Saturday, January 02, 2016

Behandlungszeitraum 2008
















08. Februar 2008 - Cottbus/Bebel
Eine Schnapsbar ist eine Schnapsbar 

Beginnen wir mal damit, wie sich der Tag nach dem ersten Halbgötters-Konzert des Jahres 2008 gestaltet: Die sibirische Kältezunge leckt behäbig am polnischen Rand der Republik. Beide Doktoren haben die bereitgestellten Betten der Wohnheimpension mit einer nicht zu leugnenden Restalkoholität verlassen; bemantelt wird so aus der neuen Campusbibliothek mindestens ein holder Eisberg. Studenten verschwinden darin wie Pinguine und urbane Verkehrszeichen. Da diese zusätzlich sorbisch kommentiert wurden, bleibt die Frage offen, ob es in Cottbus Menschen gibt, die nur sorbisch verstehen. Und wenn dem so sein sollte, ob man nicht besser auch z.B. die „Fürst-Pückler-Galerie“ schildbürgerlich versorbt. Nun denn, es ist Samstagmittag, der mit Fettigkeiten an heißem Kaffee Fahrt aufnimmt. 

Wenige Meter vorm Galerieeingang darf geraucht werden; die plattenbaugesprengte Umgebung erhält ihren Einprägestempel. Gerade will man von dannen fahren, zurück nach Leipzig, genauer ins Radio-Blau-Studio, als ein junger, bemützter Drogensüchtiger Doktor Makarios folgende Fragen stellt: „Hast du zufällig eine Frau? Oder eine Freundin? Oder dein Kollege da?“ Bass erstaunt verneinen die Doktoren, einen Zusammenhang suchend, da erscheint der Klon des Süchtigen auf der Bildfläche. Auf einem Damenfahrrad rollt er behäbig über die rote Ampelkreuzung. „Wir könnten euch ein tolles Fahrrad verkaufen, ganz günstig“, kommt der Süchtige auf den Punkt. Nun gut, seitens der Doktoren wird verneint, was das Zeug hält, das Geschäft platzt und wenn Ihr, liebe Cottbusser Damen, nun ein schwarzes, nagelneues Fahrrad mit Korb vorne dran vermisst, schaut mal vor der Fürst-Pückler-Galerie vorbei und kauft es günstig zurück. 

Die Fahrt in die Lausitz dauert Tags zuvor drei geschlagene Stunden; der finstre Landweg wurde gewählt. Ein großer Fauxpas, wie sich spätestens herausstellt, als sich Autokennzeichen des Elbe-Elster-Kreises vor den Touraudi kleben und wie Mähdrescher benehmen. Die Bundesstraße 87 sollte für Einheimische grundsätzliche Tabuzone sein. Wenn dem so wäre, würde viele Jugendlichkeit noch leben und nicht am Straßenrand bestattet sein. Streckenweise lässt sich der morbide Eindruck erwecken, man befährt einen kreuzwichtigen Soldatenfriedhof - auf einen Blitzer können locker drei Verkehrstote gezählt werden. Aber Doktoren lassen sich grundsätzlich in ihrem Ärztemobil durch nichts aus der Ruhe bringen. 

Derweil schallen Schlager aus Brandenburger Antennensendern, insgeheim schunkelt man ungläubigen Verstandes, was die Auswahl der Musikpalette betrifft, mit. Etwa wenn gesungen wird, dass mit Tommi an einem Sonntag die Liebe begann und an einem weiteren Sonntag alles schon vorbei ist, weshalb die Sängerin dieser Zeilen nun sämtliche Restsonntage ihres Lebens klageweiberisch bejammert. 

Im Bebelclub ist alles bereits bestens vorbereitet. Frieder heißt der Verantwortliche und der Doktorendank gilt besonders ihm, der Technik und den weiteren fleißigen Hausgeistern. Das Backstage ist befüllt; an nichts herrscht Mangel. Der Soundcheck mit drei Gitarren gelingt; erste Gäste bevölkern entzückt das Rund. Darunter ein paar Bekannte aus den, wie man so sagt, alten Zeiten, als Doktor Pichelstein noch solo „F6, bitte“ zweimal jährlich im Muggefug sang. Als Pratajev-Verleger Herr Reiffer sich noch in Cottbus die Haare blau färbte und Mitbewohner Mario den FDJ-Schlagbesen schwang. 

Das frische Halbgötters-Intro startet den Konzertmotor, die Zündkerzen sitzen in der richtigen Reihenfolge, der Funke springt über und nach dem Zugabeblock ist der Bebelclub endgültig Pratajev verfallen. So sieht’s auch Kati S aus C beim späteren Doktoreninterview an der Theke aus Holz, der bis in die Morgenstunden keine Ruhe gegönnt wird. Immer wieder tauchen aus der Cottbusser Nacht neue Koryphäen vor ihr auf. Frieder schenkt aus und ein, der „Gelbe Wahnfried“ erzählt dies und der vierkindrige Kurzhaarmann das. Was genau, weiß hinterher niemand mehr. Schließlich ist eine Schnapsbar eine Schnapsbar. Und darum singen The Russian Doctors gerne von ihr. 

15. Februar 2008 – Leipzig/Noch Besser Leben
Die Halbgötter sagen: Danke

Der CD-Release-Party voran ging die Entdeckung eines neuen Pratajev-Gedichtes:

Der alte Holzeimer

Heute noch
Wird mit ihm
Wasser geschöpft
Morgen
Kommt er ins Feuer.

Wenige Stunden später stehen, hocken, liegen, stecken 120 Menschen im Clubzimmer des „Noch Besser Leben“ fest. Kaum einer gelangt mehr sicheren Schritts an die Flaschenbar. „So viel war hier noch nie los“; voller Ergriffenheit blickt der Clubchef, von Beruf natürlich Doktor, in die Runde, welche direkt vor seinem trunkenen Tablett aus Holz beginnt. Darauf positioniert: Schnapsgläser, gefüllt bis zum Rand. Vorher muss Senf drin gewesen sein, rein proportional betrachtet. Ja, man wagt kaum etwas über diesen Abend zu Papier zu bringen. Je unglaublicher er seinen Lauf nimmt, gezielt aus dem Pistolenlauf eines Igor Pavlowitsch’, desto mehr gerät die Erinnerung an vergangene, russische Teehauszeiten zum Beiwerk schwelgender Allianzen.

Als beinahe jeder Auftritt Pratajevs und Prumskis bis zum Fanal gefeiert wurde. Als die Melkerinnen, die sehr jungen Krankenschwesternschülerinnen und auch die jungen Kolchosbauern Schlange standen. Als der Kunstfleischer Bermasik beim Wurstlegen tragisch verunglückte, als man mit den Überresten von Prumskis Erlenholzgitarre die Zeche zu bezahlen in der Lage war. Man sollte ergo resümieren und feststellen: Geschichte wiederholt sich. Und manchmal ist sie eine Wintergeschichte mit großem Tohuwabohu.

Die Fanclubs sind fast vollzählig angereist, Freunde des Zwischenspektakulums „Die Pest“ ebenso und jeder Schluck ist ein guter Schluck, wie wahr das heute ist. Genauso tropft der Schleim vom Arm und auf dem einzigen, dem roten Kannapee-Sessel sitzt ein Girl. Doktor Makarios’ könnte heute noch stundenlang (vielleicht sogar Telefonbücher) vorsingen, Doktor Pichelsteins pfeilschnelle Gitarrenakkorde dringen tief, als großes Ouvere, ins fiebrige Publikum hinein. Bühnenpräsenz wird unter Strom groß geschrieben - kyrillisch, versteht sich, bis tief in die Nacht.

Eine Nacht, in die zwei Halbgötter dankbar, benommen entschwinden. Mit einem letzten Becherovka auf dem Zungenpelz. Dem geht es gut, dem ist nie kalt, dem Pelz auf der Zunge im Wald.     

16. Februar 2008 – Großenhain/Hexenstübel
Katzenberg strikes back

So ein Ding. Das Tourauto der Doktoren wird ausgerechnet in Katzenberg vom Blitz getroffen. Gleißend rotes Blendwerk feuert auf die nass gepunktete Windschutzscheibe hernieder, Doktor Makarios fällt beinahe die Kippe aus der Hand. Ja, die Region ist arm. Katzen regieren den Berg und den vergoldet man am Besten mit Einnahmen aus kastengroßer Wegelagerei. Vermutlich fließt das Geld aber direkt in den Landkreis Riesa-Großenhain, beachtlich: ein neuer Tunnel zeigt sich. Man fährt langsam, beinahe andächtig hindurch, als würde es gen Prag gehen. Doch nein, heute ist der Tag nach der CD-Release-Party. Schwummerigen Halbgöttern gönnt man ein Stelldichein im allseits beliebten Hexenstübel, wie vor Jahr und Tag und davor noch ein paar mehr. Nico Biberowitsch, der harte Wirt Micha, Kolchos-Biberjäger Jörg sowie eine Dame aus der peitschenden Lehrerzunft begehen Feiertage. Einige davon sind bereits etwas länger her, doch das ist immer so. Geburtstage sind Tage der Besinnung, der Reflexion. Dagegen hilft nur Schnaps, der – wie immer – reichlich ins Hexenstübel getragen wurde. Trinkfeste Grundlagen dampfen am Buffet; Jörg fährt in die Suppe mit dem Löffel aus Holz. Curryhenne und Reis, teiggerollte Lachshappen, Würste vom Biber, Salate, Sonne und Brot – was im Weg steht, wird einfach aufgegessen. 

