Sunday, January 03, 2016

Behandlungszeitraum 2009

















13. März 2009, Leipzig/Villa
Auf dem nassen Kajalstrich (169)


Ein Jahr, in dem es wohl nie Frühling wird, wir schreiben bereits Mitte März; nach langer Die-ART-Tour endlich das erste 09-er Doctors-Konzert. Dazu noch ein Heimspiel in der Villa. Zum 6. Geburtstag des Schwarzen Leipzigs. Zwergfledermaus und Dr. Wanderer sei Dank, unter anderem natürlich. Die gemeinsame Abend-Formation, Puppets on strings, checkt den Sound, sinister klatscht draußen der Regen auf die Kopfsteinbühne, in den Rauchbereich hinein. Der Wind dazu sei mein Stylist, mag sich Doktor Pichelstein denken und stemmt sich gegen einen Langschläfertag wie diesen. „Mein Doktor, lass uns mal den Whiskey probieren“; Worte, die bereits früh am Abend fallen und das noch vor der Nudelgabe im Backstage. Am Merchstand herrscht derweil reges Treiben; unterschiedliche Formen und Ausmaße der Trunkenheit werden weiblich diskutiert. Shiva und Pichelstein stoßen scheppernd an, Doktor Makarios mixt sich eine Cola-Basis zuleibe. Und dann wird es auf einmal richtig voll. Schwarzes Leipzig lockt! Das, obwohl allerorten Buchmesse ist. Pratajev-Verleger Herr Reiffer gerät unter den Gästestrom, ein Rattchen wird entdeckt. Es trägt Fototasche und wird die bühnenumsegelte Nacht später noch ins Visier nehmen wollen.



Kampfberaucht beim letzten Puppets-Stück geht’s in die Katakomben hinunter, vorbei an einem „Schwesternzimmer“, ausgerechnet. Das Intro läuft, das Publikum sieht hinreißend aus. Einfach schwarz und schön, im herrlichen Kontrast zum Wetter. Ein Kajalstrich besonderer Nuance öffnet seine arrivierten Pforten zu den Heimatliedern für Heimatlose. Grüße von der Bühne aus nach Torgau, Magdeburg, nach Halle, Weißenfels, nach Braunschweig, Freiberg, nach Karl-Marx-Stadt mit Herz und in die Südvorstadt. Doktor Wanderer bringt den zweiten Wodka, Doktor Makarios antwortet mit Pratajevs Liedtext „Gelber Schnaps“. Die Reihen lichten sich erst, als Musik aus dem Player ertönt, die letzte Zugabe gespielt ist und Doktor Pichelstein kann erstmals damit angeben, vor seinem Gitarrengewitter einen Ordner gesichtet zu haben. Soviel sei noch verraten: Eingreifen musste er nicht, nein, beide Doktoren benahmen sich weder unbotmäßig noch stürmten sie das Publikum. Eher stürmte es draußen und am Merchstand kehrte später sanfte Ruhe ein, mit einem Whiskey in der Hand, destilled and matured in Scotland. „Racke Rauchzart“ war sein Name und der Beschafferin sei Lob, sei Dank, sei very special Trank.     



20. März 2009, Chemnitz/Bunker

Götter folgen immer auf Halbgötter (170)



Mal schauen, was das LVZ-Horoskop Dr. Pichelstein heute beschert: „Kleinere Aufregungen positiver Art sorgen für einen recht bewegten Tagesablauf“, steht da schaafig ungeschoren. Nun, wenn es so ist. Im upart-Büro des Doktor Makarios tauscht man sich über Portugal aus. Und wie diese Südperle an Spaniens Backe irgendwie mit den Fliehenden Stürmen zu tun hat. Gen Portugal zieht’s in diesem Jahr beide Pratajevianer, mit den Göttern des besseren Punkrock wird heute im Chemnitzer Kühlschrank, dem Bunker, gespielt. Am B95-Rand pullern irgendwo in der Tristesse Landkinder zur Frohburger Piste, winken dem Tourauto hinterher. Als Alternative zum Counterstriken vielleicht. Familienministerin von der Leyen wäre begeistert  - und unter vergleichenden Aufzählungen sämtlicher Kreuzigungen am Straßenrand, weiterhin dem Pichelstein-Horoskop eher gleichgültig gestimmt, wird in der Folge Chemnitz erreicht.



Draußen ist es wärmer als drinnen; der Tag des Frühlingsanfangs 2009 mag als Unhold ins Jahrbuch eingehen. Dort soll er mal schön erklären, warum der Erderwärmung weiterhin scheinbar gänzlich getrotzt wird. Bunkerengel versorgen dickbemantelt zunächst die Doktoren, dann die Stürme mit Heißgetränken. Lagerfeuermündig geht’s zu Kaltgetränken über, zum Soundcheck, ins Subway zum frittierten Gastmahl des Erdbodens. Unter heimlicher Zufuhr von Bockwürsten; Mario sei Dank.



Zurück im mittlerweile aufgetauten und bestens gefüllten Kühlschrank. Am „Mörtsch“-Stand, gebuchtet neben der Bar, das große Hallo und Händeschütteln. Immer einseitig, weil die jeweils andere Hand für Schnapsglaserwärmung sorgen muss. Doktoren in Chemnitz – immer sehr schön und ganz zu Pratajevs Ehren. Endlich: Das Horoskop passt sich dem Tag an. Auch das Intro, die Gitarrengewitter, der Sound, die volle Hütte mit Schleim am Arm. Medizinisches Personal liefert Schnapsverkostungen auf die Bühne und wie im Flug, gefühlte 10 randvolle Schnapsrunden später, ist das heute minimierte Konzert der Doktoren auch schon mit dem „Gelben Fettfrosch“ vorbei. Doch wie es glücklicherweise irgendwo geschrieben steht: Nach den Halbgöttern kommen immer Götter auf die Bühne. Welch ein Glück, welch ein Geschenk. „Ich habe all meine Gläser zerschlagen, jetzt trink ich aus der Flasche“, schallt’s von der Höh’ und Doktor Pichelstein lässt sich, mit der Welt im Reinen, dabei das nasse Haupthaar kraulen. Tief verinnerlicht wird dabei aber gewiss gepogt. Am Tag darauf, weiterhin dankbar umsorgt von Vertretern des Medizinischen Personals der Stadt Chemnitz, fühlt es sich auch tatsächlich so an.      

Der Club der toten Katzen (deutsch kratzt so im Hals)

25. März 2009 – Prag, U VYSTŘELENÝHO OKA PU

Am 05. März 2005 spielten die Russian Doctors erstmals genau hier, im „Zerschossenen Auge“ ihr 70. Konzert ewiger Tourrechnung. 101 Konzerte später hat sich eigentlich gar nichts geändert; der Pub ist gefüllt bis auf die hintersten Plätze, die Gläser noch mehr und das Gulasch schmeckt zum Pivo beim Schnapse umso besser. Die Staus fanden vorab woanders statt; über schneeverhangene Erzgebirgskämme war man gefahren, mit leichtem Schnaufen im Gesicht wurde die tschechische Grenze überrollt. Gut in der Zeit und all das vor Augen, was später eintrifft: wenig Falschverkurvung, steile Auffahrt zur Pension 15 in Žížkov an gebuchtem Parkhof, Beräumung eines maximal 10m²-Doppelzimmers mit dicken Jacken und Pullovern. Denn die Jahreszeit, die kalendarisch ist, soll noch nicht sein. Winde fegen aus Ost, mischen sich mit Regen und Doktor Makarios raunt: „Das nächste Mal will ich hier nur noch im Sommer spielen.“



100 Kronen Taxameter später entlädt sich die Backline vorm Oka. Hinein geht’s in die kiffumrauchte Schwemme. Tourmanager Jarda Švec versucht sich am Beamer; nichts passt rein kompatibel zum anderen, ein neues Laptop wird gereicht und schon läuft der Film, der immer laufen muss, wenn The Russian Doctors in der Nähe sind: „Pratajev in Prague feat. Phil Shoenfelt as Charles Cockburn, BBC London, for Culture of the sheep”. Pavel Cingl sitzt am reservierten Tisch dem Holzfäller gegenüber. Vermutlich holzt er gar nichts, verfügt aber nur noch über wenige Finger, die dennoch emsig Joints basteln können. Jedenfalls wird er es sein, der nach dem Konzert von der obersten Türschwelle des Oka bis vors Aquarium fallen wird. Mit einem großen Pivo in der Hand und zwei Meter Liegenschaft dazwischen. Kleine Pivos sind übrigens Verhandlungssache, werden im Oka gar nicht gerne serviert, resp. nachgereicht. Denn bestellen muss man nichts; nur irgendwann einmal abbestellen, aber so weit ist es lange noch nicht. Zuzana, tschechisch versierte Pratajev-Übersetzerin, erklärt den Doktoren auf Schwitzerdütsch, dass sich tags zuvor in Prag der „Club der toten Katzen“ gegründet hat. Irgendwer zeigt Handyfotos mit mumifizierten Katzen herum und man jauchzt überm selbst gebrannten, 54%igen Apfelschnaps drüber, den Jarda besorgt hat.


Mit jener Brennglasfüllung im vollen Bauch („Dr. Pi is getting bigger“, murmelt Phil Doktor Makarios zu) geht’s auf die Bühne in Kaminfeuernähe und selbiges wird in der Folge musikalisch abgebrannt. Schnell, heftig, laut, versehen mit rasanten Trinkpausen. Davor, danach tost der Beifall und als alles gesungen und gespielt ist, fehlt selbst den meisten Tschechen die Stimme. „Deutsch kratzt so im Hals, ich kann nur noch englisch sprechen“, entschuldigt sich Zuzana beim Doktor Makarios. An den Tischen kehrt ein wenig Ruhe ein. Und auch jener Gastdoktor, den es während des Konzertes öfter auf die Bühne zog, um tschechische Bluesgesänge zum „Jägerlatein“ oder zum „Gelber Schnaps“ vorzutragen, natürlich schwer umjubelt, schläft jetzt.

PS: Spät nachts überlegen die Doktoren noch, ob das Stück „Jägerlatein“ mit seiner Refrainzeile „Eine Ladung voll Schrot und alles ist tot“ nicht derzeit ein wenig unschmeichelhaft erscheint, zumal vor zwei Wochen der Amoklauf von Winnenden durch alle Medien tickerte. Andererseits müsste man Pratajevs Werk dann aber mit dem Titel „Schülerlatein“ umdeutend versehen und das Viehzeug im Text durch Personen des öffentlichen Lehrkörpers ersetzen. Doch nein, keine Sorge, alles bleibt gut so wie es ist.

PPS: Noch später in der Nacht überlegt Doktor Makarios, ob es nicht an der Zeit wäre, endlich den lange geplanten Fotokalender „Katzen im Straßenverkehr“ herauszugeben. Wo es doch mittlerweile selbst in der tschechischen Hauptstadt einen „Club der toten Katzen“ gibt.


26. März 2009, Prag/Bunkr Parukářka

Der böhmische Killervirus (172)



Die Pension 15 wird von russischen Inhabern geführt und nach dem Frühstück darf mit ganzer, rührender Schwermut geklagt werden. Über ausbleibende Touristen, schlechtes Wetter, steigende Preise und Doktor Pichelstein notiert sich einen Satz, warum auch immer. Er lautet: Einer Bierstadt darf man nicht mit Weißwein kommen. Langsam ziehen Erkältungen ein; zunächst fröstelt Doktor Makarios, spekuliert optimistisch auf die Leuchtkraft der Prager Märzsonne, doch leichte Strahlen verschatten sich rasch zu einem sprenkelndem Einheitsgrau. Drückt nicht nur aufs Gemüt, sondern auch auf die Blase.



Unter der Sichtung städtischer, oft - aber immer wieder gerne -  gesehener Ausstattungsdetails laben sich Doktoren (weiterhin fröstelnd) bisweilen an böhmischen Schnittchen, ertränken einen gewissen Spätdurst mit Cola. Die Beine schmerzen vor Wanderslast auf dem Touristenkreuzweg, Kaffee vermag keine Heilung zu geben. Nur, dass man in Prag überall rauchen darf, ist schon ein großes, ja was? Chapeau! À la Bonheur! So schön war’s in der BRD auch mal: Symbiotische Kaffee-Zigaretten (draußen gefühlt winters, drinnen fein warm und im Trockenen, Hang zum Personal, all das). Geschwind nun ab über die Karlsbrücke, am Ende nach links, dann runter. Pullernmüssen. Es ist zum verrückt werden. Irgendetwas stimmt nicht, öfters wird geniest, der Hals kratzt – und das innerhalb beider Doktoren. Der böhmische Killervirus zersetzt unentwegt das bisher Gesunde. Inkubationszeiten werden beim Gulasch überlegt, Quellen der Infektion. Doch lecker Pivo lässt die Langmut schwinden, die Metro kutschiert beide Doktoren zurück nach Žížkov. Ein chinesischer Ladenverkäufer versucht Doktor Pichelstein an der Kasse um 150 Kronen zu behumpsen. Am Ende einer gestenreichen Diskussion steht der Chinamann selbst mit 80 Kronen in der Kreide. Glück gehabt, auch ohne Keks.  



Mit schnarchwunden Gaumenzäpfchen geht’s per Taxiirrfahrt gen Parukářka-Hügel, von dem aus man postkartenschön den babykrabbelnden Fernsehturm um die Ecke bringen kann. Die letzten, sehr bösen Meter zu Fuß, beladen mit Koffern und Gitarren, weil’s eben eine Taxiirrfahrt war und nicht jeder Tscheche seine Stadt so gut kennt, wie er es kronengerecht müsste. Übrigens gibt es ein neues Gericht auf Prager Speisekarten, in der Nähe diverser Kafka-Ehrungen. Essbares mit „Katze“ drin...



Bevor es 18 Meter tief in den Prager Atombunker geht, heißt es kneipend oberhalb: warten bis der Wirt kommt. Und er kommt sehr oft, prallen Tablettes, sehr zum Genuss des frühen Abends. Mut antrinken für den Gang in die Tiefe. Noch hungern die Doktoren, später wird indes eine Pizzeria konsultiert, denn die warnenden Worte des Makarios: „Mein Doktor, wir müssen was essen vorm Konzert, sonst wird’s vergessen und bei all dem Schnaps hier…“ sprechen Worte der Weisheit. Der böhmische Alkoholpegel liegt nun einmal durchschnittlich bei 1,4 Promille, also: gesagt und später noch getan.



