstück eingenommen.
Aber damit ist es nicht vorbei. „Im Zimmer geraucht!“ fällt sie, die harte
Wirtin, wenig später über Doktor Makarios her und mit einem zünftigen: „Zack
zack, fertig werden!“ ist Doktor Pichelstein gemeint, der unbedingt noch
duschen musste. Was wirklich Not tat. Mit Angst im Genick geht’s zurück zum
Auto, nach Leipzig, ins Bett.
04.November
2010, Leipzig/Fahrradladen Rückenwind, Pratajev-Novemberfest
Dobrij
vetscher, dorogie gosti kongressa Pratajewa! Pratajevs Freunde – Tutukins Erben
(215)
Endlich taucht er auf dem schlank gewordenen
Kalender auf, der lang ersehnte Jahrestag der Pratajev-Gesellschaft 2010. Noch
schnell ein wenig an der Uhr gedreht, schon stürmt’s abendlich durch Leipzig
hindurch. Der Herbst macht ordentlich Werbung für sich; güldene Blätter fegen
durch die Lüfte und Pratajevs Freunde aus zum Teil weiten Fernen herbei. Die
Laubsauger schweigen, friedlicher Feierabend beherrscht den Sektor krimineller
Stadtreiniger.
Mitunter beteiligen sich die Doktoren Makarios
und Pichelstein emsig an der Herrichtung des heutigen Rückenwind-Festortes. Es
gilt nach Geschäftsschluss Fahrräder aller Couleur in einen Lagerraum zu
verbringen. Im Geiste Tutukins versteht sich; jener Freund aus Pratajevs frühen
Jahren gab schließlich Ausschlag und Grund genug, das 1. gesellschaftliche
Novemberfest eben an einem Ort abzuhalten, an den es einen Radfahrgott wie
Tutukin mit Sicherheit zum Stalle gezogen hätte. Im Nu entsteht freie Fläche,
baut sich die Bühne davor auf, wird die Dopingbar aus dem Schleußiger
Regionalwarenladen von gegenüber befüllt. Bayerisches Hundebier, Wurzener
Gerste verkisten sich in Ausschanknähe. Ebenso ein kühlschrankbehafteter
Vodkavorrat, der im Laufe der nächsten Stunden einfach verdunsten wird.
Bergsdorfer Blutdoping an Russenschokolade schenkt derweil Frau Doktor
Manjoschka in Kassennähe all jenen ein, die mit vorbestellten und bestellten
Karten hineindürfen. Limitiert wurde der Abend auf 50 Gäste und weil Donnerstag
ist, stellt sich bald heraus, wer von ihnen vorab weder Krankenschein noch
Urlaub in den Chefetagen eingereicht hatte. Doch lange Gesichter sehen anders
aus; es gibt sogar Festteilnehmer mit weitaus interessanteren Gesichtszügen, als
sonst. Herr B. aus C. etwa trägt, einer alten Zahnweisheit zum Schuldspruch,
mit seinem 1-cm-Lächeln heute besonders dickbackig auf. Böse Zungen behaupten
sogar, Tiger Woods hätte ein neues Golfballversteck gefunden.
Dann nichts wie hinein ins Lastentaxi. Frau
Doktor Manjoschka stellt eine kleine Reisegruppe zur Straße der tschechischen
Hauptstadt zusammen. Herr B. aus C. hadert weiterhin mit den
Tiger-Woods-Golfbällen, das Helsingirl bastelt rasch eine Übeltüte aus einem
Russian-Doctors-Plakat. Gas gibt der Taxifahrer, hat er doch Angst um seine
Polster. Pokalträger Eademakow rettet derweil mit einem erstaunlichen Griff ins
Volle die letzte Hundebierflasche vorm Auslauf und am nächsten Mittag ist
Freitag, einfach nur Freitag. Es sei denn, der Wecker verlangt etwas anderes
von der Welt. Dankedankedanke fürs Dabeisein, lautet am Schluss der
Segensgruß.