Augenblicke vorm ersten Konzertblock überreicht Doktor M Herrn Biberowitsch zwei doch sehr rare DIE-ART-Demos, rar deshalb, weil gerade erst aufgenommen. Ein Fest für passionierte Raritätensammler, doch folgender Trost gilt allen anderen: DIE ART arbeiten gerade einer neuen CD um den Song „Pale“ herum. Fertig werden soll der Silberling zur Herbsttour. Doch jetzt ist Winter, Gästescharen tropfen nass herein und bilden die auf Partys sehr gefürchteten „Grüppchen“. Micha, der harte Wirt, pendelt von einer zur anderen, den Schnapsausschank in der Hand. Die Fraktion um Frau Lehrerin plant eine Einlage, auch „Einlagen“ sind sehr gefürchtete Partyvorkommnisse. So spielen die Doktoren, den Sound im Nacken, ins Volk hinein. Makarios’ Pratajev-Kapriolen starten zum parabelförmigen Flug und die Mikrofone aus Funk dringen allenthalben in jeden Winkel. Pause. Einlage. Slipeinlage, was man beim Wörtchen „Einlage“ alles denken kann! Schnapseinlage passt besser, der zweite Konzertblock startet dann schon etwas trunkener und erhöht seinen Punkt mit folgender Begebenheit: Dem Wirt wird eine Kuh geschenkt, kurz nach dem Song „Der Kuh geht’s gut“. Und Micha muss sich wie ein Alkoholsünder bei der Polizeikontrolle fühlen; doch die Schwarzweißgescheckte ist aus Plastik und vom Sextoyversand. Muhen kann sie auch, immer dann, wenn man hinten was rein steckt. Die Verpackung warnt: Bitte benutzen Sie stets Gleitcreme. Der Saal tobt. Und gegen Ende spielen die Doktoren noch ein paar Samtmarie-Titel, auf Wunsch des Nico und der Göttergattin. Doch das ist eine ganze andere Geschichte, die sich sicherlich in Bälde wiederholen wird, wenn das komplette Goldeck-Projekt auf festen Livebeinen steht.  

Während im Hotel Stadt Dresden, an der Kupferbergstraße 3c, die himmlische Dusche zum Umfallen einlädt und der Spiegel an der Wand zum Steckbrief für Verliebte wird. 

17. Feburar 2008 – Berlin/Duncker
Berlin ist keine staatlich anerkannte Erholungsanstalt

Großenhain besteht u.a. vielleicht nur noch aus drei Briefkästen. Einen davon zu finden gilt es; die Gefährten tragen Ringpost bei sich auf dem Weg nach Mittelerde, nach Berlin. Auf dem Marktplatz versenkt Doktor Makarios Umschläge, ein vulkaner Kasten ist gefunden, während Doktor Pichelstein das Auenland in Gestalt mehrerer Polizeifahrzeuge ausmacht. Orks gibt es auch, die sitzen am Steuer. Die LVZ-Ausgabe des letzten Freitags, Rubrik: Lokales, Taucha, berichtete von einem Gitarrenspieler namens Locke, welcher kürzlich seinen Nachnamen mit „o’Nash“ aufhübschte. Der passionierte Neil-Young-Verehrer heißt eigentlich ganz anders. Aber vielleicht gibt es jenes ungeschriebene Gesetz, in dem vorkommen könnte, dass Gitarristen sich o’nashen sollten, natürlich nur sofern sie in der Lage sind, einige Stücke des Folksoldaten Young in Leipzig und Umgebung zu spielen. „Helpless“ im Holzfällerhemd, „Heart of gold“ unter grauschütterer Mähne. Gumpi o’Nash meets Pichelstein o’Nash, also Shiva o’Nash with a mixed setlist of DIE-ART-Russian-Doctors-Neil-Young-Tracks. Only Makarios is not o’nashed; he’s the singer and leader of the pack. “Makarios, you will also be o’nashed? No problem: this notes for you: Sing “Like a hurricane” as Makarios Oley o’nash. Doch zurück auf die Straße, die Tankstellen sind abgefahren, ein Max Goldt-Tape läuft und der Spreewald ist das vorläufige Ziel, sofern er nicht geschlossen ist. 

Im - laut Veranstaltungstipps-Flyer - staatlich anerkannten Erholungsort Lübbenau stoppt der Touraudi, unweit des Hafenrestaurants „Rudelhaus“, wobei zunächst darüber sinniert werden sollte, wer für staatliche Anerkennungen hiesiger Erholungsorte allgemein zuständig sein könnte. Dermaßen anerkannt werden doch eigentlich nur jene juristischen Personen, deren bestandene Diplome, Zertifizierungen und Krankenpflegeabschlussprüfungen einer Bezirksregierung vorgelegt wurden. Dass man ganze Ortschaften staatlich anerkennen kann, ist wirklich mehr als interessant. Und was geschieht, wenn die Bewohner Lübbenaus sich nun anschicken, angereiste Gäste, welche auf langen Wasserstraßen des Spreewaldes rudernde Selbstfindung begehren, zu demütigen? Die Gäste in Gurkenfässer stecken und auf sie herunterspucken? Wackelt dann die staatliche Anerkennung Lübbenaus genauso bedenklich wie das Weltkulturerbe-Siegel des Dresdener Elbtals? Wird man eines Tages Beamte schicken, die auf der Bowling-Bahn des Rudelhauses verdutzten Einwohnern die Aberkennung, ja vielleicht sogar die Ausmerzung, des gesamtes Ortes verkünden? Jedenfalls schmeckt den Gefährten die Speisekartenauswahl, Cola und Fassbrause stellen einen trüben Tee am Tischrand in den Schatten; besagtes Hafenrestaurant „Rudelhaus“ kann weiterempfohlen werden.

Berlin ist keine staatlich anerkannte Erholungsanstalt, obwohl – z.B. Friedrichshain abwärts – sich seit Beginn des Jahres überall Umweltzonen breitmachen. Um diese mit dem Auto befahren zu dürfen, bedarf es einer selbstredend grünen Prüf-Plakette. Wer die nicht vorrätig hat, muss bestraft werden, und zwar mit 40 Euro Bußgeld. Doktor Pichelstein sorgt sich darob ein wenig; an der Tourwagen-Windschutzscheibe kleben höchstens ein paar abgelaufene Autobahnvignetten. Doktor Makarios beruhigt und erspäht eine Menge Autos, die mitnichten auch nur in den Prüfgenuss kommen würden; rußschwarz mufft ein Dieseltransporter auf der Überholspur vorbei. Vermutlich hält man es mit den Umweltplaketten genauso, wie mit dem Nichtraucherschutzgesetz: Übergangszeiten der Gewöhnung werden gewährt, in denen Uruk-Hai-Politessen aus dem Schlamm gezogen werden, bevor sie zu Hunderten, in blauen Kleidchen, auf die Scheibenwischer der Stadtautos losgelassen werden. Nur in die Nähe des Duncker-Clubs würden sich wenige trauen; hier herrscht in erster Linie der Hund. Er hat groß zu sein, promenadiger Ursprung ist Pflicht; ein Kiezbewohner muss dranhängen. Jener trägt ein Kapuzenshirt, eine Armeehose und die Kapuze hat unbedingt den Kopf zu bedecken. Man geht gebückt, schaut aufs Tropfsteinpflaster herab; wie ein Waldläufer sucht man Spuren. Welche mögen es sein? Natürlich Spuren von Hundekacke, denen man bis in die nächste Spelunke hinein folgt, denn dort sitzt der gesuchte WG-Genosse neben seiner Scheißmaschine, dem Umweltzonen-Hund. Alles Klischee? Weit gefehlt. Da die Doktoren eine Stunde zu früh vorm Club residieren, wohl wissend, dass Berliner Parkplätze so rar wie Berliner Gute Launeanfälle sind, lässt sich die Szenerie in der Dunckerstraße nicht anders beschreiben.