Zum Verlauf des Eigentlichen: Zunächst spielen Secret 9 Beat einen panisch-punkigen Rock, wurzelnd in frühen Sonic-Youth-Scheiben. Viel Publikum gibt es da noch nicht; Jarda zeigt aber an, vor allem junge Tschechinnen würden noch erwartet werden und junge Tschechinnen würden den Bunkr stets zu späterer Stunde erreichen, das sei immer so, also "normaaaaal". Doktoren wechseln zwischen Konzert- und Thekenbereich hin und her. Ein Kreuz ist das. Im ersten Bereich ist es furchtbar laut, verkifft und stickig, im zweiten Bereich wird man mit Becherovka abgefüllt. Irgendwann, bevor Phil Shoenfelt die Gitarre zur Bühne trägt und als zweiter Part des Abends angekündigt wird, ruht Doktor Makarios kränkelnd im offenen Backstagebereich, der – streng genommen – keiner ist. Jeder, den es aufs Klo zieht, steht plötzlich mittendrin.



Wer weiterhin nicht auftaucht sind die jungen Tschechinnen und, was viel wichtiger ist: DJ špína. Übersetzt man diesen Königstitel der Turntables, würde „DJ Schmutz“ (den Doktoren im Oka versprochen und vorgestellt) dabei herauskommen. Nun denn. Die pichelsteinsche Gitarre erreicht rasch Lichtgeschwindigkeit, Doktor Makarios hält sich tapfer am Mikro fest und singt düster drein. Der Sound auf der Bühne ist ohrenbetäubend; weil die Monitorboxen vermutlich gerade nicht vorrätig waren, hatte man einfach eine weitere, kleinere PA für den Innenbereich angeschlossen und burschikos aufgedreht. Es fiept und koppelt und beschnapst spielen die Doktoren das Konzert nach einer Stunde zu Ende. Mit nassem Weißhemd stürzt Doktor Pichelstein ein schnelles Pivo, während Doktor Makarios einer tschechischen Deutschlehrerin die umwobene Pratajev-Story näher bringt.



Mal schauen, eingeladen sind die Doktoren nun irgendwo auf dem Land, denn dort wäre es schön für ein Konzert unter freiem Himmel. Aber nur im Sommer, noch in diesem Leben und somit endet der heutige Untertagesausflug mit der Geschichte eines kürzlichen Pornodrehs im Bunkr. Erzählt von der Band Secret 9 Beat, die einen Schacht weiter hinten proben – doch um diese interessanten Umstände und Details noch genau wiedergeben zu können, hätte es gewiss mehr Aufmerksamkeit bedurft.            



27. März 2009, Dresden/Chemiefabrik

Chemotherapie (173)



Russische Pensionsinhaber treiben russische Doktoren mächtig an; nach einem unmotivierten Spätstück (Interieur des Speiseraumes besteht aus Arbeitsmaterial vormütterlicher Nähstuben, alte Bilder an den Wänden von alten Männern und sehr jungen Tschechinnen der vielleicht 20er Jahre) und der abspeisenden Erkenntnis: Heute schmeckt irgendwie gar nichts, folgt rascher, warmer Duschregen, besaitet Dr. Pichelstein die Hauptgitarre fürs Abendkonzert und das findet in Dresden statt. Was nicht sehr weit ist, doch bekanntlich treibt der böhmische Killervirus beiden Doktoren aktuell triefende Schleimtiraden (durchsiebt mit fast allen Frühlingsfarben) gesichtsauswärts ans Stubenlicht. Gebuttert mit einem Hauch von Restalkoholität ergibt das – vor allem für den Fahrer des Tourautos – kein gutes Omen. Der Prager Mittagsverkehr kennt, wie erwartet, auch kein Pardon und so tattert Dr. Pichelstein, mit stets offener Seitenscheibe, dahin. Viele Kilometer lang. Aus Prag heraus, durchs steile Gebirge, auf die Autobahn hinauf, durch Kreisverkehre, in denen sich mittenmang alles zu drehen beginnt. Gestoppt wird erst tankend, dann halsbonbonskaufend am tschechischen Supermarkt vor der Grenze. Vorn im Auto sitzt Frau Holle und schüttelt Tempotaschentücher aus. Doktor Makarios, für Navigation und Beschallung der gesamten Fahrt verantwortlich, legt kassettenweise Aufnahmen der Fliehenden Stürme nach. Immer wieder geht „Mein langsamer Tod“ daraus hervor. Wie gut das jetzt passt.



Auf nach Pirna; die gesamte, verehrte Hutbühne-Crew hatte sich zum eigentlich für morgen vorgesehenen, letzten Prag-Konzert der Russian Doctors angesagt. Nun, zwei Dinge sprechen heute bereits dagegen, morgen erneut in die andere Richtung fahren zu müssen. Erstens kennt man als russischer Doktor den Verlauf einer, wenn auch böhmischen, Virusität nur zu genau, ergo: Es kommt immer alles noch schlimmer, wenn die heimatliche Patientenrolle rückwärts in immer weitere Fernen rückt. Zweitens wird am Samstag, also morgen, überall in Europa WM-Qualifikation gespielt. Das Konzert im tschechischen Pub hätte bereits spätestens um 19 Uhr beginnen müssen. Und wäre kurz vor acht rapide, mit dem Click zum Sportfernsehen der tschechischen Republik, beendet worden. Dafür, unter ersteren Umständen, zwei Leben riskieren? Nein, liebe Freunde aus Prag, wir kommen gerne wieder. Nur nicht am Samstag. Um es hier vorweg zu nehmen: Leben wurden gerettet; Doktor Pichelstein trollte sich Anfang der Woche nächtens zur Notaufnahme der Leipziger Thonberg-Klinik (akute Bronchitis, AU-Schein: 14 Tage), Doktor Makarios wurde mit einem Sack Medizin versorgt. Als beide Doktoren sich übers Befinden am Telefon austauschen wollten, sprachen eher sibirische Steppenwölfe aus ferner Zeit miteinander.



Bei Übermittlung des Konzertabsagebeschlusses an die Tschechen war man nicht glücklich, doch Verständnis obsiegte. In der Langen Straße zu Pirna wird der Besuch der Doktoren dazu genutzt, Pause zu machen. Ein Jever vielleicht? Nein, immer. Nur jetzt gerade nicht. Und dann geht’s weiter nach Dresden, zur Currywurst am Straßenrand der Neustadt. Während im Auto Doktor Makarios nickert, speist Dr. Pichelstein Würze in sich hinein. Stunden vergehen hernach, die Chemiefabrik wird gesucht, gefunden. Ein Bunker wie in Chemnitz, nur voller Grafittisprühe daran. Die Nasen laufen, die Nasen machen krach. Paracetamol und Aspirin, Bronchientropfen und zwei Schlücke Racke Rauchzart (Rest vom Villa-Konzert neulich). Die Lungen atmen schwer, der Mund macht krach. Nur das Taxi, was auf der anderen Straßenseite eine Straßenbahn rammt, ist etwas lauter.


In der Chemo, wie abends noch oft gehört, begrüßt es sich wunderbar. Prompt sitzen Doktoren im warmen Backstage, der Bandwohnung, die nachts dann nicht genutzt werden muss. Ein güldener Engel vom Himmel hatte gottseidank (besorgt ob der Gesundheit der Doktoren) etwas dagegen und spät nachts wurde Leipzig erreicht, schniefend, fiebernd, schüttelfrostig und schnaubend. Nie war man gefühlt je so krank gewesen. Die Impfe gegen den böhmischen Killervirus sollte dringend erfunden werden. Doch es gab noch das Konzert in der Chemo, davon handeln diese letzten Zeilen hier: Doktor Makarios wechselt vom Stehen zum Barhockersitzen, Doktor Pichelstein schwitzt bereits beim Rotarmisten - wie einst der am Kreuz. So gegen 23 Uhr beginnt das Set zu fliegen in der Fabrik, der Chemo, die zur Behandlung wird. Pirna-Vertreter bringen Schnaps auf die Bühne, heilen damit Doktor Pichelstein. Der Barhocker wandert in die Bühnenecke, großer Beifall, viele Menschen, Pratajev-Gesellschaftsvertreter darunter (Sektion Großenhain z.B.) noch mehr Danke dafür. Auch für die Zugaben und das Anpeitschen und dass die Heilung heute aus dem Publikum kommt, dass die Doktoren als Patienten vor den Mikros stehen und wanken, dass gab es bisher noch nie. Danke für die Chemotherapie.  



09. April 2009, Leipzig/Flowerpower

Musikalische Doktorspiele (174)



Ein grüner Donnerstag unterm unbeleckten Sonnendach. Blaue Wolken, wenig Beinkleid. Da ist er nun, der Frühling, bunt und rund. Wurde auch mächtig Zeit. Im Flowerpower wirbelt der Strobi, davor lassen es sich die Doktoren bänkelnd gut gehen. Der Soundcheck sitzt, Doktor Makarios entschwindet kurz in die Moritzbastei zum Buffet der Künstlerpaten. Doktor Pichelstein reibt sich die Augen: Nach 36 Sekunden führt ManCity 1:0 in Hamburg – doch der HSV mit seinem holländischen Nussknackertrainer ist kein militant beweinungswürdiger FC Bayern und dreht die Rasenstory noch für sich zum 3:1. Das Spiel liegt in der 90. Minute; Pratajevs Erben preschen vor die Mikros, in die Saiten, genau so wie die LVZ morgens bereits prächtig bunt getitelt hatte. Die musikalischen Doktorspiele starten unterm Heißlicht; Doktor Pichelstein durchlebt eine Schwitzkur besonderer Güte. Letzte Grippesporen fließen ins Hemd, in die Augen und ganz so dolle ist’s noch nicht mit der sonst gewohnten Lässigkeit. Viel „Puh“ und Geschnaufe dabei.



Voll ist’s vor der Bühne, der DJ trägt ein CCCP-Russenshirt auf geschenkte Order vom Chefwirt André Streng. Es schmettert die Gitarre am pratajevschen Gesang. Aber nur kurz; nach einer Stunde gibt’s die erste „Schnapsbar“; danach folgt eigentlich der 2. Wunschkonzertblock fürs Publikum. Heute weit gefehlt – der übermotivierte DJ schnipst eine CD an und überlebt’s ungeschoren. „Hang the DJ“, skandieren einige, aber gut. Dann geht’s eben anders weiter. An der echten Schnapsbar und die hat es hier im Flowerpower zu Leipzig wirklich in sich. So fließt der Vodka, mit Feigen oder ohne, springt über von einem zum anderen und jetzt, wo Karfreitag ist, dünstet er langsam aus. Nächsten Samstag, in Wittenberg, gibt’s dann ein Dreistundenkonzert. Versprochen.    



18. April 2009, Wittenberg/Irish Harp Pub

Die gefesselte Stadt (175) 

Wittenberg streckt sich, dehnt sich entlang frühlingsbunter Elbewiesen. Im Bus wachsen bereits abendliche, nächtliche Vorfreuden auf die schönste Theke der Gegend. Gar nicht schwer zu finden; sie liegt direkt am touristischen Trampelpfad, in der Collegienstraße 71. Wie nicht anders zu erwarten war, luthert es an allen Ecken und Enden. Strenge Historie allerorten. Russische Doktoren schreiten in den Irish Harp Pub, wie einst Martin Luther es tat. Vorne Links, etwas abgeschieden, mit Blick auf schirmfolgende Ältliche, dort muss er einst gesessen haben. Und verfasste These um These. Pratajev und Luther wären, hätte es denn geschichtlich zusammengepasst, sicherlich gute Freunde gewesen. Landdichter, getrieben von grotesker Ironie. Der eine beim Schnaps (Pratajev), der andere unter der Nonnenkutte (Luther). Und dann wird gewechselt. Ach, wie schwelgt man hier unter buttergelber Abendsonne. Doktor Pichelstein beim Kilkenny, Doktor Makarios beim Guinness. Die Bühne ruft schon leise, die Nebelmaschine erzählt von lang noch ausbleibenden Herbstscharaden und die nächste Runde ist geordert. Danke, lieber Wirt, in gerader Linie bestimmt mit Luther verwandt. Russische Doktoren sind bereits zum zweiten Mal hier. In Wittenberg, der gefesselten Stadt. 


Nach kräftigem Bohnenmahle (genau richtig für das, was noch kommen wird), schallt das Intro von der Höhe, aus den Boxen, beginnen die Spiele aus dem Hinterstübchen, erklärt Doktor Makarios all die verworrenen, russischen Sitten um den Dichter S.W. Pratajev. Ein Wechselspiel aus Schnaps und Befindlichkeit, aus russischer Seele, gestreichelt vom aufbrandendem Applaus. In der Setpause, kurz vor der Stunde Null, astet Doktor Pichelstein in die historische Lutherthesenecke und lässt sich zwei aufgewühlte Bauchkratzer verpassen. Das macht man hier eben so mit Fremden. In dieser Stadt der Historie, der man gerne die schnellste Akustikgitarre der Welt entgegensetzt, was nun wieder geschieht, im zweiten Set. Taktvoll, ebenso mundig, laut und gut. Über allem schwebt Pratajevs Weise „Gefesselt“, im allerletzten Zugabeblock wiederholt, von hübschen, sehr jungen  Frauen gewünscht. Vom Wirt an die Bühne übermittelt. Wie so manches Getränk. Was wirklich selten ist, das mit dem Getränk. 



Willi W. muss zur Ü-30-Party, gar zweimal wird vor Ort Geburtstag gefeiert, die Lage entspannt sich im Irish Harp Pub. Manch eine Gefesselte soll noch rasch verpartnert werden, so ist es hier nun einmal. Im stillen Schweiße hockt Doktor Pichelstein, bauchbekratzte 2,5-Stunden Konzert hinter sich, auf einem hölzernen Barhocker und versucht die Eindrücke zu ordnen. Während Doktor Makarios den letzten, halbvollen Gin-Tonic an seinen Gitarrendoktor verfüttert. Nun auf in die Bierstuben, denn oben drüber wartet warm und weich das herrliche Matratzenreich. Sterne sehen gehen.          