26.November 2010, Leipzig/Frau Krause
Am
Tag als die Jodelkönigin starb (216)
„The Russian Doctors in Pratajevs Teehaus
Protnik“ – welch eine historische Schlagzeile, doch nein. Wir sind im Leipziger
Süden, in Connewitz, obwohl die Frau Krause schon stark den russischen Landen
entgegen strebt. Vielleicht sind wir auch in Prag, in Žížkov, und nebenan saßen
einst die russischen Offiziere vorm Wodka-Knobelbecher. Dies alles im
wohlig-poetischen Sinne gemeint, denn wen es dann und wann gen Connewitz zieht,
dem sei die Frau Krause in der Simildenstraße als unbedingtes Muss in den
Wohlfühlnavigator hineingelegt. „Kaum fassbar, dass wir hier noch nie gespielt
haben“, tuschelt ein Doktor dem anderen zu. Dann wird lecker gespeist, geraucht
und auf Pratajev angestoßen. Die Bühne steht bereits und nach dem zweiten
Becherovka liegt die harte Woche in Scherben. Freitag ist’s und das darf man
gerne wörtlich nehmen. Prost, mein lieber Wirt, hier ist’s schön.
Vorweg genommen sei gesagt: Noch in der Nacht
wird der liebe Gott die 90-Jährige Margot Hellwig aus Reit im Winkl zu sich
rufen, Ehrenringträgerin ihrer bajuwarischen Heimat. Unvergessener
Dirndlfrohsinn, Alpenglühen, Sex mit Florian Silbereisen und Psychopharmaka im
Lackschuhversteck. Lasst uns eine Gedenkminute einlegen. Doch das geht ja gar
nicht. Die Nachricht kommt erst morgen raus und geschichtsträchtig darf deshalb
vermeldet werden: Als die Jodelkönig aller Deutschen starb, betrank sich ein
feiernd‘ Volk in der prall gefüllten, dicht gedrängten Frau Krause und entließ
zwei völlig erschöpfte Doktoren erst nach drei Stunden feinster Arbeit aus
ihrem Pratajev-Set. In zwei Gruppen teilt sich besagtes Volk: in jene, die
vorwiegend gelben Schnaps verkonsumieren und in jene, die den Rest der
Getränkekarte kippen. Und natürlich ist da noch Baumfreund Ekmel, angereist aus
der brandenburgischen Heimat Helga Bauers, heute mit einem leichten Hang zur
Zurückhaltung versehen. Denn tags drauf, um neun, muss er auf die A9 und
Freitag ist morgen leider nicht angesagt.
Nahezu furios jagen Makarios und Pichelstein
die Feldmänner, Angler, Ratten, Biber, Katzen usw. durchs Haus. Ein erster,
noch schüchterner Schnaps wird galant aus Richtung Merchtisch gereicht. „Aha“,
denkt sich da der schwarze Tanzblock zur Linken, „So geht das also.“ Schon
fließen die Tablettpinnchen mit dem Feuerwassser bühnenwärts. Zur Belohnung
wird erstmals „Jeder Schluck“ in der tragischen Version gespielt. Mit
waschechtem Aaaa,ahhh,aahh-Arrangement in den sonst so gitarrenlastigen
Mittelteilen. Da bleibt keine Kehle, kein Auge trocken und später sind die
Schnapsflaschen derart leer, dass nur noch Eierlikör die Bestände sichert.
„Alle Schnapslieder nochmal“, wird verlangt. Gesagt, getan. Geburtstag hat dann
auch noch wer und schwer werden die Beine, die Arme, so schwer, dass beide
Doktoren gegen Ende des Abends nur mehr sitzen können. Auf Stühlen aus Holz,
vor Knobelbechern, Pratajevs Werk verteidigend und wissbegierigen Studenten
näher bringend. Der Vorstand der BSG Chemie steht Pate. Was für ein Abend, was
für ein Morgen. Frau Krause macht’s möglich. Hoffentlich immer wieder.