Doch zum eigentlichen Konzert, hier die Ankündigung, die gar zum Tagestipp des Senders „Radio Eins“ avancierte: „Es wird räudig im Duncker, denn die DARK POETRY SESSIONS laden zu Texten und Musik über Schnaps, Fesseln, Anstehen vor der Hölle, tote Katzen im Wind, Frühstück mit Nutten und noch mehr Schnaps ein. Dazu in Wort und Selbstversuch auf der Bühne: der Poetry Slammer Tilman Birr, der Lyriker Florian Günther und aus Leipzig The Russian Doctors, die ihre neue CD »The Best of the Halbgötters« präsentieren“. Bestens durchorganisiert ist der Sonntagabend von den „Lautmalern“, die mit ihren Veranstaltungsreihen Berlin bereichern, von Umweltzonen mit Hundekacke drin gewiss unbeeindruckt. Hendrik Lautmaler teilt Getränkemarken aus, sorgt für prächtigen Bühnensound, checkt denselben mit einer kindgerechten Spielkonsole und so ertönen die Lieder, trifft’s Publikum ein, taucht endlich der Wirt aus der Versenkung auf, begrüßen sich Herr Günther und Doktor Pichelstein mit: „Lange nicht gesehen.“ – „Lange nicht zusammen getrunken“. Und: „Ich verrate heute allen im Saal, dass du aus Münster bist…“ Dann fällt die Starterklappe und zwei Stunden füllen sich mit einer bunten Mixerei aus Songs (Doctors), Lyrik (Günther) und Kurzprosa (Birr). Im zweiten Block spielen die Herren Doktoren über die Zugaben hinaus, es reißen erste Gitarrensaiten und zwischen dem letzten Duncker-Getränk und dem ersten in einer Metalkneipe, die sich Tür an Tür mit der lautmalerischen Unterkunft befindet, vergehen wenige Augenblicke. Hendrik und Freundin laden ein, man sitzt so da und hofft, dies bald wieder tun zu können. Sei es in Berlin, sei es in Leipzig. Lautmalerisch entfacht die Nacht ihren Gandalf-Stab, während der von Saruman in jenem Hundehaufenrest feststeckt, den Doktor Pichelstein – kurz nach Verlassen des Autos – über die halbe Straße verteilte. Das erklärt einiges. 

29. Februar 2008, Jena / Café Wagner
Wildschwein Emma 

Beginnen wir mit der Rückfahrt aus 07743 Jena, schreiben bereits den 01. März des aktuellen Schaltjahres und gemahnen an Emma, der Winterstürmin. Der Audi hält sich kaum auf windgewürgten Straßen; die Bundessolche 7 Richtung Eisenberg wird zum Cocktailmix aus Regen, abgestürzten Baumästen und kleckerfahrenden Kombiautos. Kein Frosch traut sich heute aus dem Teich, nur ein Wildschwein rennt querbeet über die B 7 bei Hainspitz. Mittig am Tag, gefühlt direkt nach dem letzten Konzertblock - unter Herunterbetung obskurer, im finalen Kopfschmerz endender  Getränkewünsche. Gefühlt jedenfalls fängt der Tag gerade an und kein vorheriger Kaffee dreht die Zeiger der Uhr zurück. Das Ibis-Hotel ist lang verlassen, gefrühstückt wurde in Jenas Mitte und schon hätte man fast besagte Bache überfahren. Oder umgekehrt. Doch zurück zum eigentlichen Anlass der Reise.

Im Café Wagner erlebten die Herren Doktoren schon einiges, was der nahen Vergangenheit angehört. Vor zwei oder drei Jahren etwa zog eine 49jährige Eisenbergerin Doktor Pichelstein an zwei Brüste, die bereits einiges vom Leben gesehen hatten, und flehte: „Ihr müsst unbedingt auf meinem Fünfzigsten spielen, in meiner Eisenberger Garage!“ Was natürlich nicht geschah, nein, man kann nicht auf allen Festen, resp. in allen Garagen tanzen. Des Weiteren bleiben die Erinnerungen an das Technikpersonal unvergesslich. Im Jahr zuvor wurden die Doktoren mit einem Stapel Kartons begrüßt; eine frisch eingetroffene Ebay-Lieferung wartete darauf, vom Sachverständigen aufgerissen und installiert zu werden. Die Bedienungsanleitung war zwar schnell gefunden, Mischpult und Monitore gingen ans Netz, nur stellte sich im Verlauf des Konzertes heraus, dass Technik ein Abenteuer sein kann, vor allem dann, wenn man ihr ausgeliefert ist. Besser gesagt, wenn man auf der Bühne einem Techniker ausgeliefert ist, der ein ganzes Konzert lang auf seinem neusten Baby, der Ebay-Anschaffung, herumdaddelt. Mal krachten die Boxen, mal fielen sie ganz aus. Der Bühnensound wäre für den tauben Beethoven okay gewesen, indes schwankte er für die Doktoren bedrohlich, zwischen pianissimo und forte fortissimo, hin und her. 

Doch heute ist alles anders. Alles wunderbar und dem Wagner-Techniker des Jahres 2008 darf ein Orden verliehen werden. Die Doktoren danken’s mit einem rekordverdächtigen 11,5-Minuten-Soundcheck, lassen sich vor spinathaltigen Teigspeisen nieder und rauchen Luftkringel. Der Techniker weiß lustige Geschichten: „Neulich, als ich im Rosenkeller mischte, spielten Pöbel und Gesocks. Da kam eine völlig betrunkene Punkerin auf die Bühne und rief was von Alarm ins Mikro; Faschos wären draußen gesichtet worden, worauf die Band - den Punkern voran - auf den Marktplatz stürmte und alle verdrosch, die dort standen. Dann ging das Konzert weiter, als wäre nichts gewesen…“

Das Publikum macht’s Café mit sich voll; trotz Semesterferien, was folgendes Gerücht aus der Welt fegt: Studenten verbringen ihre Ferien gern zuhause, bei Mutti auf der Couch. Nein, wer in Jena studiert, bleibt auch dort; die Stadt ist schön, die Kammberge glänzen grün und der FC Carl Zeiss kommt ins DFB-Pokal-Endspiel, spielt fortan Uefa-Pokal, wenn auch aus Liga drei. Drei ist eine ebenso schöne Zahl, schön wie Jena; drei Weinkrüge stehen auf dem Tisch und die davor Positionierte weiß nicht, in welcher Reihenfolge das Trinkgelage zu stemmen ist. Doktoren warten bis das Intro endet; auf der Bühne, in Teehaus-Deko. Zwei Konzertblöcke, gesegnet durch thekenschwangere Pausenschnapszufuhr, was zur Folge hat, dass Doktor Makarios herzergreifend singt: „Jeder Schluck ist ein guter Schluck / Und ich lasse niemals zuruck / Einen Schluck in der Tasche / Lieber steck ich sie in meine Flasche (…)“ 

Bleiben die Zugaben, bleibt der Applaus, bleibt Zufriedenheit auf den Gesichtern und als alles getan ist, scheitert eine junge Studentin an Pratajevs Gelassenheit, diskutiert auf hohem Hörsaalniveau mit Professor Makarios folgenden Koffersatz: „Diese Texte sind doch so sinnentleert….“  Darauf eine Runde Skat und noch eine und selbst die Weinkrüge leeren sich, eben sinnentleert, wie von selbst. Aus den Boxen erschallt dazu philosophischer Krach, der mittels Klavierspiel einer vermutlichen Ex-Schülerin Berta Grieses (Lindenstraße) ins Bodenlose getoppt wird. Dann lockt die Feuchte der Nacht, mit Zimmer 322 im Ibis um die Ecke, Sterne an. 

01. März 2008, Wittenberg / Irish Harp Pub
Wenn es morgen wieder einmal luthern würde

Übers Land nach Wittenberg. Würde man Kutsche fahren, wäre das eine Tagesreise wert. Nun bockt kein Pferd, kein Rad, es weht die Emma und macht den Audi langsam. Schließlich möchte man nicht im Wald verenden, in der Dübener Heide Pratajev heranbeten; nein, der Wind hält heut nicht mehr den Atem an. Der zieht die Hänger von der Straße und nennt sich Emma. Durch Krötenschutzgebiete führt der Weg, vorbei an schwach beleuchteten Orten, in denen nur noch zwei Dinge fürs Tagwerk zu erledigen sind: Schnaps holen und schlafen. Doch Rettung vor der Einöde naht, sie heißt Wittenberg, ein wirtlich schöner Ort, auferstanden aus Ruinen, frischer Beton führt den Audi einladend hinein. Ein Marktplatz öffnet sich, die Fußgängerzone glänzt im Nass des Kopfsteins und keine unruhige Menschenseele ist zu sehen. Trotzdem gleiten die Doktoren langsam durchs Gespenstische; es geht das Gerücht um, in Wittenberg fänden ab und zu doch noch Hinrichtungen statt, Luther hätte nicht ganz gesiegt und die Thesen seien Thesen geblieben. Die Angst bleibt, direkt von den Eisenmännern der Stadtwache verhaftet zu werden, gleich nach Ankunft im Irish Harp Pub. Doch nein, alles Rittergeschmeiß ziehen vorbei und das verwandte Märchen von Hameln nimmt Gestalt an: Plötzlich tauchen Menschen aus der Schwärze der Nacht auf. Wie geharnischte Kinder folgen Busgruppen voller Rentner den Rattenfängern der Wache. In Reih und Glied staksen sie zum Lutherhaus, wohl wissend, dass am Ende des Kreuzweges die Reformation in Form von Heizdecken auf sie wartet. Oder eine blutleere Konferenz, eine religiöse Weiterbildung im dafür vorgesehenen Lutherhotel. Dafür kommt man gerne aus Bielefeld hierher.  