19. April 2009, Berlin/Duncker

Wir sind doch nicht bei de Russen! (176)



Schwach, sehr untüchtig tuckert Doktor Pichelstein den Bus durch den rapsgelben Fläming hindurch. Umringt von sonntäglichen Motorrad-Psychosen, die zumeist halsbrecherisch knatternd eine unbestimmte Weite suchen. Und das maschinenschwer. Frischer Frühling pustet durchs offene Seitenfenster, Doktor Makarios blickt besorgt fahrerkabinig nach links. Nach einem Frühstück bei DSF und Doppelpass geht’s gen Beelitzer Spargel. In Treuenbrietzen kommt der Bus zum Erliegen. Es lockt die Gaststätte Sonneneck in der Großstraße 88. Irgendwo mag es sicherlich die dazu passende Kleinstraße geben. Nun. Zwei  Spargelkönigsdoktoren harren der Dinge und natürlich der verehrten Speisekarten. Doch zunächst werden sie Zeugen einer später noch lang erzählten Finesse. Zunächst taucht eine Kleinfamilie auf, verlässt vollends glücklich das Sonneneck und trampelt über die spärlichen Sandrabatten, querbeet an Blumenkübeln und – eben - russischen Doktoren vorbei auf die Straße. Statt einen kleinen, gehwegverdächtigen Umweg zu nehmen. Doch nicht ohne den Kellner, eben noch beschäftigt im Sinne der Freundlichkeit und Anteilsnahme. „Wir sind doch nicht bei de Russen!“, belfert er im tiefsten, trutzigsten Potsdamer Slang den ehemaligen Gästen hinterher. Bass vor Staunen dauert es schon ein paar Augenblicke, ehe das Familienoberhaupt zurückbellt. Der Abtausch schlagkräftiger Kofferwörter dauert noch eine Weile, und wenn der Kellner gewusst hätte, dass er eben doch bei „de Russen“ gewesen wäre, vermutlich hätte er beide Doktoren nicht so fürstlich umsorgt und bedient. So aber gelingt der Bus-Stop zum Schmause, oh ja! Von der Szene existiert sogar ein Foto. Wir reichen es an dieser Stelle nach, sobald der Film entwickelt ist (kann noch eine Weile dauern, hat gerade Heuschnupfen).




Durch Berlin scheint pietätvolle, gar blendende Sonne. Ein seltenes Bild; die vorangegangenen Doktoren-Heimsuchungen der Hauptstadt unseres krisenreichen Landes fanden vornehmlich entweder im Nieselregen oder im Dauerregen statt. Wenngleich Berliner Konzerte eigentlich immer toll sind, so muss man die wettergepeinigten Einwohner stets ein wenig glücklich machen. Pratajev macht glücklich, das spricht sich hier seit Jahren herum. Und der Duncker-Club füllt sich im Rahmen feingründiger „Dark Poetry Sessions“, veranstaltet von den Lautmalern, vielleicht gerade deshalb recht bemerkenswert. Für einen Sonntagabend muss man sagen, an dem niemand so recht weiß, wie denn nun Hertha BSC heimgespielt hat. Eisern Union gewann vorab, das zählt.



Das Publikum reiht sich perlenkettig, Sitz für Sitz auf; wahre Wunder geschehen. Eine Mädchenband sitzt in der ersten Reihe, alle sind sie um die 15 Jahre alt, ihre Lieblingssongs heißen zum Beispiel „Biber“, „Auch die Ratte hat ein Herz“ und „Schlips aus Lurch“. Pratajev-Mitglied Eademakow, gezeichnet vom eher kleineren, wenn nicht gar mittleren Nachwuchs-ins-Bett-bringen,  stößt mit den Doktoren auf den kommenden Pratajev-Kongress an und schon beginnt die Lesemusikshow mit den Russian Doctors. Abwechselnd steigen Autoren in den Ring. Sogar Herr Lautmaler trägt bei und erntet für die körperliche Liebe zum graugroßen Zoogetier  mannigfaltigen Applaus. Den Abschluss veranstalten Makarios und Pichelstein mit einem Stundenkonzert, werden schließlich beim Schnapse gepackt und zur Bar entführt. Alles federleicht, selbst die Beine. Chapeau, Duncker!



Am folgenden Tag ist über die Nacht zu berichten: Die nächtliche Wodka-Flasche aus dem Spätverkauf kaum getrunken, dafür geburgert, was das Zeug hält. Vermutlich ging’s nicht ganz so spät zu Bett.



Und über den Weg zum Bus (Friedrichshain, Ecke H4- & o2World gen Duncker, Prenzlauer Berg mit der Straßenbahn) ist zu berichten: Warum in Herrgottsnamen erlaubt man wahrlich schrecklichen Kita-AngestelltInnen die Nutzung von privaten Handys im öffentlichen Nahverkehr? Nicht an jedem Leben möchte man schließlich ungefragt teilnehmen. Ist es nicht furchtbar genug, solcherlei erziehendes Krähengefüß auf wehrlose Kinder loszulassen? Oder eben auf russische Doktoren, friedlich dämmernd, das vor sich hin.         



23. April 2009, Hamburg/4rulesclub im Riff

Dorfpunks und indische Laufenten (177)



Leipzig unterhält wirklich kein Brauchtum wie jede andere Heldenstadt. An dieser Stelle müssen wir das einfach mal scharfblickig räsonieren! Kaum anderswo wird nämlich soviel auf einmal gemacht, gebaut, aufgerissen und somit für den fahrenden Verkehr gesperrt. Wäre man fanatischer Leserbriefschreiber, fänden die Abgründe diesbezüglicher, ja erschreckender Klugheiten keine Grenzen. So stehen beide Doktoren zunächst unerwarteter Weise frühnachmittags lange im heimischen Umgehungsstau, weil umleitungsverdächtige Gemengelagen hier in etwa so funktionieren: Zunächst, im Jahr 1, gibt’s neue Abwasserkanäle, in allen dann folgenden Jahren: neuen Straßenbelag (2), neue Straßenbahnschienen (3), neue Erdkabel (4). Im 5. Jahr beginnt die Malträtierung hütchenspielender Bauarbeiter wieder von vorn bei den Kanalarbeiten.



Auf diese erlesene, epische Verfehltheit fällt heute Regen, dem das Tourauto Richtung Schkeuditzer Kreuz schließlich doch noch entkommt. Man fährt der Sonne entgegen, nach Hamburg. Genauer: Nach Volksdorf, ein beschaulich grüner Stadtteil in dem der Film „Dorfpunks“ gerade hochkonjunkturelle Früchte trägt. Im Begegnungstreff Koralle, am Marktplatz. Darin verborgen befindet sich der heutige Auftrittsort der Russischen Doktoren, das Riff. Um die Lupe noch etwas mehr zu wetzen: Konzertiert werden darf in der kultigen Veranstaltungsreihe des 4rulesclubs. Heute gemeinsam mit einer aufstrebenden, weil tourreichen, Hamburger Band unter bulgarischem Stimmungsgemenge. Anderntags wird hier riffgejazzt und ge-Üt (Ü30, Ü50 usw). Die abendliche Konkurrenz ist hart, das wird erwähnt. Irgendwo sollen Mutabor spielen. „Nie gehört“, sagt ein Doktor zum anderen. Klingt aber lustig. Wie Muff Potter. Oder Puff Mutter.



Beim Autoausladen ergibt sich ein schönes Bild: Einige Volksdorfpunks verlassen geschlossen den Film Dorfpunks und haben Tränen in den Augen. Showdown und Abspann müssen schrecklich traurig gewesen sein. Hinein zum Döner um die Ecke. Pizza wird nicht mehr ausgeschenkt. Das Schild müsse erneuert werden, sagt der Verantwortliche. Was soll’s. Im Club herrscht noch Frieden, die kleine Theke ist  festlich gefüllt. Ilka sorgt für alles und ein wenig gästet es mittlerweile durch den Raum. Die Hamburger Band spielt bereits schön und laut, Doktoren harren der Dinge. Astra fließt dem Becks hinterher. Feinste, innigste Momente der Gegenwart werden nur mittels zweier wankender Drogenkonsumenten unklarer Genesen missbraucht. Einer trägt gar Fanartikel des heiligen FC St. Pauli an sich, was zur schmählichen These hinreißen lässt: Nicht jeder Anhänger deines favorisierten 2.Ligaclubs ist grundsätzlich angenehmer Natur. Nein, es gibt überall Exoten, getrieben davon, dir ordentlich Essig in den Wein zu kippen. Um es vorweg zu nehmen: Mitte des Sets streiken beide Doktoren in bester russischer Bergarbeitermanier. Die Forderung lautetet: Die oder Pratajev? Mit leichtem Gezerre - und dem speedkifftrunkenem Ruf nach „Arabien, Arabien“ entledigt sich das personifizierte Problem dankenswert von selbst.



Um weitere Dinge gleich mit vorweg zu nehmen: Schöner Abend, kurzes Konzert, doch noch Zugaben - und selbst den beiden älteren Menschen um die Ecke vorm Merchstand bleibt einfach keine andere Wahl: Eine CD muss erworben werden, wenn nicht gar unerworben behalten werden. Zurück bleiben Schnapsgläser, leer getrunken. Und als der Ilkabus gen Schlafstätte ins Nachbarstädtchen rollt, bleibt ein Dankeschön für die Einladung ins nachtdunkle Idyll, welches sich am nächsten Tag als freischaffendes Paradies erweisen wird. Die darin handelnden Tiere sind: eine Katze auf der Flucht vor einem hektisch schnatternden indischen Lauferpel. Seine in einem mardersicheren Verschlag brütende, weibliche, indische Laufentengeliebte. Einige Singvögel -  sobald auf dem Rasen gelandet, schon vom Erpel vertrieben.



Es scheint wie bei menschens zu sein: Kaum wird das Männchen vom Weibchen vernachlässigt, wird es giftig und beißt. Jene Quadratur findet sich selbst bei Pratajev wieder, im Lied vom Bösen. 



24. April 2009, Rostock/Pleitegeier

Der Ostrockesel (178)



Sachten Tempos rauscht das Tourauto, rauchen die Doktoren gen Nordost. Viel Zeit macht sonnige Küstenlaune. Einer tankstellenreichen Bevorratung innerer und äußerer Bedürfnisse folgt ostseekuckend das Örtchen Rerik. Seebrücke, Spuren im Sand, Howard Carpendale im Ohr. Alte Menschen greisen umher, schnuppern Salzluft. Ihre unwesentlich jüngeren, gesetzlichen Betreuer schieben erbreiche Familienableger lustlos, strandwärts vor sich her. Ein kleiner Schups, schon wäre man aus der Krise, mögen manche denken. Doch nein, Abwrackprämie hin oder her.   



Die meisten Fischrestaurants verhalten sich teils sehr wie der betörende Seename schon sagt; ab 14 Uhr nur noch Kaffee, Waffeln und Kuchen. Zwar bieten sich die angeblich besten Waffeln der Insel feil, doch wer will die schon und ohne Fische drauf? Jiepernde Doktoren werden inmitten von Strandperlen- und Muschelwirtschaften schließlich doch noch fündig. Salatkartoffelige Bratheringe und duftend hergerichtete Fischspieße präsentiert die „Fischstuv an Haff“, gelegen an der Haffpromenade 1. Die vermutlich angeheiratete Familienbetriebs-Schwiegertochter N. Sancak bedient lt. späterem Rechnungsbeleg. Makarios bestellt Radler, das hier Alster heißt. Geprostet wird auf S.W. Pratajev, der all das möglich macht. Nicht jeder hat so einen Gönner wie Pratajev. Fühlt sich sehr gerecht an. Pichelstein füttert das Spatzenrudel unterm Freisitztisch mit Kartoffeln und trockenen Keksen, Makarios kippt Kaffee. Spätere Postkarten für die Lieben daheim dürfen nicht fehlen, aus den Telefonen schallt missender Neid.



 Martins Rostocker Rolltor ist pünktlich erreicht; das Auto herzt hindurch. Lange nicht gesehen, seit Wismar, schon wird erschöpft (wovon eigentlich?) weich gesessen. Leichte Instruktionen für das Abendkonzert im Pleitegeier um die Ecke folgen, dann ein erlauchtes „Bis morgen“ - Martin muss zurück nach Niex, zur größten Party des hiesigen Wochenendes. Russische Doktoren spielen dort morgen und Dr. Pichelstein folgt Instruktion Nummer 1: „Im Kühlschrank steht Rostocker Pilsener“. Herrlich. Augen zu und durch da. Auf der Couch, neben dem Kräutersammelbuch, dämmert Dr. Makarios vor sich hin.



Im Club kann man’s kaum glauben. St. Pauli verschenkt eine verdiente 1:0-Führung daheim gegen Freiburg. Das Breisgau erkontert sich zwei Chancen und gewinnt am Ende. Im fanschalumwobenen Fußballeckchen fasst es keiner der vier Anwesenden so recht; Bier muss trösten. Doktoren schrauben sich die Bühne zurecht, umsorgt vom Techniker und natürlich vom Thekenpersonal. Zwar schlägt’s erst 19:30, erste Konzertbesucher tropfen ein. Denn sie wissen, was die Doktoren noch nicht wissen: 20 Uhr ist Beginn, 22 Uhr muss Schluss sein. Wegen der Nachbarn. Ach, wenn es diesen Zusammenhang nicht gäbe: „Wegendernachbarn“. Welche kausalen ABV-Banalitäten ergeben sich daraus? Und kann man diese Nachbarn nicht alle vor sich her Richtung Küste treiben? Russische Doktoren würden dafür den Festwagen schon ordentlich beschallen. 



Jedenfalls startet das Konzert gegen 20:30 Uhr, schnell muss es gehen, alle Songs sind auf maximale Geschwindigkeiten geeicht. Das Publikum hat sich, im Vergleich zum gestrigen Abend, um ein vielfaches lautstark gesteigert. Doktor Makarios jongliert sich durch frühe Heimatlieder hin zum Tierliederblock; der ein oder andere Schnaps wird zur Bühne gereicht. Danke! Lecker! Zugaben folgen, im Stockwerk drüber wähnt man besagte Nachbarn vor Röhrengeräten, weißknöchrige Runzelfinger halten sich an Bierflaschen vorm knallbunten Stammtisch-TV fest. Unweit der Telefone mit der Kurzwähltaste zur 110. 22:15 Uhr vergeht, 22:30 Uhr bricht an. „Der Abend ist gelungen“, noch mal raus zur „Schnapsbar“. Ein Wettlauf mit der Zeit. Die Nachbarn drüber erheben sich geschlossen  - vielleicht gefällt ihnen das, was sie da mithören dürfen? Niemand wird es je erfahren, Nachbarn zeigen sich schließlich nur beim Bäcker und in Boulevardmagazinen live. Durch Sätze wie diese fallen sie darin auf: „Das hätte ich nicht gedacht. Da wohnt man schon so lange hier. So eine nette Familie. Immer ruhig gewesen, nie hat man Krach gehört. Und jetzt das, alle tot. Schrecklich!“ Da halten sie gerne ihre Köpfe hin, für die brisanten Kameras der Drehscheibe Deutschland.