27.November
2010, Frankenberg/Privatparty
Wir
ackern und jodeln für Deutschland (217)
„Die
Jodelkönigin Maria Hellwig ist tot“. Jetzt ist die Nachricht auch im Radio
angekommen. Beide Doktoren erfüllt sofort tiefe Trauer, schallendes Gelächter
folgt auf dem Fuße. „Jodelkönigin, so ein Unsinn“, ruft Doktor Pichelstein. Und
Doktor Makarios entdeckt bereits die nächste Merkwürdigkeit des Tages. Ein
großflächiges Plakat nahe Frohburg mit der Aufschrift: „Wir
ackern für Deutschland – die deutschen Bauern“. Herrlich. Was das Handwerk kann
(„Am Anfang waren Himmel und Erde. Den Rest haben wir gemacht“), gebührt nun
auch den praktizierenden Feldmännern. Da zieht man gerne den Hut, den Obstler
gleich mit aus der Tasche. Und ackert und jodelt für Deutschland, dessen
schönste Kurven nicht unbedingt mit dem Tourbus zu erreichen sind. Dafür aber
Frankenberg bei Kälte und abendlicher Nacht. Sehr nah am Erzgebirge gelegen,
wirklich sehr nah, doch zu denen will
man sich hier nicht zählen. Vielleicht liegt’s am nahen Weihnachtsfest, an
Schwibbögen, Räuchermännchen und Bergmannskapellen. Denn um Weihnachten herum
wird das Erzgebirge mit seinen durchaus verschrobenen Kauzigkeiten
allgegenwärtig. Besonders eben auf einem budenreichen Weihnachtsmarkt. Ein
wahlloser Flecken Erde, den Doktor Makarios wie die Pest meidet und wer Max
Goldt kennt, der weiß, dass es dafür einen Zauber gibt. Den Zauber des seitlich
dran vorbeigehens. Doktor Pichelstein hingegen fühlt sich sehr zu einem
einzigen Flecken Leipziger Duselei hingezogen: Ecke Galerie Kaufhof, dort
gibt’s Jahr um Jahr den besten Glühwein und die leckersten Bratwürste in der
ganzen Leipziger Innenstadt. Zu erkennen ist der vertäfelte Stand übrigens an
seinem Leuchtturm. Wer dort steht und nippend still verharrt, möchte den kleinen
und großen Sorgen unserer wohlhabenderen Studenten und Studentinnen höchste
Aufmerksamkeit widmen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Welt der Marke FDP
wird einfach immer dümmer und scheinbar niemand kann das stoppen. Da ist man
lieber zum zweiten Mal im ganzen Leben werktätig in Frankenberg.
Vor drei Jahren gab es hier, in der
Feiertischlerei, bereits einen Doktoren-Auftritt und wieder heißt das holde
Geburtstagskind Sanne. Um Punkt zwölf werden die Sektkorken deshalb knallen und
bis dahin darf man tun und lassen, was einem so behagt. Die edel besetzte
Schnapsbar austrinken, lecker futtern, sich an heiß gegrillten Würstchen laben,
soundchecken, kuscheln, der Vorband lauschen, sitzen, tanzen, springen. Seitens
der Doktoren geschieht dies alles mitunter etwas verlangsamt, Frau Krause lässt
grüßen. Schöne Sache, großer Anlass, herrlich! An dieser Stelle schon mal:
Vielen Dank für die Einladung, es war den Doktoren ein Fest und Doktor
Pichelstein schaffte es gar, am nächsten Mittag den Tourbus wieder heile nach
Leipzig zurückzusteuern. Was zugegebener Maßen nicht leicht war und einem
spendierfreudigen Herrn Jägermeister angekreidet werden dürfte.

Gebremst wird der Rausch mit einer
Slow-Motion-Dreifach-Heilung; erstmals präsentiert Doktor Makarios darin die
gesungene Version C des „Alten Mütterchens“, dann wird pausiert, werden die
Stimmen wieder flott gemacht. Boxenstopp an der Schnapsbar. Kurven, wohin man
blickt. Doch Ende gut, alles gut – die letzte Zugabe liegt lang hinter Sannes
Ansprache an die Werktätigen von Frankenberg zurück und soll allen in
Erinnerung bleiben. An das, was die Russian Docs auch im nächsten Jahr
vorhaben, denn nach dem Ausflug an den Rand des Erzgebirges ist erst mal
Spielpause bis Januar. Dann wird in Chemnitz wieder geackert. Wenn auch nicht
für Deutschland und schon gar nicht gejodelt.
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