Wenn es morgen wieder einmal luthern würde, fände das Spektakulum gewiss auf dem Musiksender MTV statt. Und richtig: The Russian Doctors staunen nicht schlecht, als der gute Wirt des Irish Harp Pubs Flyer hervorkramt, auf denen prangt, dass MTV die Doktoren heute in Wittenberg präsentiert. Die Rückseite des Flyers machen Rus & The Velvets mit sich voll. Und schon stecken alle archaisch die Köpfe zusammen, Belegschaft des Pubs und Doktoren beim Kilkenny. Ja, oh ja, Rus & The Velvets, darüber gibt es immer viel zu erzählen. Makarios und Pichelstein geben ihr Open Air zu Großenhain aus dem Jahre 2004 zum Besten, als Sänger Kai-Uwe den „Rotarmisten“, gemeinsam mit Makarios, singen wollte, was bis Ende des Soundchecks noch gut durchdacht war. Dann allerdings brachte KuK ein Schnapsopfer und ward nur noch liegend gesehen. Der Wirt kontert mit einem Pfarrer im Nachbarhaus jener Pension, in der Rus & The Velvets vor einiger Zeit  untergebracht waren; der Geistliche klingelte nächtens bei ihm und schlotterte lediglich folgende Worte heraus: „Wirt, ich hab Angst und weiß nicht, was nebenan geschieht“. Am 22. März dieses Jahres, angekündigt mit „neuer Erotikshow“, wieder im Lande: Rus & The Velvets, das dürfen Sie nicht verpassen. Werden erneut Hotelzimmer brennen? Besteht das Set lediglich aus zwei Wanderklampfen und drei Flaschen Sierra Tequila? Die Bühne wird es wissend richten und die Bühne steht, als gegen 22:15 der erste Konzertabschnitt so was von dermaßen gelingt, dass die Doktoren stante pede zum Hochprozentigen greifen müssen. Und alle im Pub, der aus irischen Nähten platzt, tun es ihnen gleich.

Vom Tresenwesen zurück an die Mikroständer – dem zweiten Intro folgen Heimat- und Tierlieder; Polytoxe und Polygame schunkeln sich in Stimmung. Jeder zweite im Publikum scheint einen Fotoapparat bei sich zu haben, Willis Kamera dreht die DVD zum Fanal und als Stunden später die Gitarren schweigen, bereits das Lied der Kassierer erklingt, da gibt es einen weiteren Zugabewunsch. Er lautet: Gefesselt. „Könnt Ihr das noch einmal spielen? Das ist unser absolutes Lieblingslied“, fragen zwei Mädchen von ganz vorn. Doktor Makarios lässt sich nicht lang bitten und erwidert: „Na, Wittenberg hat’s aber gut…“ und legt mit ruinöser Stimme los.

Dann werden Hände geschüttelt, fließen die Streams of Whisky und münden schließlich in der Unterkunft über den Bierstuben zu Wittenberg. Luther kam früher oft hierher, trank sein Glas, nahm die Frau neben sich mit in besagte Pension und durfte sich morgens die Eier selbst kochen. Daran gedenkend tun es ihm die Doktoren gleich und huldigen noch einmal den Irish Harp Pub, Wittenberg sei Dank.

07. März 2008, Zerbst / K6
Im Feierabendheim, im Land der Frühaufsteher 

Die Zerbster Kastanienallee 6 lockt den Tourbus unermüdlich an; Shiva steuert ihn, drinnen steigt Rauch aus den Fenstern. Dessau ließ man links liegen, bevor es den Rechten überlassen wird. Die Gegend ist ein Politikum; morgen wird demonstriert, die Parolen lauten u.a. „Geschichtsrevisionismus bekämpfen“. Ein langer Wortschatz, zu lang, um ihn gemeinsam skandieren zu können. Warum nicht einfach: Nazis raus? Damit ist doch alles gesagt. Aber wohin dann mit den Nazis? Man weiß es nicht genau. Vielleicht ins Zerbster Feierabendheim? Nein, das geht ganz und gar nicht. Hier wohnen nette, alte Leute und um sie herum zu frühstücken, ist den Russian Doctors erst am Folgetag ein Pläsier. Dann, wenn DIE KÄLTE und die Doktoren ungeduscht, augenrollend vor Leckereien jenen Abend preisen, von dem jetzt die Rede sein soll. Vorab allerdings ein Dank an die Heimleiterin des Feierabendheimes, ebenso für die pensionierte Unterkunft und das stille Wasser im Flur.

Beim Ausladen baumeln sie den Doktoren um die Nasen: Zwei tote, mumifizierte Katzen im Hallenwind. Eine strangulierte man, eine stellte man aus. Hoch an der Bühnenhinterwand baumelt der Leninwimpel der Doktoren (nach dem Konzert als Leihgabe bis zum nächsten hinterlassen), darunter papierne Plakatkatzen. Aus dem Staunen kommt man erst wieder heraus, als der rasche Soundcheck mit einem Bier an der Bar betrunken, resp. begossen wird.

Und schon verteilen sich die Tagesmitgliedskarten des „Köllingsche Fabrik e.V.“ wie von selbst; so darf geraucht werden und nicht nur dafür ist man gerne Mitglied, schlägt Bar-Wurzeln der Zerbster Trinkbewunderung; wird von einer Lokalpresselady interviewt und genießt hernach die Backstage-Aufläufe. Die Kälte spielen sitzend ihren Leipziger Melancholus, schwer wiegen schwarze Locken und die Stimmen sind rot. Punks gehen in sich, Rastas weinen Schweißtropfen, Zugaben fegen über alle Köpfe hinweg. Die Barfrauen verteilen grüne Schnäpse, so grün wie ein Pfefferminz im Wind. Es paust im Saal, der Mischer taucht auf und ab, spielt’s Intro und siegt auf der ganzen Linie. Doktoren blinzeln sich an, Stück für Stück wird gespielt, keine einzige Ballade bis zum Schluss ist dabei. Im Rausch der Speedgitarre nimmt Zerbst Fahrt auf, Mädchen liegen Makarios trunken zu Füßen, wollen dem Singedoktor vom Pfefferschnaps geben, Pichelstein wird beim Spielen ein Kehlkopftrunk nach dem anderen eingeflößt. Als schließlich doch „Der Arme“ ertönt, weiß man auch dazu kräftig zu tanzen; drei Zugabeblöcke folgen mit Biber-PS. „Unglaublich“, mein Doktor, sagt der eine Doktor zum anderen, der nur noch „Gibt’s nicht“ hecheln kann, während sich Bäuche entblößen, auf denen mit Edding unterschrieben werden muss. Während Pichelsteins’ Pleks unter die Gitarrenspielerinnen gehen, während kleine, betrunkene Grüppchen sich vorm Club über Pratajev Gedanken machen, während die Hoheit am Merchstand zu bewundern ist, während man daran denkt, hier unbedingt wieder spielen zu müssen. Im K6 zu Zerbst fängt das Leben an, jeder Tag danach ist Strafe. Nur mit mildernden Umständen darf das Nachtlager erst gegen Mittag verlassen werden.      
















14. März 2008, Chemnitz / Subway to Peter
Roter Schnaps macht schnell und Breschnew-Bier heißt anders

Aus dem Radiokrieg, Sender für Sender: das immer selbe Gesafte, da müssen schöne Klänge her. Im Tourauto kommen sie noch vom Band. Doktoren schwelgen bei den Fliehenden Stürmen, bei Chaos Z, bei EA 80, bei Angeschissen, den Fehlfarben und Abwärts durch die B-95-Nacht, deren randständige Kreuzansiedlungen Prodomo sprechen:

Was soll ein gesundes, anständiges Appartementleben? Was bringen vegetarische Ernährungsverwirrungen, Riester-Renten, Nichtrauchergesetze? Wem nützt ein Leben als Fitnessstudio-Rüsselhund, wenn einem mit 180 km/h ein falschspuriger Derwischfahrer durch den Stauraum fährt? Nichts. Ein ums andere Mal bremst Doktor Pichelstein lebensmutig; Bifi-Salamis und Gitarrenkoffer verlangen schwerelose Zustände - alles purzelt nur so durcheinander. Doch schließlich will Chemnitz erreicht werden und keinem erleuchteten Doktor (Danke an den Tankstellenservice nähe Espenhain) gelüstet es auch nur annähernd, vielleicht bei Frohburg, bestattet zu werden. Auch möchte man nicht zwischen die aktuell heißen Fronten des so genannten Leipziger „Türsteherkrieges“ geraten. Ein – von der UNO bisher unbeachteter - Zeitungskrieg, der am letzten Wochenende sein erstes Opfer forderte. Obwohl es sich, in diesem Fall, eigentlich um ein erstes Opfer des Nichtraucherschutzgesetzes handelt: Der scharf durchschossene, russischstämmige Massimolide stand doch tatsächlich vor einer Disko und rauchte. Weil man es drinnen nicht mehr durfte.