Später futtern sich die Doktoren durchs Chilliangebot, werden reich-, und trinkhaltig vom torpedoschnellen Geierpersonal umsorgt. Ein Hauch von Niex liegt in der Luft, da wollen morgen alle hin. Nur die Nachbarn nicht, denn – frei nach James Dean - wissen sie nicht, was sie tun. Dann geht’s um die Ecke, zur Rolltorwohnung. Ein weiblicher Ostrockesel mit seinem Fahrradkorb geht bei der Schlepperei zur Hand. Er weiß viel über den Liedermacher Holger Biege zu berichten und über all die anderen, vor denen sich Doktor Makarios musikalisch so fürchtet. Auf ein letztes endemisches Bier, auf gleich, dann wird Niex sein. 
    

   

25. April 2009, Niex/Party 2009
Prädikat wertvoll & voll nachhaltig (179)

Irgendwo im Raster zwischen der A19 und A20, unweit Rostocker Hansekoggen gelegen, trifft man aufs Ortseingangsschild Niex. Das Tourauto durchkurvt hernach wildes, braches Nutz- und Weideland und gelangt schließlich ans Ziel der dritten Tagesetappe beider Doktoren, dem örtlichen Schullandheim. Seit einigen Jahren steter Partyleuchtturm schlechthin, Prädikat wertvoll & voll nachhaltig. Zwei weitere Tagesetappen liegen da bereits in gefühlter, weiter Ferne.



Zunächst berief sich Doktor Makarios zum Reinemachwischer in Martins Rolltorwohnung. Aus dem Schränkchen neben der Waschmaschine quoll blaue Flüssigkeit ins Kücheninnere, die sich bei näherer Betrachtung nicht als Alienmasse, sondern als flüssigseifende Spee-Verschüttung der Firma Henkel erwies. Stets, wenn gerade alles aufgewischt war, bläute es erneut gen Boden; ausgewrungene Spüllappen schäumten putzig vor sich hin. Neben dem Abhören sehr feiner CDs, dem Studium der Flake-Feeling-B-Memoiren, dem sorgfältigen Frühstücksarrangieren und anderer morgendlicher Rituale (verbunden mit rekordverdächtigen Geruchsverstärkern), purer Stress wenn man so will. Darin der Gedanke: Fahren wir doch mal nach Graal-Müritz, kucken, wie’s da so ist. Allerdings ohne Makarios’ unverzichtbaren Zweitschuhsatz einzupacken. So etappten beide Doktoren später, als klar war, dass jenes Graal-Müritz eher kurenden Müttern mit Schreikindern zugedacht ist, back to the roots, back to the shoes, zur Wohnung, tippten auf Klinsmanns Entlassung nach der Heimniederlage gegen Nullvier, dann aufs Gaspedal und schon war und ist Niex, Schullandheim, ein Rund voller Menschen an reich gedeckten Kaffeekuchentafeln.



Überschaubare Hunde beißen Kindern Bälle weg, Martin führt übers Gelände. Große Bühne in der Scheune, lorbeerverdächtige Theke darin. Im Innenhof scheint nicht nur die Sonne herrlich warm, bald wird der gulaschkanonierte Grillfestteil lecker eröffnet. Allerorten große Geschäftigkeit, Doktoren zischen Rostocker Pilsener und Lemon, das Paradies muss ähnlich sein. Zumindest könnte es, so formatiert, als highlige Vorlage dienen.



Drei Partyliveacts wurden arrangiert; in der Poolposition: die Russian Doctors, soundgecheckt, bestens versorgt - und welch wahre Freude ist’s wieder mal, gar monitorversorgt, vor ganz großem Publikum zu spielen. Ohne jede Enge; selbst die Gitarrenkabel schlangen ausgelassen übers Bühnenholz. Doktor Pichelstein geht’s besonders schnellgut, mit jedem Bühnenschnaps steigt das Tempo. Das Set perlt durch die Menge, kaum Zeit für längeres Saitenstimmen. Schließlich ist das hier Speedfolkpunkrock; Biermann, Lakomy, Reinhard Mey und all die anderen Sitzhockerspieler sollten bei den Doctors ruhig mal in die Lehre gehen. Makarios resümiert des Öfteren Richtung Schnapsbar-Ausklang, doch nein. Zugaben müssen folgen, sogar den „Tierarzt“ gibt’s live. Brüste beben, Schlipse lurchen, viele Kinder direkt vor der Bühne, Mütter und Väter dahinter. Die Mütter im Takt, die Väter mit wippendem Rostocker in der Hand. Jeder Schluck ist ein guter, keine Frage. Und nach der allerletzten Schnapsbar wandert eine Flasche echten russischen Gebräus gen Bühne. Schmeckt herrlich wie der Tag, der Abend und die Nacht.



Jene welche wird ausklingen mit nachfolgenden Bands - unter Zufuhr nicht mehr zählbaren Stehtischtrankes. Mit einem Besuch bei der Gulaschkanone - dem Schlachtruf: Es lebe der Erbsbrei -  und einem verwirrend schönem Gefühl, nennen wir es einfach: Niex.  



12. Juni 2009, Leipzig/Moritzbastei

Schwanger durch Döner (180)



Das ehrwürdige Gemäuer der Leipziger Moritzbastei hält dem ewigen Dachregen nicht mehr stand. Sanierungsarbeiten müssen her. Und da die Einnahmen und Fördertöpfe bestimmt nur diverse laufende Kosten zu decken in der Lage sind, stampften die verehrten Macher einen Benefizabend aus dem Boden. Motto: Trocken Rocken. Eine feine Sache. Russische Doktoren sagten gerne zu, verzichteten auf Gagen und Gästelisten.



Portugalgebräunt, fadogewürzt und genesen durch Vinho Verde und Medronho, geht’s nach Dienstschluss ans Werk, zunächst durch die Stadt. Es sebastianbacht allerorten zum jährlichen Feste; im VIP-Zelte am Augustusplatz friert die Sponsor-Prominenz im Schafskälte-Look. Ja, wenn es um Klassik in der Stadt geht, lassen sich die Schecks nun einmal leichter zücken. Klassik ist die Droge der Larmoyanz. Das wusste bereits Charles Bukowski damals, in den 70erm, sehr genau. Wir wollen sie gar nicht verurteilen, die Freunde der sanften Muse - und auf ihren GEMA-Sünden herumtrommeln schon gar nicht. Nein, Klassik darf bleiben. Als Sammelsurium einer betuchten Minderheit, für die, nun aber Schluss damit, sehr viel unsinniges Geld ausgegeben wird.



Das heutige Doktoren-Konzert findet in der MB-Ratstonne statt, gegen halb 10 soll’s los gehen. Ohne Intro diesmal, denn kein DJ der Welt arbeitet mit CDs, logisch eigentlich. Und selbst der Mischpultmann kennt nur USB-Sticks. Am Trocken-Rocken-Bratwurstgrill vorbei schieben sich die angesnackten Körper der Besucher langsam durch die Türe nach innen. Ganz groß – Abordnungen der Pratajev-Gesellschaften Karl-Marx-Stadt und Frankenberg sind darunter. Doktor Schnittecht, nebst Buchhalter, kam aus Dresden angereist und erzählt gleich mal Geschichten aus der Neustadt. Etwa die von dem Dönerladen mit der festgestellten, arg erhöhten Einweißkonsistenz im weiß-milchigen Knoblauchsaucenvorrat. „Schwanger durch Döner“. Eine tolle Schlagzeile. Nur, ob sich Frauen jemals einen Döner aus der Dresdener Neustadt einführen lassen würden? Wer weiß das schon? Wir reden hier immerhin von der Dresdener Neustadt.



Wie dem auch sei. Das Konzert beginnt und schlagartig löst sich der Fado-Knoten beim Doktor Pichelstein. Kleine, rote Augen, grelles Licht, wirres Haar, weißes Hemd an rasanter Besaitung. Sieht alles etwas gespenstisch aus. Doktor Makarios dagegen: ganz in schwarz neben den Monitoren, am Mikro, Pratajev im euphorischen Sinn. Und so geht’s Konzert voran, die Ratstonne füllt sich beachtlich. Im zweiten Konzertsaal, der VT, scheppert’s anderweitig. Veranstalter & Trockenrocker dürften mit dem Abend schon jetzt mehr als zufrieden sein. Aufs Dachs der Moritzbastei wird getrunken, was die Flaschen und Gläser hergeben; nach zwei Zugabeblocken lässt man die Doktoren gehen. Platz für die nächste Combo aus Salsa und swingendem Getöse. Doktor Pichelstein hört sich weitere, spannende Geschichten aus der Dresdener Neustadt an. Doktor Makarios versorgt den konzertgeschwächten Orkus mit flüssigen Elektrolyten.



Vielleicht hier noch die Geschichte von der Kiste Hanfbier: In der Neustadt zu DD braute ein Braumeister namens Lenin bis vor kurzem Hanfbier. Die hiesige Gesundheitskontrolle verhängte – nach einhergehendem Laboratorium – allerdings ein Verbot der Mixtur. Warum? Nun, wenn man 24 Flaschen Hanfbier am Stück und in rascher Folge trinken würde, so das erstaunliche Gutachten, wäre man berauscht. Und zwar vom Hanfgehalt des Bieres. Von was auch sonst. Wir verstehen das und trinken lieber weiter nach dem Reinheitsgebot Pratajevs.        




26. Juni 2009, Dresden/Gare de la Lune (Elbhangfest)

Mehrzweckhosen am Welterbe-Trauertag (181)



Ach, diese Rockys. Immer wieder eine große Sache. Denn wo die Rockys sind, da ist die plörrende Vita-Cola-Elbe schwarz wie einst. Da fahren schwule Dampfer mit dem Namen „Leipzig“ drauf und aus dem „LAS-Ketchup Song“ singt Olaf Schubert am Schlagwerk hanebüchen schön, wie Männer sich mit Frauen durch Geschäfte schlagen. Und was Männer dabei wirklich denken. Nämlich, hier kommt der Refrain: „Sie sagt Hätähätähätähätä….“ Ja! Beide Doktoren hinterm Open-Gare-de-la-lune-Mischpult freut’s arg. Getränke fließen vorbei, die Klosterfrau verschenkt cremigen Schnaps und die Elbwiese tost unter vorbeirollenden Bierfässern. Der Strom ebbt gar nicht ab; die Masse hat Durst und bleibt sogar wirklich trocken. Obwohl im ganzen, restlichen Land alle Junikäfer nass werden. Ein wissmutiger Kamenz-Schuhdiver, stark gepierct von Kopf bis Scrotum, hatte es vor Beginn der Bert-Rock-Show noch eilig. Führte ein Diktiergeräteinterview mit Makarios & Pichelstein in bankbreiter Klonähe. Es ging, wie immer eigentlich, um S.W. Pratajev, den großen, russischen Dichter. Hat er denn tatsächlich gelebt? Aber natürlich hat er das. Wer’s immer noch nicht glaubt, der besuche den nächsten Pratajev-Kongress im September zu Dresden, im Zschonergrundbad.



Die Rockys nehmen sich die „Mehrzweckhose“ vor. „Jeans on“ war das einmal; denn bei den Rockys ist alles auf Deutsch. „Shame on you“ wird: „Du sollst dich schäm“, „The roof is on fire“ zu: „Der Ruf ist im Eimer“. Nach der letzten Zugabe gibt’s Russische Doktoren direkt auf alle Ohren. So war’s die letzten paar Male am späten Freitagabend auf dem Elbhangfest, so soll’s auch heute sein. Stets der best besuchteste Gig im Tourkalender. Nach den Rockys geht nämlich wirklich kaum einer nach Hause. Vorn am Bühnenrand steigt die Party in die Himmel, blitzartig leitet sich das Gemenge weiter bis zum Schießstand nach ganz hinten. Heute ist Welterbe-Trauertag, muss man wissen. Denn Dresden gilt ab heute als gestrichen – von der Liste der weltweiten Kulturherrlichkeiten. Schuld sind wie immer die Freien Demokraten. Wer diese Burschen und Schaftlerinnen wählt, weiß, was noch kommen wird. Früher fand sich die Gruppe der so genannten Protestwähler bei den Nazis wieder. Heute wählt der Bürger (mit gerolltem rrr) eben FDP. Die Partei jenes Stalles, der auf nackte Leistung setzt. Und dafür entlastende Belohnung will. Und wer (rrr) da nicht genügend leistet, soll fristen (rrr) bei Elbewasser (rrr) und Brot (rrr). „Hartz (rrr) IV,  Hartz (rrr) IV Hartz (rrr) IV“, ruft dagegen die Husch-Halle geschlossen an. 



Der Mischer tont sich rasch durchs Equipment, das Intro läuft nach wenigen Minuten und los geht’s mit dem Rotarmisten im Keller, der nach zwei Stunden immer noch nicht wieder aufgetaucht ist. Zweiter Zugabeblock, dritter, dann geht’s nicht mehr. Doktor Pichelsteins Finger befinden sich im Bergarbeiterstreik und wollen mit roter Fahne zur Schnapsbar marschieren. Doktor Makarios’ Stimme wird langsam schlupfhörig – es war ein langer Tag und es kommen noch ein paar Stunden. Auf geht’s mit dem halbgähned leeren Merchkoffer, über die Wachwitzer Kirmes, zur Grottenwirtschaft. Dort soll sonntags gespielt werden. Lang ist’s noch hin und Henrik schürt’s Feuer im wunderfeinen Elbegarten. Eine letzte belegte Schnitte gibt’s für die Zeit bis zum Pensions-Frühstück. Wirt Dr. Große wird’s später richten - und beide Doktoren werden die weichen Eier kalt werden lassen. Eieiei.



28. Juni 2009 Dresden/Grottenwirtschaft (Elbhangfest)

Eines jener Radrennen im Geiste Tutukins (182)



„Unablässig schreitet die Erderwärmung voran“. „Alles Käse, Sachsen versteppt noch lange nicht“, möchte darauf geantwortet werden. Die Tschechen haben dem Elbhangfest versprochen, dass die vom Dauerregen der letzten Tage randvoll gelaufenen Schleusen erst am Montag geöffnet werden. Am Himmel schweigen Wolken vorbei, ab und zu ein Sonnenstrahl, und je näher das Konzert der Russian Doctors rückt, desto klarer wird der Himmel. Pratajev darinnen will die Erben sehen. Den gestrigen Tag verbrachten die Doktoren mehr oder weniger lustwandelnd auf der Pillnitzer Landstraße. Gut gegessen und getrunken; im Erbgericht, am Fährenrand, wähnte man sich allerdings in schrecklichen Gefilden. Plötzlich legte ein DJ das auf, was er für die 80er Jahre hielt. Remixed und bassverseucht holperte sich der Strohdumme durch diverse Laptop-Hits. Jegliches Gulasch musste darob hastig verschlungen werden. Fluchtbier voran. Am Rande sollte Erwähnung finden: Auf einer frühen West-Tour der Band Die Art wurde Doktor Makarios einst mit Roland Kaiser in Verbindung gebracht. „Du siehst ja aus wie Roland Kaiser“, hieß es da. Der echte Kaiser hat sich nämlich für Dresden, laut Erbgerichtsflyer, bald angekündigt, der gefälschte Jene blickt von Plakaten herab, gemeinsam mit seinem russischen Doktor.



Vom Gare de la lune über die Wachwitzer Kirmes, zur Grottenwirtschaft, will das Tourauto mit dem Live-Equipment drinnen. Eigentlich eine knappe Sache von Sekundenbrüchen, doch nicht am heutigen Sonntag. Dabei sind es gar nicht die um diese mittägliche Uhrzeit herumstromernden, angesäuselten Dresdener Graulocken. Gut, es wird, wie in jedem Jahr, vereinzelt auf das Leipziger Nummernschild geschimpft. „Ihr habt hier nicht zu fahren“, rufen Rentner am Stocke. Und: „Leipzig, hau ab mit dem Dampfer“. Das ficht Doktor Pichelstein alles nicht an. Rentner müssen so sein, sonst wären sie keine. Es gibt aber auch liebe, die ihre letzten Energiereserven zum Beispiel den Russian Doctors widmen und frenetisch jeden Pratajev-Song beklatschen. Oft schon erlebt! Dann aber steht vor den Absperrgittern ein Security-Blasebalg. Nun gut, ein Anruf zur Grottenwirtschaft und schon fegt der heute wertvollste Radfahrer des gesamten Elbhangfestes zöpfelnd herbei. Blasebalg lässt zähneknirschend passieren. Der Mann auf dem Rad ist heute sein Chef.   



Die Vorband spielt Mittelalter und sieht, im positiven Sinne, auch so aus. Eine End-60erin tanzt dabei, ohne Not wild mit den Armen herumfuchtelnd, durch gespielte Fröhlichkeiten und hält CDs der Lautenmänner in die Luft. Schnäpse drauf, dass keiner zulangt. In der Pause, gegen halb drei Nachmittags, soundchecken die Doktoren und das ausufernde Familientreffen beginnt. Großes Hallo auch dem Fliehenden Sturm am Bass, Frankenberg, Chemnitz, Großenhain, Berlin. Niko Biberowitsch hat seine Ratte dabei, das Töchterchen ebenso. Klingt das, was aus den Boxen kommt, auch schwer nach Kulturhaussound - es hallt mächtig über die Straße. Und was geschieht auf diesem jetzt sonnendurchtränkten Asphalt, zwischen Garagenbühne und Publikum? Genau das, was dort immer so los ist, wenn keine Autos darauf fahren dürfen. Fahrradfahrer schlängeln sich am Lauf- und Stehpublikum vorbei. Mal halsbrecherisch, mal vorsichtig wegen künstlicher Hüftgelenke. Ein Radrennen aller Couleur, mitten auf dem Elbhangfest. „Tutukin, das sind Deine Erben nach Pratajevs Art.“ Tutukin antwortet nicht. Kein Wunder, er steckt im neuen Pratajev-Band „Der Raucher von Bolwerkow“ fest. Lauthals streiten junge Eltern mit ihren angebundenen Kindern. Ach, wo ist die Liebe hin, heute Nachmittag um 3, möchte man denken. Vielleicht liegt sie noch in der Kiste, in der Bierkiste daheim. Oder im Bügelkeller. Jedenfalls wird laut umher gestritten, dass man nach Hause will, weil man gerade erst angekommen sei und so weiter. Die Männer wollen noch rasch ein Kaltgetränk von der Schnapsbar. Ein einziges: „Sie sagt Hätähätähätähätä….“ kreist in die Runde. Das Personal der Grottenwirtschaft versorgt beide Doktoren mit allem, was da ist. Schön! Henrik und allen anderen gebührt großer Dank. Schon geht’s los mit dem Konzert. Die feuerbereite Introsirene lässt Gutes erahnen; Doktor Makarios führt’s Publikum durch Pratajevs Welt und seinen Gitarrendoktor gerne in die Irre.

Dazu muss gesagt werden, dass es bei keinem Russian-Doctors-Konzert eine ungefähre Liedfolge gibt. Auf den Setlisten steht immer nur ein leiser Hauch von Ahnung, was eventuell kommen könnte. Doch Doktor Pichelstein wäre nicht Doktor Pichelstein, würde er’s nicht galant meistern. Bis über den 2. Zugabeblock hinaus, im Sog des nassen, weißen Bühnenhemdes. Während vom Merchstand her Rekorde im Veräußern von Tonträgern und Büchern gemeldet werden. Beeindruckt und geschafft geht’s heim. Ganz ohne Dampfer und sehr froh ist jeder, der nicht selbst fahren muss. Elbe und Asphalt schwanken schon beachtlich.  
  




01. August 2009 Pirna/Hutbühne (Hoffest, 20:30)

Sonnenkollektoren für Dr. Pichelstein (183)



Das Leben ist kein Fernsehgarten, liebe Freunde des Tourtagebuches. Selbst Ilona Christen kam neulich darin um. Sturz und Blutvergiftung. Vielleicht war das Blut von Ilona Christen ja auch sturzbetrunken. Wer weiß? Beim Radio-Abhören dieser durchaus schockierenden Nachricht sind beide Doktoren schon ein gutes Wegstück vorangekommen. Am Autobahnrande brennen erste Autos, vielleicht sind’s gar französische, und machen auch sonst eher schlapp, denn große Sprünge. Wie gut, dass es den Tourbus gibt. Fährt zwar nur 120 km/h, trägt voller Stolz seit neuestem indes eine rote Umweltplakette und ist auch sonst bestens bestückt. Auf der Rückbank weht kein Lüftchen, vorne glimmen die Flüppchen. Zin-Gitarrist Vincent stattete am ARTigen Proberaum vorab Dr. Pichelstein mit Sonnenkollektoren aus. Damit er noch schneller in die Saiten schlagen kann. Wenn das kein gutes Omen ist, eine tüchtige Triebfeder heutiger Geschichtsschreibung.



Es ist bald 18:00, als beide Doktoren zum Anliefern diverser Musikpräparate in der Pirnaer Langen Straße eintreffen. Die Sonne prallt zuckersüß vom Himmel, lässt alles unter sich zerschmelzen. Schleim am Arm verteilt sich bedenklich und das Team der Hofnacht zapft sich am Bierhahn einen gefährlichen Rüsselhund. Dr. Pichelsteins Sonnenkollektoren sind aufgeladen; halb Pirna könnte er heute versorgen. Aber niemand will sich so recht mit den örtlichen Stadtwerken anlegen. Wo doch schon die hiesige, ganja-grüne Beschützerei in keinem guten Hofnacht-Rufe steht. Bisher kamen sie zu jedem Fest, was vielleicht mit den Russian Doctors zu tun haben könnte. Dann steht die Bühne nach kleinem Soundcheck, Doktor Makarios sieht aus, als käme er direkt aus einer Hemden-Sauna. Doktor Pichelsteins erstes Halbgott-Abend-Shirt muss streng in die Wäsche. Doch nein, dafür reicht die Zeit nicht aus. Im gesunden 10-Minuten-Rhythmus trottet es sich ausgezeichnet gen Theke ins Ebengeschoss. Veitstänze führen dort die ersten um eine holzbefeuerte Soljanka-Pfanne auf. Ja, und da kommt er, der Kuchen. Frisch aus dem Ofen, doch nein, erst muss gespielt werden, worauf langsam gedrängt wird. Im schwerlichen Bühneerreichen, voll ist’s und kein Durchkommen gilt mehr, nimmt Doktor Makarios Fahrt auf und einige Spezial-Wünsche entgegen. „Die Geburt“ soll gespielt werden und vor allem „Der Tierarzt“.



Intro ab, los geht’s, die Sonnenkollektoren leisten dankbare Arbeit. Doktor Pichelstein schlägt Michael Phelbs um eine Schlagarmlänge und Herrn Biedermann (was für ein Name für einen schwimmenden Papst-Hooligan) um eine runde Bauchlänge. „Die Geburt“ kommt zum Zuge und jener Jungpionier, der sie sich wünschte, weiß selbst nicht genau, warum. Doktor Makarios richtet ergo die Frage an die betreffende Kindsmutter weiter: „In dem Text heißt es doch gleich: Das Fohlen kommt nicht aus der Stut,  das Kind quer aus der Frau… was möchte Dein Sohn uns da sagen?“ Nun denn, wie es immer heißt, wenn es rasant weiter geht. Schweiß tropft Gitarrensaiten rostig, im Lipgloss der Damen spiegelt sich bereits die untergehende Sonne. Hackepetra und Hackepeter hören sich unten johlen. Pirna erwacht in grauer Nacht, die Spots malen die Hofnacht hell und nach zwei Stunden endet das erste Konzert in visueller Üppigkeit. Bis gleich, bis später. Auf an die Schnapsbar. 

   

02. August 2009 Pirna/Hutbühne (Hoffest, Geisterstunde)

Tote Oma zum Frühstück (184)



My-Space-Freundin „me…“ und alle anderen, die das erste Konzert nur halb mitbekamen, respektive gar nicht, pfeifen beide Doktoren zurück auf die Bühne. Nichts da, Schnapsbar andauernd. Spielen! Gesagt getan, dann mal los. Es wird ein halbes Set, denn genauso voll sind nur noch die Sonnenkollektoren des Dr. Pichelstein. Das weiße Hemd klebt wie Uhu-Allesfest am Orkus, vom Innenleben der schwarzen Langhose wollen wie nie mehr sprechen. Erste Tropfen erreichen daraus Schuh’ und Strümpf’. Mario am und unterm Hut, gefühlter Präsident der Freunde von Einsiedlerbräu e.V. (oder wie das heißt), tröstet sich über die Abwesenheit der Gattin mit „Beim Bücken“ oder „Der Abend ist gelungen“ bereits zum zweiten Mal gefasst hinweg. Ach, wäre sie nur da. Aber beim nächsten Mal in der Gegend, beim Pratajev-Kongress im Zschonergrundbad, soll es so sein. Viele Grüße an dieser Stelle. Dann geht nichts mehr, die nächste Schnapsbar brennt und auf geht’s erneut zur Pirna-Medizin in kleinen Plastebechern. 



Am nächsten Tag, vorm Himmelbett der Pension Donatus, stauben die Stimmen schwer, Doktor Pichelsteins Fingerpartien gleichen einem Blasentrümmerfeld.   Andrea Kiewel heißt die aktuelle Moderatorin des ZDF-Fernsehgartens; beide Doktoren schauen in die Ferne und sehen einer Gast-Oma zu, die mit 85 noch dazu genötigt wird, ihre schwerkalibrige Sonnenbrille abzusetzen. „Meine Güte, da sind ja kaum Falten!“, bellt Frau Kiewel aus dem Flachbild heraus. Immerhin – diese Oma lebt noch; als beide Doktoren das festlich gedeckte, sonntägliche Hoffest-Frühstück erreichen, liegt im dampfenden Blechnapf eine andere Oma im Sterben. Und wird sogleich lecker aufgefuttert. Tote Oma gibt es zum Frühstück. „Lecker! Ich überwinde ein Schulspeisungstrauma“, wird gerufen. „Ich auch“, hallt es schlabbernd durchs Haus. Einer bestellt sich noch einen Teller, der Koch wird rot vor Glück.





Aber was, so denken viele in der Runde, wenn die Tote Oma wieder auferstehen möchte? Hier, bei Tisch? In diesem Sinne auf nach Hause; Doktoren trollen sich verabschiedend und sagen tausendmal Danke für alles und schwitzen gen Leipzig noch jede Menge Schnapsbier aus. Kreislauf, lauf - und mach’ nicht schlapp. Die Überholspur wird zum Usus, denn auf den rechten Rillen tritt seit ewigen Kilometern ein komplettes Enten-C4-Treffen die Heimreise an.       



22. August 2009 Lengenfeld/Schützenhaus

Wer Andrea Berg hören will, geht lieber nach nebenan (185)



„Mein Doktor, es geht ins Vuchtlond“, versucht sich Makarios bereits während der Hinfahrt am Vogtländer Dialekt. Der Bus zieht Kreise, die Bundesligakonferenz lässt nicht auf sich warten und Mainz 05 siegt gegen den FC Bayern mit 2:1. Bergig, hügelig, wellig wird’s; der sächsische Teil des Vogtlandes mit seinen spektakulären Feuerwehrfest-Plakatankündigungen scheint via A72 erreicht zu sein. „Stanislaus Tillich“, wie er inbussig umbenannt wird, droht andernplakates mit „Der Sachse“. Meine Güte, wie einem da schaurig-königlich um die russische Seele wird. Nebenan äugt Frau Merkel mit „Wir haben die Kraft“ aus der Pappe hervor und das blonde Mandy- oder Cindygift von der FDP sagt besser gar nichts. Außer: „Sachsen!“ Eingepresst ins Freizeitdress, ganz wie Juraboss Guido ins westerwellende Dellengesicht. Bald sind Landtags-, danach Bundestagswahlen. Kurz wird man daran erinnert, dass Demokratie ist. Danach herrscht wieder Ruhe im Karton und die Blitzlichtgewitter beschränken sich aufs Wetter. Ebenda gehören sie hin.



An jener Stelle, wo sonst die Schützengesellschaft Lengenfeld von 1708 ihr zweifelhaftes Unwesen treibt, bestimmen am heutigen Tag zwei Festivitäten das Leben von glücklich Eingeladenen nachhaltig. Im großen Saal wird gehochzeitet. Im kleineren, feineren, gleich nebenan feiert sich ein 60. Geburtstag bei Warmbuffet, an der Schnapsbar, in bunter Runde von Mann zu Frau und Kind zu Oma. Doktoren tragen ein wenig Gerätschaft in den Raum, werden indes gleichwohl immer wieder zur Bar beordert. Noch ein Schnäpschen, ein Gläschen dies und das, ein Hoch auf die Geburtstagsgönnerin Margitta. Und bei Tische darf getafelt werden, bis kaum noch etwas hineingeht. Satten Bauches also kurz und gut zum Kulturprogramm. Eines gibt’s ab zehn Uhr, eines zwei Stunden später. Mutters Hendrik wird dahingehend älter, nur nicht runder. Darauf einen Kümmel zum Geiste.