Im Subway to Peter darf man’s eigentlich mittlerweile auch nicht. Nur gehört das gepflegte Kippenziehen zur Live-Vorstellung der Doktoren, wie das Amen in der Kirche, dazu. Gesetzeslückig weitergedacht könnte Doktor Makarios ebenso das Publikum zur Show erklären. Vom Livestandpunkt aus betrachtet – eh eine schöne Sache. Im Subway gemahnen besonders die Tourbuchenträge der letzten Jahre daran…
















Tags zuvor spielten die Doktoren ein erstes, öffentliches Samtmarie-Goldeck-Set,  inmitten von Hochkulturaspiranten. Oder sollte man sagen: Inmitten von Hochkultur-Aspirin? Die Sonderschule für Telekommunikation passt ins Bild der gerade stattfindenden Buchmesserei: Das Volk turnt von Lesung zu Lesung und ist froh, wenn man es dafür bestraft. Womit, darauf sollen andere eingehen. Vielleicht der Handballbundestrainer Heiner Brandt, der während seiner Biographie-Vorstellung damit angibt, nicht mal ein Spiegelei braten zu können. Weil er den heimischen Herd nicht bedienen kann. Solche und andere Nullinformationen, was verlangt man mehr?   
















Es gibt Schnaps im Subway. Viel Schnaps. Mal ist er kalt, mal ist er warm, schmeckt nach Wodka, Anis, Pfefferminz, oftmals wird er ganz im scharfen Rot serviert. Beide Doktoren verziehen die Gesichter zum Mummenschanz. Immer wieder wird er auf die Eckenbühne gereicht, doch es nützt nichts. Doktor Pichelstein spielt sich einen gefährlichen Rausch an, überholt sich selbst; Makarios zieht nach, das Publikum ist begeistert, beschwipst. Die Krone der Trunkenheit bekommt indes eine Phil-Shönfelt-Fanin aufgeschopft. Eben, als „Mich wundert gar nichts mehr“ erklingt, zerscheppert ihr volles Glas auf dem tiefsten Subwaygrund. Schwankend kehrt das Blech zu Füßen der Doktoren, DIE ART-Songs erklingen, dann muss es genug sein mit der Pratajev-Völlerei; es geht zum Xtenmal an die Schnapsbar. Endlich - kaum noch aussprechbar ist die tschechische Biermarke der heutigen Flüssigkeitsersatzzufuhr: „Ein Breschnew bitte“. Doktor Pichelstein nimmt es dankbar entgegen; zur selben Zeit wechselt die 10. CD seinen Besitzer, Eddingstifte kreisen über Plakate, auf Büchern und Booklets. So muss es sein und kein Türsteher traut sich herein.

Ein ganz spezieller Dank geht an die Pensionswirtin „Zum Hinterhaus“. Doktoren waren gerne da und haben sich hoffentlich gut benommen.        


















17.April 2008, Leipzig / Flowerpower:
Die vorgeschaltete Nacht

Im Leipziger Flowerpower zu spielen, gilt seit jeher als immerwährender Freudenbrunnen. Tief wird ins Glas geschaut, das Publikum verteilt sich zum edlen Bühnenteppich und der Sound stimmt. Im Rauchereckchen Flowerpower ist alles göttlich entspannt, vom Aufbau bis zum Rückladen der Backline ins Tourauto. Wäre nur nicht die vorgeschaltete Nacht gewesen, in der beide Doktoren, getreu Pratajevs „Tagebüchern eines Karussellführers“, den Einzeiler „Ich war besoffen“ rezitierten, respektive ins Präsens verlegten. Wahrlich, es gab Gründe, sich am heilkräuterigen Becherovka festzusaugen: Die Pichelsteinsche Beinahe-Komplett-Vertonung von Pratajevs Werk „Lila Nina“ etwa (mit dem neuen Hit „Bebende Brust“, im Flower erstmals live vorgetragen) – oder Makarios’ frisch beschwingende Demo-Die-Art-CD. Neue Songs muss man feiern, wie sie fallen, dauert es noch so folgenschwer lange. Und so trägt jeder Doktor heute sein Päckchen, seine alkoholische Nachhut mit Fasson. In der ersten Publikumsreihe wird bereits gemein gerätselt: Wer fällt da oben wohl zuerst um? Einige versammelte Ehrenmitglieder der Pratajev-Gesellschaft, vor allem weiblichen Ursprungs, tippen ganz stark auf Doktor Pichelstein. 

Nun, niemand fällt. Motto: Haltung zeigen gegen schweres Wetter. Das Intro läuft, die Songs prasseln, wie vom Katapult geschossen, selbst auf Hartleibige nieder. Durch den Eingangsvorhang entzücken sich neue Gesichter, der Schnapsverzehr steigt auf der nach oben offenen Richterskala. Doktor Makarios breitet die Arme aus, als wolle er ganz Sibirien segnen – Pratajev wird zum abendfüllenden Thema und in der Pause reichen zwei kleine, randvolle Wodkabecher, um die Zustände der vorgeschalteten Nacht wieder herzustellen. Die Brust bebt, der Abend gelingt, die schöne Welt spielt den Frühling an die Wand. Draußen geht der Normalvollzug weiter, doch niemanden zieht es hin. Dann doch lieber an die Schnapsbar, auch wenn sie nicht für ewig ist.

18.04.2008 – IX. Pratajev-Kongress, Großenhain/Alte Orangerie
Haben Frauen, die Lehrer heiraten, Himbeeren im Kopf? (169)

Nein, Katzenberg, diesmal nicht! Das Tourauto fährt Schritttempo an jenem Blitzer vorbei, welcher noch im Februar für großen, puffroten Unmut sorgte. Die 15 Euro Strafe sind indes längst an den zuständigen Landkreis überwiesen. Und sollten möglichst in eine Babyklappe investiert werden; wie man im aktuellen Jahr weiß, neigen doch allzu viele Post-Gebärende dazu, ihren wehrlosen Nachwuchs in die Nähe von Glascontainern oder Bundesstraßen abzulegen. Wobei grundsätzlich festgehalten werden muss, dass sich dazu weder Blumentopf noch Kühltruhe eignen. In Russland wird die Geburt eines Kindes allenfalls noch gefeiert. Es gibt Schnaps, schwere Reden werden gehalten, der Trovlower Kohlengrill schmaucht über’m Grillfleisch, die Kapelle spielt auf – kurzum: es herrschen feine Bedingungen, wie auf einem Pratajev-Kongress. Genau dahin zieht es die Russischen Doktoren, unter Bandsalat im Tapedeck und Senfflecken auf den Autositzen, kein Freitag wie jeder andere. Großenhain ist das erklärte Ziel.




















Die erste Impfung, von vielen im Leben, erfährt der neue Erdenbürger an einem Rummel vor seiner Haustür. Schon früh zieht es ihn hin, genau wissend, warum. Es pelzt die Zuckerwatte, Nieten verteilt die Losbude und hat man doch mal gewonnen, gibt’s meterhohe, grinsende Hässlichkeiten in Schrillbunt. Ein Rummel ist, philosophisch betrachtet, das Abziehbild des Lebens und bietet viel Raum für Intoleranz. Made in Großenhain. Großenhain, hörst du mich? Großenhain antwortet nicht. Das gemütliche Städtchen übertreibt es heute und prügelt seine ansonsten eher gemütlichen Bewohner mit Rummelgedröhn aus dem Haus. Eigentlich nicht das Schlimmste, doch platzierte man Kotzmühle, Holzkarussell, Pilzpfannenbude direkt vor die Alte Orangerie, dem wohl ausgesuchten Ort des heute stattfindenden IX. Pratajev-Kongresses.

„Ich brauch’ sechsmal Sex am Tag“, wummert es aus den Autoscooter-Boxen und ein stiernackiger Fettlappen giftet durchs Mikrophon: „Wer hat noch nicht, wer will noch mal“. Den davor versammelten 5 mittelalten Mannen, eckangereist mit gefüllten Kinderwagen und Sternburger Export in der Hand, gefällt’s. Ehrenmitglied Biberowitsch fasst sich an den Kopf: „Die kenn’ ich alle….“ Und zu den Doktoren: „Gestern war hier noch alles friedlich, meine Güte!“. Gemischt gefühlt wird der Sound gecheckt, der Harte Wirt Micha kümmert sich liebevoll ums Fleischliche (auf dem Grill), die Klosterfrau trägt ihr laszives Mantra vor: „Heute trink’ ich nichts“. Dem Vorbereitungskomitee des Kongresses gilt großer Dank, über diesen einen Abend hinaus und dass am nächsten Morgen Doktor Pichelstein nicht, wie versprochen, zum großen Staubsaugen antrat, möge in großer Verzeihung geschrieben werden. Aber nun, schottischer Whiskey in einem Pensionszimmer, das in aller Früh: Bedenklich für jeden Weckservice. 





















Draußen, im grünumfluteten Hof, lustwandelt derweil Doktor Makarios, ein Plauener Spitzendeckchen auf dem Bauch. Schön ist’s am Brunnen vor dem Tore, findet auch Dr. Pichelstein und pullert hinein, wäscht sich die Hände, um damit illustre Gäste der Pratajev-Gemeinde zu begrüßen. Der Fanclub Karl-Marx-Stadt ist beinahe vollzählig vertreten, Berliner (die am nächsten Tag, recht trunken, in einem Neigetechnik-Zug den verschaaften Weg zurück fahren müssen), Großenhainer, Dresdner – der Eintritt überknappt die Unkosten. Das beruhigt den Schatzmeister der Pratajev-Gesellschaft, Igor Kommerzoff, ungemein.