Das erste Set spielt auf zur unerschrockenen Ruhe, Beifall gibt’s hernach und unglaubliches Staunen. Pratajev sorgt für ordentlichen Saalfuror; die Hochzeitsgesellschaft nebenan besteht auf geschlossene Türen. Worauf dem DJ, im Beipackprogramm der Russian Doctors, augenblicklich einfällt: „Wer Andrea Berg hören will, geht lieber nach nebenan“. Ja, die Andrea, unsere doppelbergige Schlagerqueen. Zeit vergeht im Trunk; von weitem schallt bereits wieder der DJ von der Höh’: „Und gleich noch einmal, die Russsssian Tocktooooors“. Maurenpünktlich beginnt das 2. Set mit der Uraufführung von „Angler in der Dämmerung“. Margitta wird davor für die nächste Zeit von täglich’ Freunden eine Reise gen Barcelona geschenkt und bis zur harten Wirtin in der Parkgaststätte, 08485 Lengenfeld, brennt allen weiterhin genügend Licht, um die Gläser reichlich zu befüllen. Dann dünkelt’s. Als erstes droht Doktor Pichelstein der Stuhlschlaf; sanften Mutes weckt man ihn, führt ihn aus dem Saale hinaus ins Freie. Über Baustellen, durch den hundertjährigen Park, hinein ins Lotterbett auf einen dankbaren Schnarch.       



19. September 2009 Schwerin/Zeppelin

Als das Wasser kam (186)



Schwerin wird heimgesucht. Es blühen die Blumen und verwelktes Volk macht sich busweise übers weite Geblühe her. So geht Bundesgartenschau nun einmal; der örtliche Antennensender lässt sich derweil auch nicht lumpen: Mit schäumend preisverdächtigen Slogans wie: „Bei uns tanzen sogar die Blumen“, werden beide Doktoren im Tourauto begrüßt. Aufpassen muss Doktor Pichelstein, dass er bei erlaubten 30 km/h nicht in einen Rollator rast.



Die Einbahnstraße Schwerin ist immerhin das Ende einer heißen Reise ohne Rast; den Wurm-Hinweisschildern darf geglaubt werden und schon sitzt man unter heißer Sonne am Zeppelin-Sonnenschirm herum. Bei weitem endlich mal was Schönes. Der Holztisch bleibt nicht lange leer; Oktoberfeststimmung herrscht vor. Mit waschechter Keyboard-Blaskapelle heizt sich die Gegend auf. Ganz wie der Grill die Münchener Riesen-Grillhax’n. Dann schweigt das vielbeklatschte Ensemble; der Bassist nippt am Wässerchen, das Dreigestirn schwitzt insgesamt „Joana“ hinterher. Roland Kaisers lang erwarteter Coversong. Gleich wird er angestimmt. Alle singen mit; fast alle – zwei durstige Doktoren werden, unterm bayerischen Gejuchze des Zeppelinpersonals,  mit Münchn’er Löwenbräu trunken gemacht. Noch zwei Stunden bis zum 350-Gramm-Schnitzel. Lecker, lecker, nur wirklich nicht schaffbar.

Von Lichtblicken ganz anderer Art weiß der Lange zu berichten; mischte er immerhin heute bereits den Live-Schweriner-Marktplatz-Kulturbeitrag „Geiersturzflug“ im Fast-Vollplayback. Genau, das waren die mit den zwei Dieter-Thomas-Heck-Hits. „Bruttosozialprodukt“ und irgendwas mit „Europa, so lange es noch steht“. Niemand scheint der späten NDW-Erinnerung mächtig; so erzählt man dieses und jenes. Und dann geschieht mannigfaltiges sehr auf einmal.


Besagtes Schnitzel will vertilgt werden, hernach bedarf es einer ganzen Standarte von Kräuterschnäpsen, um verdauendes anregen zu können. Um es nicht unerwähnt zu lassen: Im Zeppelin schnitzeln sich auch XXXL-Versionen. Wer es schafft, diese vermuteten 3 Kilo Panadenleckerlis  stante pede in sich hinein zu schaufeln, muss hinterher nichts dafür bezahlen. Für diverse Euronen wird ebenso ein Eimer Schnaps feilgeboten. Die Betonung liegt hier auf: Eimer. Und einen 5-Kiloburger aus der Nähe zu betrachten, ist beileibe durchaus interessant.



Satten Bauches, kruden Ganges will die Bühne aufgebaut werden. Wie gut, dass der Lange vorab bereits in dieser Disziplin recht fleißig war. Ein paar Kabel klicken sich bereit, der Soundcheck ist eine Wucht, und draußen wollen die ersten nach drinnen. Bis zum ersten Startintro dauert’s derzeit eine Schnapsbar-Weile; Hotte schaut mit Doktor Pichelstein tief ins Glas und definiert „Fotografie“ in kleinstem Seminar. Restlich erschöpft beginnt schließlich eines dieser Konzerte, das sich fast von selbst spielt. Makarios stellt Pratajev bereits zum 2. Mal im Zeppelin vor; voll ist’s wie beim 1. Mal, laut und prächtig. Was für ein Anblick. Doktor Pichelstein rammt von Zeit zu Zeit den Lichtmast, was indes einigen Kräuterschnäpsen geschuldet sein könnte. Geradeso erklären sich unweigerlich ein paar Gitarrenaussetzer, aber sei’s drum. Dann wird eben ein bisschen schneller gespielt. Merkt keiner.



Und plötzlich gibt es Wasser. Irgendwann, zwischen Fetisch-Songs und Heimatliedern stellt buchstäblich-tatsächlich die technische Flink-Begleitung des Langen zwei volle Gläser Wasser auf die Bühne. Hinterher wird sie sich rausreden wollen: „Das ist doch so üblich und in Schwerin trinken alle Musiker Wasser auf der Bühne“. Weit gefehlt. Heute sind’s Russische Doktoren und die waschen sich damit bestenfalls. Na gut, das klappt im Verlaufe der Schwerin-Reise eher weniger, ist aber eine ganz andere Geschichte, die wiederum mit der Bundesgartenschau zu tun hat. Aber wir können sie gerne vorziehen:


Im letzt verfügbaren Zimmer der Pension Eckhaus liegen beide Doktoren gegen 7 Uhr früh, tags drauf, in den Pritschen. Ein Doktor nach dem anderen weiß nicht so recht, wie er hier her gekommen sein soll. Ein Klo gibt es nicht, kein Wachbecken, keine Dusche. Was wird in solchen Situationen vorgezogen? Genau. Man pullert in den Garten. Doktor Makarios geht voran und schon schreit der Eckhaus-Nachbar: „Ich weiß ja nicht, wo Sie herkommen…“ Ungerührt wird das strahlende Werk dennoch, unter dröhnender Schimpferei, zu Ende geführt. Ganz aufgebracht steht der Pensionsnachbar im morgendlichen Feinripp auf dem Erdgeschossbalkon und kriegt sich nicht mehr ein. Von dieser Art dröhnenden Gezeters vollends geweckt, stapft Dr. Pichelstein hernach ins Freie und nimmt gerade Position ein, an der Mauer unterhalb des Balkons, als die Schimpfkanone, diesmal noch eine Spur fassungsloser, zur Höchstform aufläuft: „Ich kipp Ihnen gleich einen Eimer Wasser auf den Kopf; das ist die Höhe, nee, wo Sie herkommen, wo ist das?“ Doktor Pichelstein antwortet wahrheitsgetreu: „Aus der Pension. Das Klo ist abgeschlossen“. „Das glaub ich ja jetzt nicht…“ Der Mann ist dem Herztod sehr nahe und droht erneut mit dem Eimer Wasser. Doktor Pichelstein ergreift die Flucht in den Frühstücksraum; dort, um die Ecke, befindet sich tatsächlich eine Ablass-Stätte. Endlich in Sicherheit. Ja, die Bundesgartenschau mit ihren Graulocken. Alle Zimmer mit Klo und Dusche wurden diesbezüglich okkupiert. Das verdient Strafe und der nächste, der sich bei Doktor Makarios unrühmlich beschwert, ist so eine graue Locke: „Na vielen Dank, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte bei ihrem lauten Organ“. Solche Laune kommt vom vielen Blumengucken. Ganz bestimmt und keine Frage.



Nach dem Wasser-Fauxpas im Zeppelin enthalten die Gläser nun eine hochkalorische Schnapsmelange; der zweite Konzertblock beginnt und endet in diversen Zugaben. Aller Sound hat trunkene Fleißbienen verdient; der Lange ist wahrlich ein Genuss am Pult. Gerne hätten beide Doktoren theoretisch weitergespielt. Aber am Ende schwächeln dann doch die praktischen Kräfte ein wenig im Sog aus langer Fahrt und Schnitzelschnaps. Im Schwitzehemd steht Doktor Pichelstein vorm rauschenden Zeppelin - und freut sich auf eine verdiente Dusche echten Wassers.   





25. September 2009, Dresden/Zschonergrundbad

Mit Schnaps und Weibern dem Morgenrot entgegen (187)

Eine ausführliche Depesche zum X. Pratajev-Kongress



Wir schreiben den 25. September 2009. Nach unzähligen Vorbereitungsorgien, letzten Telefonaten mit dem gesetzten Moderator Max Reeg (Der MDR lässt mich nicht weg aus Halle – es kann nur ohne mich laufen), startet der bis unters Dach beladene Tourbus ab Leipzig gen Dresden, zum Luftkurort Zschonergrundbad. Die Sonne gibt sich redlich Mühe, blendet wie trockenes Heu auf einer Miloproschenskojer Mistgabel, Kälte-Sänger Shiva hält Kurs. Saitenfachmann Gabor passt mittels energetischer Zurufe nach vorne auf, dass das ja so bleibt. Pünktlichkeit ist sehr gefragt, auch wenn die boxenpassende PA-Endstufe friedliebend im Die-Art-Proberaum zurückbleibt. Dr. Pichelstein besitzt ein weniger belastbares Gerät zur Aufnahme diverser Endgeräte-Bühnenstecker, nun gut. Später, beim Prumskibeat-Auftritt wird es livehaftig zum Ersatzeinsatz geschickt, vorgesehen war es eigentlich für die Lesebühne. Mikros mag das Gerät, fette Gitarren und dichte Einspieler eher weniger. Zum Zeitpunkt des Soundchecks, beim ersten Nachmittagsbier, weiß das aber keiner so genau.

Doktor Gerd, Hauptwirt des Zschonergrundbades, sorgt mit seiner grundgütigen Thekenschaft dafür, dass nichts aus dem Rahmen der Speisen und Getränke fällt. Schon blubbert die Soljanka, rechtzeitig  dampfen die Pelmeni, Brote flutschen wie geschmiert auf silbernen Tabletts herum. Der Vodka zeigt  Nachttemperaturen. Später lässt sich die Pratajev-Forscherin „me…“, unterstützt von Myspace-Sir Disorder,  darob zu folgender, papierner Aussage hinreißen:  

Sto Gramm zum frühen Morgen
Sto Gramm zur Mittagszeit
Sto Gramm zu jeder Stunde
Rein damit, in meinen Kopf hinein

Und danach frag ich mich:
Das soll Janka sein?

Um dem Abschnitt späterer Spontandichtungen im Publikum noch mehr Auftrieb zu verleihen, dürfen diese Zeilen (wir fanden sie kurz vom Aufbruch in die pensionierte Herberge, beim Allerlei-Sammeln) nicht fehlen:

Das Dresdener Kriechmädchen

Wohl ist ihr völlig gleich
Nach Hause zu kommen

Das Dresdener Kriechmädchen
Hört die Musik
Sie hört die Bässe
Mitten in der Nacht

Russian Doctors haben sie um den Schlaf gebracht
Der Sound ist neu und die Texte sind genial
The Russian Doctors
Zum allerersten Mal

Womit bewiesen sein dürfte, dass Dresdener Kriegsmädchen auf dem Kongress weilten, ausgebombt und durstig. Spricht und schreibt der Dresdener doch kein „g“ -  alles klingt irgendwie gerne nach „ch“, nü? Begrüßt wird weiterhin erst einmal Pratajev-Verleger Andreas Reiffer und wäre die Klosterfrau mit Ukrainischem Vodka etwas früher um alle Großenhainer Ecken gekommen, wer weiß, ob die damit flüssig Gefütterten hernach in der Lage gewesen wären, treppab das Kongressinnere je zu erspähen? Doch nein, mehr als zufrieden darf die Pratajev-Gesellschaft mit der Besucherscharf bereits früh am Abend sein. Noch ehe Doktor Makarios, nach und bei erstem Liedgut der Russian Doctors, die Feierlichkeit eröffnet, finden sich 80 Kongressteilnehmer auf den akribischen Einlasslisten unserer verehrten Frau Dr. Manjoschka Gnatz wieder. Gesamt sollen es um die hundert Besucher gewesen sein. Und im Leseblock, dem ersten, begrüßt Doktor Pichelstein moderatorisch das Haus aus Stein. Mit ihm seine vielen anwesenden Forscher und Forscherinnen aus aller Welt. Aus Karl-Marx-Stadt, Münster, Berlin, Soltau, Wismar (Preis des „Weitesten Kongress-Weges“: Ein Schnitzwerk aus dem ukrainischen Marianowka), Halle u.v.m.  Die Jury für den Rüsselhundmalwettbewerb wird derweil bestimmt und Dr. Eademakow übernimmt den Rundtisch für neuste Berichte aus der Pratajev-Berlin-Forschung.

Draußen, unterm Zelt Richtung Schnapsbar, steht wenig später ein indoktrinierter Raucher aus Leipzig, nicht aus Bolwerkow. Doch genau diesen Stand treiben ihm alsbald sämtliche  anwesende Kongressteilnehmer ergreifend aus – lange, viel zu lange hat es gedauert. Die Pratajev-Bibliothek im Reiffer-Verlag machte es möglich, harrte energisch verzögerten Texteinreichungen hinterher, strengte sehr und dafür leuchten jetzt die allermeisten Augen. „Der Raucher von Bolwerkow. Pratajev III – Das große Lesebuch“ liegt wie kostbare Froschbutter in den Händen des Doktor Makarios. „Pratajevs Briefe an seinen Verleger Wallgold“ ertönen zum Gehör und mit dieser Buchpremiere beginnt der erste (von vielen, unendlich vielen) Höhepunkten des Kongressabends. Die Auswahl premiumverdächtiger Rüsselhunde steigt derweil an, ebenso rätselt mancher überm „Löffel-aus-Holz-Quiz“. Aber mal ehrlich? Hätten Sie alles gewusst? Erster bis dritter Preis: Ein handgeschnitzter Löffel aus ukrainischem Bergzedernholz.



Wann und wo wurde Pratajev geboren?                                 

                                                                                                                                                             

O     12.09.1902 in Miloproschenskoje                                                                                                

O     02.10.1903 in Loptschevsk                                                                                                      

O     02.09.1902 in Kurtschinsk- Robersk                                                                                      

                                                      

Wo lebte Pratajevs Plagiator Uschakow?



O   innere Mongolei

O   äußere Mongolei

O   im Uralgebirge

                                                    

Welchen Beruf übten seine Eltern aus?                                 

                                                                                                                                                             

O     Krankenschwester und Wirt                                                                                                    

O     Kuhbürsterin und  Heilkräutersammler                                                                                      

O     Melkerin und Waldarbeiter                                                                                                      



Welche Tätigkeit übte Pratajev nicht aus?



O   Karusselführer                                                                                                                             

O   Hilfszahnarzt

O   Holzschnitzer

                                                                                                                                                              

Aus welcher Schaffensphase Pratajevs stammt dieses, durch die Band Prumskibeat später vertontes, Gedicht?



Schere aus Stahl                          

                                                                                                                                                             

Schere aus Stahl                          

gerührt von schwieliger Hand 

Mütterchen Iwanowa                   

fährt als Frisöse                            

übers Land                                       

                                                                                                                                                             

O Pratajevs Sorgenphase                                                         

O Die Miloproschenskojer Phase                                                                                                                    

O Pratajevs Gottesphase



Von welchem Gedicht Pratajevs ist hier die Rede?                                                                    

                                                                                                                                                             

O Jeder Schluck ist ein guter Schluck

O Gelber Schnaps                                                                     

O Schnapsbar (hier hab ich gelegen)



Das Gedicht ??? wurde kurz nach seinem Abdruck in der Literaturnarja Gazieta verboten, da es das Saufen und illegale Selbstbrennen von Schnaps verherrlicht. Nichtsdestotrotz rezitierten die Männerrunden mit Vorliebe dieses Gedicht, besonders, wenn Iwan Petropowow in der Nähe war. Petropowow war 5 Jahre Vorsitzender des Dorfsowjets von Garbulje und hatte das Verbot verfügt. Ironischerweise starb Petropowow 1959 nach einem Saufgelage, als er auf seinem Wege nach Hause in die offene Klärgrube der Familie Rymov (Garbuljer Linie) fiel.                                                                                                                           

Unter welcher, durch Pratajevs Medizinisches Fachwissen, entdeckter Krankheit litt der Traktorist Igor Rymov?

                                                                                                                                                              

O Pferdelunge                                                                            

O Lungenschizophrenie                                                                                                                  

O Pneumowade                                                                                                                                

                                                                                                                                                             

Nun. Die Klosterfrau, Mönch Markus, Frau N. nebst Lars dem I. bekommen ihre Grützenlöffel je später der Abend dahinfließt. Fließend erweist sich nach Makarios‘ Lesereigen ebenfalls der Beitrag der Kapelle Prumskibeat. Anfänglich umrahmt von Endstufen-Unpässlichkeiten scheppert’s hart und unnachgiebig durch’s gesamte Tal des Luftkurortes: Väterchen Frost, Als das Eis kam, Schere! Aus! Stahl!, Reg dich nicht auf… Die Wagner-Brüder Oppenheim und Baldowski geben und spielen wie immer: alles. Dr. Pichelstein ergänzt hartsaitig und nach 35 Minuten gibt es Pausensnacks. Erste Ausfallserscheinungen und Schwächezustände betagterer Kongressteilnehmer werden derweil mit Schnaps und Suppe versorgt.

Bevor es zum vornächtlichen Kulturbeitrag der „Kälte“  kommt, spricht Dr. Dominik Irtenkauf im Lesebühnenrund über Pratajevs Georgien-Zeit. Unlängst forschte der Münsteraner Philosoph und Lebenshilfebringer dortselbst; Teile des dargebotenen Beitrages finden sich in den Häusern aus Stein wieder. Das Publikum ist ergriffen. Georgien, das sonst so verschmähte Willi-Land, schien bisher nur aus Fußballern solch zweifelhafter Mannschaften wie dem Karlsruher SC, dem FC Freiburg oder Energie Cottbus zu bestehen. Dachte man. Anders ist es. Georgien macht nämlich auch in Wein! Es füllt seine Rebenerzeugnisse sogar in Steinflaschen. Stichwort: Preisverleihung des großen Rüsselhundmalwettbewerbes: Dritter Preis: Lady Bright, anders gesagt: Katja Götze: Eine Flasche Drachenblut aus Zwickauer Katze. Zweiter Preis: me..., anders gesagt: ASto jun: 40 %iges Schnapsrasierwasser. Erster Preis: Frau Dr. Manjoscha Gnatz: Eine Flasche Wein aus georgischem Stein. Grenzenloser Applaus, Tusch und Hurra. Betrachten Sie selbst:

Fehlt noch die schlussendliche, durstfreudige Oberhudelung des Abends: „Der diesjährige, ehrenvolle Preis der Forschung wird verliehen an die AG Junge Pratajev-Forscherinnen“, ruft Doktor Pichelstein schwankend aus. Doktor Makarios schickt sich an, den kürzlich erst frisch gravierten Wander-Pokal zu überreichen. Die einzig anwesende Vertreterin der sehr jungen Forscherinnen ist das Hellsing-Girl und es liest darüber, wie der Nischel nach Chemnitz kam. Ob der späten, trunkenen Stunde gewinnt dabei das Sächsische stark an Oberhand; Dr. Pichelstein überlegt, ob eine Livesynchronisation sinnvoll sein könnte. Zumal sich bei weitem auch Nordostdeutsche im Publikum befinden. Aber – mit jedem neuen Schluck aus dem Glas, später aus dem Pokal (geteert und gefedert mittels Inhalts einer Flasche Krimsekt, den Myspace-Sir 2kTRe vorab gewann, doch warum nur? Weiß es der Wind? Weiß es Pratajev?), obsiegt der schöne Textbeitrag. Applaus gibt es dafür vielhändig - bis über den feinen Sound der „Kälte“ draußen hinaus.

Shiva und Gabor spielen ein wahrlich fulminantes Set aus Traum und Wirklichkeit. Beide Wagner-Brüder schwelgen mit Doktor Pichelstein dabei in den heiligen Plattenschränken der 80er. Dann rauf mit den Doctors auf die Bühne, Pratajevs Lieder spielen. Den „Gelben Fettfrosch“, die „langen Haare“ und als der „Angler in der Dämmerung“ gerade zu Ende gesungen ist, dreht die hiesige Volkspolizei dem X. Pratajev-Kongress allen Bühnenstrom für immer ab.


Es ist eben immer und überall wie früher und einst beim großen Dichter S.W. Pratajev. Doch da keiner der Polizisten eine Pavlowitsch-Pistole zieht, beginnt die tiefe Nacht mit dem Ende des Abends und dem allerletzten Programmpunkt: Nachwanderung zur Pension. Nicht alle kommen beschwerdefrei an. Mit Schnaps und Weibern geht es dem Morgenrot entgegen und das Hellsing-Girl ruft ein ums andere Mal: Ich geh‘ nicht einen Schritt weiter… 

       

26. September 2009 Torgau/Brückenkopf

In den Wahlkabinen von Dolly Buster (188)



Nach dem Kongress ist vor dem Kongress und nach einer Bundestagswahl ist vor einer Bundestagswahl. Was zwischendrin passiert, das pendelt zwischen eigenen Schicksalen hin und her. Hoffentlich kommt man davon, das ist die Devise. Und natürlich: Hoffentlich lassen sie einen in Ruhe. Allerdings – beim kaschierten Plakatanblick eines baldigen Staatsmannes vom Format „Dr. Guido Westerwelle“, ja, da kann einem schon angst und peinlich werden. Diesem Land ist einfach nicht zu helfen. Der ankreuzende Deutsche liebt es eben, persönliche und allgemeine Untergänge wählbar zu gestalten. Was lange Jahre im Westen so schief gedieh, kam mit der Wende pronto im Osten an. Demokratie ist vornehmlich eine Spielwiese für Verdummte, aber seien wir mal ehrlich: darin lässt sich wenigstens gute Musik machen, lassen sich feine Abende gestalten und auf geht’s mit den Russian Doctors im Torgauer Brückenkopf, das bereits zum 4. Mal.

Gemütlichkeit obsiegt; das Backstage dampft vor Leckerlies. Flüssignahrung, feinste Weine, Hanutas, Bananen und Bier im Kasten runden das Warten ab. Gegen kurz vor 23 Uhr läuft’s Intro. Doktor Sperrzone lädt ein in die wohlgesoundete Bühne und das Publikum macht sich auf den kurzen Weg. Der führt von der Schnapsbar bis zu Pratajevs Weisen. Angefeuert lieben es die Doktoren am heißesten. Dr. Makarios treibt russische Mikrolandluft zur Decke, darin gefangen: Kühe, denen es gut geht und all die anderen Werke Pratajevs, von denen feiste Schnellgitarren-Rede ist. Ein literarischer Ausflug in den „Raucher von Bolwerkow“ wird prompt mittels Tumult im Saal beantwortet. Wie sollte es anders sein? Denn so, genauso, war es damals, bei Pratajev, in Russland.

Einer kurzen Pause folgen mehrere Pfefferminzschnäpse auf einmal. Der Ansporn für Doktor Pichelstein, noch schneller zu spielen. Bis in die Zugabeblöcke verirrt er sich, wohl wundernd, warum heute keine Volkspolizei das Konzert zu beenden gedenkt. Schon heißt es: Nach dem Konzert ist vor dem Konzert. Egal, ob Dr. Guido Westerwelle tags drauf tatsächlich am Holz der Bundeskanzlerin knabbern darf. Die Punks schnorren sich Euronen für Doctors-Platten zusammen. Dann sitzen die Schlussverbliebenen an der Bar, trinken alles und viel davon. Auf geht’s letztlich zur Pension Gotthardt, ins nummernlose Zimmer 7. Wie man sich da zurechtfindet? Die 7 ist das einzige Zimmer ohne Türnummer. Darin verschläft es sich alsbald besonders gut. Und wenn Frau Gotthardt nicht so lieb wäre, wer weiß, ob es gegen Elf noch Spätstück geben würde? „Ach, wir haben gestern auch lange gesessen“, sagt sie nur und das mit Wonne.

„Pension Gotthardt“, raunt Doktor Makarios am Wahlsonntag. „Ob’s unter der Elbe hier auch einen solchen G-Tunnel gibt?“ – „Ich glaube ja“, spricht Doktor Pichelstein. Aber was sich ihm eine Dreiviertelfahrtstunde später, in Leipzigs Eisenbahnstraße, auftut, sind lediglich ein paar FDP-Topless-Busse mit Graulocken drin. Und im Übrigen herrscht am Wahlsonntag größter Andrang bei Dolly Buster. Ihre einladenden, vielversprechenden, filmreifen Wahlkabinen sind Männern heiß und begehrt, sind viel wert, auch wenn sich darin wenig ankreuzen lässt.               


09.10.2009
Feldmänner im Tonstudio

Doktor Makarios schnellt fahrrads, leicht verspätet, um die Täubchenweg-Studioecken. Leipzigs Hauptzufahrtswege sind alle gesperrt. "Wir sind ein Volk," ruft der hiesige ABV-Betrunkene beim Zerschmettern von Bierflaschen. Tausende sind auf den Beinen, Lichter sollen brennen und Frau Merkel dankt nicht ab, sondern auf.


"Armer Herr Baldowski", gedenken The Russian Doctors ihrem Prumskibeat-Gitarristen. Ist er doch auch heut' gewiss verantwortlich für die kanzlerische Gewandhaus-Tontechnik und muss sich das Salbader des Gedenkens aus unmittelbarer Nähe anhören.



Tontechniker Veit Kirsch hat drei russische Einspiel-Gitarren-Mikrofone besorgt. Stolz entpackt er die Lieferung aus Zigarrenkisten, schraubt hier und dort herum. Schon sitzt der eine Doktor und steht der andere. Alle Demo-Spuren werden gelegt; Doktor Pichelstein wird die kommenden 7 Stunden (unterbrochen durch das Menü 59 der asiatischen Verschlagskarte an der Dresdener Straße) Gitarre spielen. Sozusagen: 3 Konzerte am zeitähnlichen Stück. Erst dann schönt Erlösung vom ersten Studiotag.

Gemeinsam versuchen die Beteiligten indes Ernst und Haltung zu bewahren. Was nicht leicht fällt. Das Ersteinspiel des "Löffel aus Holz" ist erst nach vielen Versuchen möglich. Immer wieder verliert der Tontechniker die Fassung und es bedarf Taschentücher um die Tränen der Freude trocknen zu können. "Rühre die Grütze voller Stolz, Löffel aus Holz.... Schauen wir alsdann, wie es Montag weitergeht... 



22. Oktober 2009 Jena/Café Wagner

Schwanz ab: Pratajev im literarischen Salon (189)



Dieser Tage fährt es sich reichlich furchtbar gen Jena. Vor allem, wenn die Thüringen-Autobahn bereits ab Eisenberg verlassen wird. Danach wartet nur noch eines: Die Umleitung der Überleitung von der Umleitung. Scheint so, als läge das Jenaer Land in Schutt und Asche. Doktoren kreiseln sich ergo durch verlassene Dörfer, nebelige Schwadengefilde; zurückgelassene Rüsselhunde bellen bedrohlich. Eine absolute Finsternis löst schließlich abendliche Dunkelheiten ab. Fehlt augenblicklich, im Schein der Gaslampe, nur noch der bucklige Glöckner von Notre Jena auf dem Audikühler. Die Sprecherin bei Radio Antenne Thüringen sagt: „Endlich ist der graue Tag vorbei, wollen wir uns am Nachthimmel erfreuen“. Sterne hat er nicht. Kaum zu erkennen sind die unmarkierten Teerfleckchen, auf denen langsam gefahren werden muss. Die pauschalen Zielkilometerangaben sind deutlichen Schwankungen unterworfen. Mal sind es 5 davon bis zum Zielort, dann wieder 13. Je nachdem, welcher Umleitungsstrategie gefolgt werden muss. „Mein Doktor, die führen uns direkt in einen Thüringer Wurstschlachthof“, mutmaßt Doktor Pichelstein. Doktor Makarios reagiert nicht, sagt Sätze wie: „Hier war ich noch nie im Leben“. Schlussendlich aber den goldenen: „Das muss jetzt Jena sein. Aber wo führen die uns rein?“ Der Regen wird schlimmer, das Tourauto astet an Baustellen entlang. Die Wagnergasse, endlich. Nie zuvor war man so gern hier am Ziel.