Alles Diakonie. Der Ort gehört dem evangelischen Zweckbündnis aus Lutheranern und solchen, die hier am Altennachmittag mit Pamperswechslung bespaßt werden. Zum Beispiel vom Rednerpult aus betrachtet; das weiß-blaue Signet der Diakonie dürfte eigentlich gar nicht übertüncht werden. Makarios beginnt den Kongress mit einer Subtilbegrüßung wachen, mutigen Timbres, erklärt den geplanten Abend, gemahnt an Pratajev als Holzkarussellführer. Zwischendurch – und weit danach - erklingen die Russian Doctors; Pichelstein erzählt aus Fälschung und Forschung. Nachzulesen im Haus aus Stein II, dem jährlichen Almanach der Gesellschaft, sind auch die in der Pause gefragten Bedenken, ob Frauen, die Lehrer heiraten, tatsächlich Himbeeren im Kopf haben. Vermutlich gar säckeweise. Wichtiger noch: Diskussionen, um die Frage, ob Pratajev von Großenhain direkt in die Slowakei ging oder noch einen Abstecher gen Karl-Marx-Stadt machte, was die hiesige Pratajev-Gemeinde vor Ort in nächster Zeit erforschen möchte. Um beim nächsten Kongress den - diesmal von Ehrenmitglied Biberowitsch eingeheimsten - Forschungspokal „Der Wanderer“ mit nach Hause zu nehmen. „Der Pokal bleibt in meinem IKEA-Regal“, hört man darob den ganzen Abend Biberowitsch rufen. Nun, wir werden sehen. Vermutlich wird ein neuer Pokal erworben werden müssen.

Die dazugehörige Flasche Suhler Kräuterschnaps teilt sich indes wie von selbst. Allen Mantras zum Trotz. Wofür verlieh das Podium den Preis? Für den Diafilm „Pratajev in Großenhain“. Danke dafür; nun sind allerletzte Zweifel darüber ausgeräumt, ob der große russische Dichter tatsächlich einmal hier gelebt hat, obwohl er nicht im Nachkriegstelefonbuch stand. Mit jedem guten Schluck werden die Stunden zu gefühlten Minuten, Sekunden, die keine sind, sondern viel mehr. Und so klingt er aus, der IX. Pratajev-Kongress…  





















19.04.2008, Berlin/Schokoladen
Die allererste Russian-Doctors-Pantomime-Show

Mit ruinierten Kräften ein kurzer Zwischenstopp in Leipzig, der Tonträger- und Büchervorrat muss neu befüllt werden. Ebenso verlangt die müde Seele Ruhe vorm Berliner Sturm und wenige Augenblicke später dampft die Tankstellen-Bockwurst gnädig vor sich hin. Über alles im Leben kommt man hinweg, vor allem über leere Autobahnen. Keine Baumstümpfe fallen von den Brücken, Buntmetalldiebe behalten ihre Gullidecke lieber und Doktoren freuen sich auf die Hauptstadt. Zeitgleich beginnt das DFB-Pokalendspiel. Man weiß, dass das elende Bayern München siegen wird, also hört mal lieber weg. Und rastet. Und fährt hinein in die Metropole. Diesmal sogar mit einer schicken Umweltplakette. Denn 40 Euro Buße plus Flensburg-Punkt wollen heute nicht verdient werden. Dafür ein Parkplatz vorm Schokoladen, in Mitte. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, möchten die Navis rufen, erst recht die wunderbaren, doch für Berlin gilt das lange nicht. So fährt Doktor Pichelstein langsam hin und her, eine kleine Beule am Kopf mit wachen Augen drauf. Verlierer, Marodeure und Studenten im Genick. Ein grandioses, langes Konzert mit allem Drum und Dran im Vorwärtsgang.

Der Koch spricht englisch und kochen kann er gut. Es schmeckt vorzüglich und die Thekenzunft verteilt erste Rationen Quartettkarten. Jede Karte lässt sich in Schnaps und Restalkohol einlösen, was sich im Verlauf des Abends als gar nicht schwierig erweisen soll. Bedenken, dass vorher mit den Karten, wohlmöglich gar gegeneinander, gespielt werden muss, stellen sich als unbegründet heraus. Die Bühne steht, der Mischer liebt seinen Job und verteilt Scheinwerfer, was immer sehr von Vorteil ist. Vor allem, wenn ein rotes Licht ins Publikum tausendschön strahlt.

Myspace-Freunde dringen vor ins Schokoladen, andere adden die Doktoren noch in derselben Nacht an. Wiederum andere kennen sich seit Jahr und Tag mit Makarios und Pichelstein aus und wissen zu genau: Vorher rasch zur Schnapsbar; Promille liegt in der Luft, die elektrisch beraucht werden darf. Das Intro feuert aus den Boxen, Vertreter des hohen Nordens schwingen die Hüften, wiegen den Rumpf. Und irgendwann beginnt die allererste Russian-Doctors-Pantomime-Show, direkt vor der Bühne. Danke, das war wirklich toll… Aus den Amüsiertränen der Gästinnen hinterer Reihen wischte sich die Putzfrau noch am nächsten Tag einen schönen See zurecht.

Weit über zwei Stunden später ist’s vollbrach; die Pension „Wolke Kuckucksnest“ wird über historische, Köpenicker Umwege erreicht. Man streifte gar das DT-64-Gelände, holperte durch Schrebergärten und über Trampelpfade. Mit einem stillen Lächeln im Gesicht, denn zufriedener geht es nicht.   

23.04.2008, Halle/Flowerpower
Wie ernährt man sich ohne Unterkiefer? (152)

Die Überschrift dieses Berichtes soll eigentlich folgende Frage implizieren: Wie spielt man ein Konzert ohne Anlage zur Beschallung des Publikums, kurz PA genannt? Nun, bestenfalls gar nicht. Russische Doktoren sind nämlich bei weitem weder bärtige O’Nash-Bänkelsänger („How many roads must a man walk down, before you can call him a man usw…“) noch herumstromernde Pfadfinder mit Wandergitarrenabusus. Russische Doktoren sind in erster Linie laut, herzergreifend und schnell. Müssen sie auch sein; live gibt’s die pichelsteinsche Speedgitarre unterm Makarios-Gesang nur als pratajevsches Donnerwetter, wenn Boxen vorgeschaltet sind. Aber, Flowerpower-Halle, du kannst nichts dafür. Doktoren lasen den Vertrag zu wenig, dort stand drin: „Bands bringen Verstärkung mit“. In Sachsen-Anhalt macht man das in der Regel. Und so fahren sie dort wohl scheppernd durch die Gegend, jene Combos und Bands: Schwer beladen, mit Boxen und Mischpulten, von Ort zu Keller, um veritabeln Lärm produzieren zu dürfen.    

Im ehemaligen Kino „Urania 70“ am Hallenser Moritzburgring residiert das Flowerpower. Nach langem Leerstand hauchten streng(e) Verantwortliche staubig-zärtlich Licht und Leben hinein; der Umbau ist noch nicht ganz abgeschlossen und wieder blickt man – als Leipziger – sehr neidisch auf eine Lokalität dieses Ausmaßes. Damit zu kontern: Na ja, uns tunneln sie gerade mit einer U-Bahn, führt zu gar nichts. Die hiesigen Stadtoberen sollte man dafür einfach nur in einen Sack stecken und verhauen. Man träfe immer den Richtigen. Aber zurück zur Unterkieferaffäre: Die Suche nach einer PA beginnt fieberhaft. Da ja – wie bereits beschrieben – sämtliche Combos und Bands des Landes gerade unterwegs sein müssen, kein leichtes Unterfangen. Bei einem miesepetrigen Anton-aus-Tirol-DJ wird’s Thekenpersonal fündig. Und so steht alsbald Gerät bereit, was mit Hilfe eines meisterlichen A&V-Spezialisten (…klebt unpassende Kabelagen einfach an den jeweiligen Polen mit Gaffaband zusammen. O-Ton: So haben wir das in der DDR immer gemacht…) schlussendlich zum finalen Soundcheck führt. 

Der Hallenser Fanclub bildet die Konzert-Hauptkulisse. Frau Kissen und Frau Trinks (genannt Beks) sollen darob besonders gehuldigt werden. Wurde je erwähnt, dass beide über zwei Meerschweinchen verfügen, die auf Namen wie „Makarios“ und „Pichelschwein“ hören? Tragisch an dieser Stelle: Makarios hat neulich Pichelschwein geschwängert; man weiß nun nicht so genau, wie der Nachwuchs benamst werden soll. Doktoren wünschen sich jedenfalls einen kleinen Pratajev und dazu einen Prumski. Diesmal sollte allerdings vielleicht vorher nachgeschaut werden, ob das mit den schweinischen Erlebnisorganen auch passt.