Gert und Eddi, zu beiden Teilen Verantwortliche des heutigen Wagner-Abends, zerren einen schlafenden Techniker aus den Hutecken des Cafés, die Bühne soll mit Gitarren befüllt werden. Eine Youtube-Kamera baut sich davor auf. Doktor Makarios macht sich auf den stadtmatschigen Weg „Zur Noll“. später soll im nolligen Etablissement genächtigt werden. Wie sich im Verlauf des Abends und der Nacht herauskristallisieren wird, sehr viel später.

Die ersten Wagner-Besucher stellen sich als Kartenspieler heraus; Doktor Pichelstein erwartet jeden Moment, dass Stammtisch-Trophäen auf Tische verteilt werden, Politik zum Thema wird, Zeigefinger über Schnapsgläsern ansteifen. Doch nein, so weit kommt es nicht. Die Kartenspieler sind, bei Lichte betrachtet, im mittleren Studentenalter anzusiedeln. Mehrheitlich trinken sie deshalb - anno 2009 - Tee. Draußen, im Raucherbereich, klirren derweil Bierflaschen aneinander. In papiernen Auslagen stöbert es sich bestens durch aktuell antifaschistische, antisexistische Pamphlete. „Schwanz ab“, spricht es aus einem Fulminazkleber an Weiblichkeit heraus. Und: „Nieder mit dem Konsum“, lautet das Motto im Allgemeinen. Was bedeutet das? Nieder mit dem Konsum? Oder ist wohlmöglich der „Konsum“ gemeint, als Supermarktkette? Die Botschaft des appen Schwanzes richtet sich gleichermaßen an „SexistInnen“. Man weiß wirklich nicht, wohin derlei Metzgerfantasien noch führen werden. „Brust ab“, „Po ab“, „Zopf ab“, nur das in keinem Falle.  

Das Berliner Einpersonenmusikprojekt „Yok Quetschenpaua“ bekommt von all dem nichts mit. Obwohl anfangs in der Konzertplanung des heutigen Wagner-Tages bedacht, fühlte sich der in gleicher Weise als „Quetschmän“ bekannte Spieler und Rufer bereits in den  Einladungsmails falsch dargestellt. Nur um „Yok“ sollte es gehen, weder um Paua, noch um Män. Schade. Gerne hätte sich Doktor Pichelstein über ein Wiedersehen mit dem Tastenderwisch gefreut. Trat man ungeachtet dessen bereits seit 1992 (Northeim, Cottbus usw) gelegentlich nacheinander bühnenreif an. Unter solch schmunzelnden Überlegungen startet das Konzert der Russian Doctors. „Pratajev im literarischen Salon“, titeln ungedruckte Kulturpamphlete später. Sehr brav nimmt der Abend seinen Laufpass auf, zu Tischen sitzt das Publikum und Doktor Makarios referiert durchs Programm. Hausaufgaben gibt es von Stück zu Lied: Schnapstrinken. Ganz viele Gläser. Als weisen Vorgeschmack reicht Gert den Doktoren eine volle Voda-Flasche auf die Bühne. Und die nächsten Stunden halten, was sie versprechen. Eine Jenaer Hausärztin nimmt sich ihrer Kollegen an und diagnostiziert das, was über Pratajevs Leben bekannt ist: In Russland ist und war alles möglich. Nur solche Dinge wie „Schwanz ab“, die fielen ganz gewiss nur unter Fuchs- und Biberjägern.       



23. Oktober 2009 Weißenfels/Trofa  

Bockwürste an Thüringer-Jet-Tankstellen sind unbedingt zu vermeiden (190)


Vom Noll’schen Innenhof her wird in Zimmerservice-Gebärdensprache gen Hoteletage gedroht. „Aha“, spricht Doktor Makarios seinen Gitarrendoktor wach. „Das soll wohl heißen, dass man am Fenster nicht rauchen darf“. „Im Bett rauchen ist bei weitem viel angenehmer“, murmelt der und wundert sich schlaffen Blickes über ein früh wohl noch angebrochenes Bier der Marke Beck’s. Dönerig spielt sich zudem der Mundgeschmack ein und weil die Frühstückszeit längst überschritten ist, greift der Duschkopf prasselnd zum Musikerschweiß.

Schmuck geht’s zum Empfang herunter, um sich eine saftige Zur Noll-Standpauke anhören zu müssen. „Sie haben geraucht, das ist bei uns streng verboten“, baldowert die Lobbydame auf beide Doktoren ein. „Da wird das Zimmermädchen mich wohl verpetzt haben“, versucht sich der Sangesdoktor in süffisanter Beschwichtigung. „Das hat es wohl“, kommt‘s zur barschen Antwort. Doktor Pichelstein, zwei rasche Milchkaffeepötte auf der Flucht füllend, liebt sie besonders, die ostalgische Freundlichkeit im Diensleistungswesen. Aber gut, wer es sich leisten kann, darf seine Gäste gerne ausschimpfen. Grundböse wie sie waren, haben das Hotelzimmer mit schmauchenden Kippchen zerlegt.

Den Weg zum Tourauto säumen bekannte Gesichter. Sogar der Dönermann grüßt, als wäre Doktor Makarios bereits Stammkunde. Dabei muss, unter Recherche des Tourtagebuches, festgehalten werden, dass es in vorab 189 Konzertbeschreibungen nur zweimal Döner gab. Einmal in Hamburg, einmal in Berlin. Alle Vorfälle waren stets der Späte des Augenblicks sowie dem Angebot vor Ort geschuldet. Das Hauptnahrungsmittel einer Tour ist nämlich in erster Instanz die Tankstellenbockwurst an Senf und Brötchen. „Darüber sollten wir mal einen kulinarischen Führer schreiben“, sagt ein Doktor zum anderen beim Frühstück an der Aral. Ein Tipp vorweg: Bockwürste an Thüringer-Jet-Tankstellen sind unbedingt zu vermeiden!

Auf ins Saale-Unstrut-Weingebiet. serpentinenartig, matschig, mausgrau in steingrau. Nur überm „Fischhaus“, in Bad Kösen, OT Schulpforte schlüpfen einige kecke Sonnenstrahlen überm wilden Wein. Die Saale plätschert am Anglerplatz, am Radweg vorbei. Leckere Tellerbefüllungen werden drinnen gereicht und satten Bauches findet sich später Weißenfels. Die Stadt der Schuhe in der Leipziger Tieflandsbucht am Austritt der Saale aus dem Buntsandsteingebirge.

Mit der Gewandtheit eines Tümmlers dringen bepackte Doktoren in die Trofa vor. Deshalb Trofa, weil weiter weg einst die Trommelfabrik stand. Hier, am Konzertgeschehen, ddrte es anders, aber verwandt. Kultur wurde daraus, frisch in Eigenregie erneuert. Immer wieder unglaublich, was alles entstehen kann, wenn die richtigen Leute vor Ort zusammenfinden. Und eben nicht nur klirrendes Sternburger vor der Kaufhalle trinken, sondern dem Kultursäckel der Stadt jenen Job abnehmen, den diese nicht in der Lage zu machen ist. Vergleicht man die Szene-Budgets etwa mit dem Budget des Weißenfelser Schuhmuseums, spricht sich das Wörtchen „Makulatur“ getrost vornehm aus. Wie dem auch sei; an der Trofa-Bühne wird noch geschraubt, die Technik steht, Bar- und Backstage sind reichlich gefüllt. Fehlt noch der hauptamtliche Mischer, der einzelne Elemente zum Klingen bringen soll. Fünf Stunden später, kurz vor Einlass, begegnen sich Genie und Wahnsinn. Der Soundcheck gelingt, vollends erschöpft und gemangelt sinken beide Doktoren tief in die Ledercouch ein.

Befreit von allen Lasten startet das Konzert, rasch leert sich der Schnaps an der Bar. Es werden wilde zwei Bühnenstunden und da der einzig funktionierende Monitor nur die Gitarre Pichelsteins ernährt, flüchtet Makarios an den Bühnenrand. Die Frontboxen bieten wahrlich genug Ausklang und egal, wo sich einzelne Textstellenblitze in Gitarrengewittern treffen, der Donner ertönt krachend aus den tanzenden Reihen des famosen Publikums. Bis zur letzten Schnapsbar und allerletzten Zugabe und der Unbedingtheit, hier nächstes Jahr erneut spielen zu müssen. Kameras surren, Fotoapparate klicken; nach dem Konzert liegt man mehr, als dass man steht. Der letzte Button wechselt den Besitzer; jemand sagt, er habe FDP gewählt und das mit Überzeugung. Doch da der Westerwellefreund schwer betrunken ist, will ihn das ein oder andere Weißenfelser Mädchen erst recht nicht mit nach Hause nehmen. Einer der Trofa-Verantwortlichen hingegen nimmt sich der Doktoren an, spät aber immerhin: es geht zu Bett bevor es draußen wieder grau wird.      


24. Oktober 2009 Chemnitz/Subway to Peter 

Überrollt von einer mobilen Schnapsbar (191)



Aus der Retrospektive heraus fällt es natürlich schwer, über ein Konzert zu berichten, von dem nicht allzu viel Erinnerung übrig geblieben ist. Was in erster Linie einer Roten Armee von Schnapsgläsern geschuldet ist. Es begann allerdings andersfarbig, mit dem berühmten „Becherovka zur Verdauung“…

Doktoren im Subway zu Chemnitz, heute angekündigt mit dem Zusatz: „Makarios gibt sich die Ehre“. Gemeinsam versucht man sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn Doktor Makarios sich – statt Pratajevs Weisen zu Gehör zu bringen – dauernd die Ehre geben würde. Ein mannshoher Spiegel wäre von Nöten, vor dem sich der Doktorensänger den kompletten Abend selbst grüßend positionieren müsste. Große Sache. Doch nach dem Essen, dem ersten Becherovka, lässt sich böhmisches Gebräu weitaus besser ehren. Und weil die Bühne schon fertig gesoundcheckt ist, gibt’s zur Belohnung zwei neuerliche Breznaks. Und weil die Fliehende-Stürme-Fraktion gemeinsam mit weiteren freudvollen Gästen das Subway erreicht, greift der erste Mexikaner. Und der zweite. Und weil das Konzert sehr schnell werden soll, muss weiterer Becherovka her. Ab und zu schaut Doktor Makarios dem Erlenholzpichelstein über die Schulter und warnt vor schlimmen Folgen. Doch weil beim Gitarrespielen immer so sehr geschwitzt wird, kann vorab ein bisschen mehr trübe Flüssigkeit der Gesundheit dienlich sein. Und weil das Intro plötzlich läuft, muss sich Doktor Pichelstein etwas beeilen, die Bühnenecke pünktlich zu erreichen.

„Ja, wie geht das noch gleich? Hier ein Knöpfchen drücken, aha, die Batterie ist schwach. Das Lämpchen leuchtet. Neue Batterie einlegen. Wo war die denn gleich?“ Doktor Makarios schaut sich das zeitlupenhafte Gewirke des Gitarristen erstaunt an. „Da muss die rein. Geht doch. Und das Kabel muss hier und das Intro ist schon zu Ende, ach was…“  Und weil Doktoren immerzu, als rascher denn erwartet das Konzert zur Hochform anschwillt, über gute Schlücke, Flaschen in den Taschen, Betrunkene und Schnaps und Weiber singen, überrollt eine mobile Schnapsbar, wie sollte es anders sein, den armen Doktor Pichelstein. Knoblauchschnäpse, Mexikaner, Vodkas in Reinkultur, Becherovkas usw hat sie geladen.

Zugaben soll es reichlich gegeben haben, erstmals gar „Männer die am Feldrand stehen“; Augenzeugen berichten, dass der Gitarrist noch in der Lage war, drei Kabel in einer halben Stunde aufzuwickeln. Aus nackter Angst heraus, er würde noch ins örtliche B-Plan zum Tanzen geschickt werden, soll Doktor Pichelstein sich hernach freiwillig auf die Bühnenbank gelegt haben. Im Taxi zur Herberge sei er dann nicht weiter unangenehm aufgefallen und enorm dankbar soll er dem Klobesucher gewesen sein, der rechtzeitig vor ihm aus der Kammer kam. Dem krippenden Rausch weicher Kissen und Decken soll er abschließend friedlich erlegen sein, bis ein krabbelnder Wecker zum Wachhusten rief. Nun gut, das letzte Konzert im Jahr 2009 war’s. Ein Idyll schlechthin, im Februar geht’s weiter…         


27. November 2009, Leipzig/Alte Damenhandschuhfabrik
Alte Damenhandschuhe (192)

Radio Blau lädt ein; Doktoren spielen Benefiz für freies, heimisches "Bürgerradio". Obwohl blaue Macher diese Begrifflichkeit vermutlich eher weniger verwenden, spricht doch das Bürgerliche eher auf die Zukunft nach dem Studium ungeliebte Bände. So findet der Abend dann auch in einer alten Industriebrake namens "Alte Damenhandschuhfabrik" statt.

Seit dem Auszug der Werktätigen hat sich wenig verändert. Markant ist der Tresen, um den kalter Herbstwind fegt. Fleißige Hände bauen an zweiter Bühne, während den Doktoren berüchtigte Verzehrmarken gereicht werden. Es sind genau sechs an der Zahl, was Doktor Pichelstein empört zur Kenntnis nimmt. Doch nein, heute weniger zu trinken, ist halt für den guten Zweck. Eine schöne Variante und auf geht's in den Kultursaal, aus dem Geschichten und Gedichte quellen. Sogar ein lang verschollen geglaubter Bruder Bob Dylans hat sich vom WG-Tisch befreit und gibt klein bei, als er die Bühne den Doctors überlassen soll.

Immer noch trübe gelaunt behält Doktor Pichelstein Hemd und Jacke an, als das 25-Minuten-Minikonzert startet. Ja, das ist besser. Und der Himmel geht auf. Die kalten Finger hämmern in die Saiten. Da auf Monitore verzichtet wurde, wissen sie zwar nicht, was sie tun, aber das Publikum klatscht und Doktor Makarios spricht aus Pratajevs Seele, wohlig und charmant. Zwei kreischende Mädchen sind außer sich vor Freude, respektive innerlich gefüllt mit Szenedroge, und geben Gas.

Dann ist Schluss. Nichts wie raus hier aus der Fabrik, in der die Produktion alter Damenhandschuhe schmerzlich vermisst wird. 



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