Bemerkenswerte Feststellung zum Ende des Abends: Das Hallenser Flowerpower hat es als einzige Lokalität weit und breit geschafft, den Bedürfnissen von WC-benutzenden Frauen gerecht zu werden. Hinlänglich bekannt dürfte folgende Tatsache sein: Am liebsten gehen Frauen gemeinsam ZUM Klo. Flowerpower-Userinnen können darüber nur lachen. Sie gehen nicht nur gemeinsam ZUM Klo, sondern auch gemeinsam INS Klo. Auf zwei Keramiken nebeneinander, in derselben Kabine, lässt es sich eben viel besser …reden. Doktor Makarios und Doktor Pichelstein erheben dazu – an der vermutlich längsten und flaschenbefülltesten Bar des Frühaufsteherlandes – das schwarzbraun befüllte Glas und klirren mit dicken Eiswürfeln drin. Während dort, wo eben noch konzertiert wurde, zwei ex-juvenile Mittwochnachtmädchen um die Wette vor sich hin strunzen. Denn, mit Verlaub, tanzen kann man das nicht nennen.     

24. April 2008, Elbeday-Festwoche, Brückenkopf / Torgau
Einskommafünf Tage vor der Notaufnahme (153)

Zum dritten Mal im beschaulichen Torgau; Doktoren tasten sich auf dem Landweg hin. Schön ist’s allemale – der Raps blüht spät in diesem Jahr, dafür maien die Glocken und muhen die Kühe. Doktor Pichelstein verfährt sich gar durch Eilenburg und erneut muss konsterniert festgestellt werden: Diese Stadt hätte einfach mit der Jahrhunderflut 2002 weggespült werden müssen. Dafür ist Torgau eine Reise wert, besonders der Brückenkopf, als Kleinod der Kultur, so wie sie sein soll.

Bereits am Auto ist die Wiedersehensfreude groß; Sozialarbeiter Jörg nimmt Doktor Pichelstein in freundlichen Beschlag. Waren die zwei doch vor ein paar Jahren noch Arbeitskollegen. Was bestimmt keiner weiß: Vor einiger Zeit jobbte der Gitarrenmeister in der örtlichen Straffälligenhilfe, besuchte Jugendgefängnisse und organisierte Trainingskurse für jugendliche Hühnerdiebe und Messerstecher. Kein leichtes Unterfangen, wenn man die Gegend etwas näher studiert hat. Ein Beispiel: Jugendlicher A raubte den China-Imbiss auf dem Torgauer Markplatz nachts aus. Beute: Zwei Paletten Bierdosen. Bis in die Mittagsstunden hielt der Vorrat an, resp. fielen die leeren Bierdosen – aus dem offenen Fenster einer Wohnung – auf den Markplatz, denn Jugendlicher A wohnte direkt neben dem China-Imbisswagen. Der Besitzer des Wagens erkannte seine verlustigen Bierdosen wieder, telefonierte die Polizei herbei und tja, dann rief man Doktor Pichelstein auf den Plan…

Besonders voll ist es heute nicht; einem Donnerstag folgt immer ein schulpflichtiger Freitag und viele Doktorenfans der Gegend müssen da hin, zur Schule. Macht aber nichts; nach dem Soundcheck folgt der Koch mit seinen Gaben, lecker schmeckt’s und schwer, dann kreist der Pratajev-Abend seine Runden. Ein paar Doktoren-Stücke, Makarios liest Pratajev, noch mehr Stücke, ein bisschen Pause und ganz viel Konzert. So könnte man es kurz zusammenfassen. Am Ende läuft der allererste Pratajev-Film und alles in allem ist man dankbar für den schönen Abend und fällt genüsslich in die Pensionsbetten. Einskommafünf Tage später liegt Doktor Pichelstein in der Notaufnahme der Uniklinik Leipzig, doch das hat andere Gründe und gehört gar nicht hierher. Jedenfalls: Es geht ihm bereits wieder besser und das Leben samtet stets sehnsuchtsvoll weiter. Meistens.
  
05. Juni 2008, Festival der Zweimannbands, Leipzig / Schaubühne Lindenfels
Von Haftpflichtversicherungen und einem Anti-Schwitz-Hemd (154)

Der Satz des Abends lautet: „Jedes Backstage sollte eine Praxis sein“. Wer immer diese russische Doktorenweisheit auch von sich gibt, Makarios und Pichelstein stimmen zu, prosten durchs pittoreske Hinterbühnenzimmer der Leipziger Schaubühne Lindenfels und kühlen trockene Kehlen. André Kudernatsch lädt zur Show „ohne Kautsch“. Die Besetzungsliste liest sich, laut Homepage, so: „Dabei beim Festival der Zweimannbands: Die bekannte Band „Zärtlichkeiten mit Freunden“, „The World Domination“ (GlamRock), „Die Pest“ (Goth’n’Krach) und die „Russian Doctors“ (Makarios goes Pratajev). Zwischendrin erfreut uns VJ Inskopia mit buntem Gelumpe!“

Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass letztgenannte VJ nicht nur jenes „Gelumpe“ auf die Leinwand beamt, nein, sie selbst glitzert wie ein klarer Sternenhimmel (auf dem ein Schmetterling, in Ohrhöhe links, gelandet ist) und trägt textmarkerfarbene Neongelbsandalen aus Koppenhagen. Was die Leipziger Volkszeitung zwei Tage später noch alles über den Abend schrieb, soll hier aber (rücksichtshalber) verschwiegen werden. Vielleicht noch eine Anekdote über späte Flatterball-Glam-Rock-Sünden der Nacht: Scheinwerfer auf Leinwand geworfen, Leinwand am Boden. Bange Praxisfrage am Ende: „Hat hier jemand eine Haftpflichtversicherung?“ Tja, das sind die Nullerjahre. Man stelle sich das ganze Drama aus anderer Perspektive vor: Die Band THE WHO kommt nach einem 70-Jahre-Konzert ins Backstage und jemand fragt nach einer Haftpflichtversicherung. Nur mal angenommen - wie hätten Keith Moon und  Pete Townshend wohl reagiert?

Doch egal. Das Festival der Zwei-Mann-Bands funktioniert im Grunde prächtig. 120 bestuhlte Gäste liegen – von der Bühne aus betrachtet – im Streubereich des Erkenntlichen. Russische Doktoren spielen zu Beginn eine halbe Stunde; der Tonmischer vernachlässigt jede tonale Übersteuerung und so platscht der Sound im leichten Langerfeuerflair auf unklar weit entfernte Reihen nieder. Ein strengweißes, lichtkegeliges Deckenlagerfeuer, vor dem man sich dennoch in der Zugabe höflich bückt; dann wird der Staffelstab weitergegeben an die gottergebene, vollends vermummte, wunderbar röhrend aufspielende, durchlauferhitzte Emopunkmetalkapelle „Die Pest“.

Doktoren trocknen jeden Schweißtropfen einzeln ab. Erneut muss Flüssigkeit ergänzt werden - während Herr Kudernatsch bereits im Ant-Schwitz-Hemd badet. Danke für diesen schönen Abend auf dem „Festival der Freaks“. 

13. Juni 2008, Hochzeitsnacht in Dresden, Gare de la Lune
Ein durchaus spektakuläres Wochenende, Teil I: An der Brautbar steht das Brautpaar (155)

Nach Ankunft am Dresdener Mondbahnhof stellt sich erst einmal die Frage: Wo ist das Brautpaar? Beruhigende Feststellung beim Blick in den Festsaal: es wächst und gedeiht im Kreis der Liebsten. Es gibt einige  Dinge, die Hochzeiten so besonders machen. Alle sind hübsch gekleidet (allen voran: die Braut), viel gibt’s zu essen und zu trinken, man begrüßt sich, schwatzt herum und hofft, dass vielleicht etwas Außergewöhnliches passiert. Nun, für diesen Part lud man vermutlich im Vorfeld – dankenswerterweise – die Russischen Doktoren ein. Gerne sind sie heute hier, technisch unterstützt durchs befreundete Gare de la Lune-Personal. Abgelenkt von packenden EM-Vorrundenspielen wird indes zunächst einmal die Herfahrt getränklich, im Public-Viewing-Zelt um die Ecke, verdaut. Ehe Rumänien den Elfmeter, kurz vor Schluss, gegen Italien verschießt, geht gar nichts. Schließlich wurde die sächsische Landeshauptstadt (Aktuelles, plakatkommunales Wohlkampfmotto der FDP: Dresden zuerst! – Warum nicht gleich: „Dresden über alles“, werte Waldschlösschen-Freidemokraten?) in Rekordzeit von weit über drei Stunden erreicht. Und das kam so:

Hinter Leipzigs A14 tauchte von weit weg her eine rabenschwarze Tiefdruckwolke auf, sah den Tourbus und hängte sich dran. Doktor Pichelstein trieb die möglichen 120 KM/h unermüdlich auf der Tachonadel himmelwärts, hing die Wolke ab, doch dann stand der Verkehr auf der A4 stiller als Mineralwasser und genauso plätscherte gurgelnd das Wolkending ans Stauende heran. Weiter vorn lagen sich blecherne Autos in den Armen, Abschleppdienste verorteten sich hin. Doktor Makarios entdeckte eine verbotene Baustellenausfahrt, hurtig, die Scheibenwischer auf Maximum, konnte der hartleibige Weg fortgesetzt werden. Über Dörfer und durch Gegenden, die lautstark einen Radiosender fordern, der dauernd neudeutsche Schlager spielt. Heil ist die Welt, fährt man an Plakaten vorbei, auf denen Ritterspiele, Schießwettbewerbe und – wie sollte es anders sein - die Puhdys angekündigt werden. Förster verkaufen Hochstände und auf den Feldern wachsen Erdbeeren zum Selbstpflücken.


Das vierte, schöne Tor der Holländer gegen Frankreich, ein galant geführter Gothic-Walzer fürs Brautpaar, blaue Fäden im Verpackungstanz, die Bühne steht und der „Rotarmist“ erschallt. Doktoren auf der Bühne, den samtenen Vorhang im Nacken, knapp zwei Stunden Songs im Gepäck. Frisch prasselt’s aus allen Boxen. Und während der Erlebnispark Gare de la Lune, unter dem Applaus der Gästeschar, zur Hochzeitsnacht anschwillt, Doktor Pichelstein die Gitarre wechseln muss, trinkt sich eine Bühnenflasche französischer Wodka wie von selbst. Denn, wie heißt es noch so schön: „Jeder Schluck ist ein guter Schluck.“ In guten, wie in noch besseren Zeiten.

An der Brautbar steht das Brautpaar, schwebt durch die Luft. „Vielleicht liegt’s am Schnaps“, mag sich eine schwarze, junge Gästin denken, die darob draußen – beseelt von dieser Nacht -  in einer steinernen, finsteren Ecke mützenweise Schlaf sucht. Doktoren laufen dran vorbei, den Berg hoch zur Pension Helga. Aus der Nähe hört man Pichelstein singend jammern: „Watzmann, Watzmann, Schicksalsberg, du bist so groß und I nur a Zwerg“.

14. Juni 2008, Afghanischer Muttertag, Privatparty Wittenberg
Ein durchaus spektakuläres Wochenende, Teil II:  Der Plastebauch (156)

Ganz besonders große Anlässe fordern ihn stets heraus, den Tag danach. Von den Amerikanern „The day after“ gescholten. Was indes die Afghanen dazu sagen, bleibt im Verborgenen. Vielleicht existiert ein „Tag des Schafes, das nicht mehr kötteln konnte“ (abgeleitet von einem indischen Vorurteil, afghanische Männer betreffend – auf Details muss an dieser Stelle streng verzichtet werden). Wie dem auch sei; Gastgeber Willi lebt am besagten 15. Juni 2008 noch und blinzelt versonnen auf die Morgenrunde im Garten des heimatlichen Hofes. Ab und zu tropfen Schlafgäste hinzu, von denen man nicht genau weiß, ob sie denn – eben – noch schlafen oder zumindest schlafwandeln. Ein heftig aufgerissener Rosé-Sekt führt allerdings bei den meisten zu stoischen Verweigerungsgesten. Noch, denn gegen 11 Uhr hat man sich  auf Tequila eingeschworen. Ein alter Wittenberger Brauch unter bolivianischer Flagge. Ohne das alles noch zu erleben, müssen beide Herren Doktoren jedoch in die Busspur. Bye bye, Pension Einkehr (mit der härtesten Wirtin am Platz. Zitat: „Hier herrscht striktes Rauchverbot!“), tschüß Karl-Marx-Straße, Getränke-Kino im Kuriosum der Häusernummern. In diesem Stadtteil folgt auf die Nummer 22 eben die Nummer 25 auf selbiger Straßenseite. Ciao, Polizeieinsatz nach dem gestrigen Garagen-Konzert. Weg mit Dir, griechischer Mauerfußball (Danke, Russland!) und natürlich: До свидания, Willi, niemand soll erfahren, wann das trunkene Haupt federkernweiche Erlösung fand. Und dass der Pratajev-Songtext „Das Idyll“ schon so manchen jungen Mann inspirierte, nun, das wissen bereits die Karl-Marx-Städter aus einem letztjährigen Frankenberg-Konzert nur zu genau…

Aber zurück zu den Anfängen, back to the roots sozusagen, als Griechenland noch George Clooney im Tor vertraute. Noch bevor Backline und PA den Bus verlassen, erste, feine Begrüßungsformen übers Grün ziehen, werden 1:1-Mischungen verteilt. Ein Teil Cola, ein Teil Whiskey. Unbedingt weiter zu empfehlen. Grillschwaden dösen durch die Luft, Soljanka-Becher verströmen herzhaften Hunger. Kräftig wird zugelangt, schwankend die Bühne aufgebaut. Ein Tag wie im Märchen, Doktor Pichelstein sucht den Keller und findet sich in einem Bierparadies wieder. Die Entscheidung fällt auf „Kellerbräu“. Mitgereisten Kindern steht derweil Doktor Makarios Rede und Antwort: „Hast Du auch einen Plastebauch?“ wollen die Nachwuchshoffnungen wissen. Kinder teilt man bestenfalls in zwei Kategorien: Die einen weinen und schreien, die anderen toben herum und wollen alles wissen. Hier sind, Himmel sei Dank, letztgenannte am Werke; Stichwortgeber fürs Doktoren-Konzert. Ob nach dem Ratten- und Katzenlied noch eines mit Hamstern kommt, wollen sie wissen. Besser nicht, liebe Kinder. Pratajev hätte aus so einem Tier bestimmt den „pürierten Einleghamster“ gemacht.

Unterbrochen mit einer kurzen Husch-Pause gelingt der wilde Themenpart beider Konzertblöcke prächtig; Doktoren freuen sich bereits aufs nächste Grillfleisch und haben nichts gegen die rasche Einnahme selbstgebrannten Brombeerschnapses einzuwenden. Im Gegenteil. Es folgt die Nacht und all das, was unvergessen bleibt. Anfangs steht’s hier schon umschrieben. Der Afghanische Muttertag nähert sich neuen Horizonten und aus den Büschen pfeifen Schiedsrichter-Spatzen erste Gäste mit roten Nasen in die Schlafsäcke, Decken und Daunen.          

21. Juni 2008, Fête de la Musique, Moritzbastei / Leipzig
Die rotgepustete Klarinetten-Frau (157)

Einige Stunden vorm nächsten Viertelfinale der EM 2008; das Spiel Russland vs. Holland wird’s später im Public Viewing um die Ecke der huldvollen Leipziger Moritzbastei geben. Natürlich werden sie gewinnen, die Sputniks. Hellwach, dynamisch, schnell und präzise - ein Spiel, das sich Doktor Pichelsteins Gitarrenart gerne anpasst. Oder umgekehrt. Das kann jeder für sich orakeln. Russlands erfolgreichste Vorbands hießen in der Zwischenrunde bisher: Griechenland und Schweden, beide wurden arbeitsam besiegt. Eine erneute Parallele zum heutigen Konzert der Russian Doctors.

Heiß ist’s auf dem hiesigen Ableger der euroweiten Fête de la Musique; aus dem Lichtmischer wird plötzlich ein Tonmischer, doch das macht nichts. Doktoren rufen immer wieder die bezaubernde Regie um Rat und Hilfe. „Die Gitarre muss lauter“, kommt’s bebend zurück - dieser Satz ist nun einmal Gold in den Ohren eines jeden Saitenschlägers. Ansonsten döst man in der Sonne vor sich hin, besorgt sich Kaltgetränke aus dem Eiskeller-Backstage. Und Pappschnitten. Was Pappschnitten sind? Nun, die gibt es nur in der Moritzbastei: Unter Plastefolie verborgene, mit Belägen bestückte Brötchen, steter Kühlung ausgesetzt. Was zur Folge hat, dass aus harten, leckeren, bissfest bebutterten Kaustrategen eben besagte Pappschnitten werden. Spült man sie indes, leicht angezahnt, mit Bier herunter, wird’s dennoch kulinarisch lecker.

Auf der Bühne spielt eine Mädchen-Formation norwegische, russische, französische und vermutlich auch tibetische Liedtexte zur musikschulhaften Performance. So etwas nennt sich „Weltmusik“ und wird immer gerne gehört. All die Norweger, Russen, Franzosen usw. tragen nun einmal ihr begnadetes Herz auf trunkener Seele, was schwermütige Fellgeburten stets erfreut. Doktor Makarios lässt sich auf der Stelle eine ganze Flasche Rotwein kredenzen.  „Ah, das ist ja was. Makarios, so kennt man dich, hallo“, wird der oberste Pratajev-Doktor von Bekannten umschwärmt. Da bleibt man besser ungerührt.
Das Ende des Liedvortrages: Eine rotgepustete Klarinetten-Frau und eine weitere Formation (diesmal in Rock) baut sich auf, spielt ein Set und stellt sich darin, mindestens zur Hälfte, umbrandet von juckenden Solis aller Musiker, selbst vor.  Dann sind die Doktoren an der Reihe. Und wie’s bei solcherlei Veranstaltungen immer so ist: für manches Publikum ein Frevel, für die meisten jedoch ein Fest. Kindern werden die Ohren zugehalten („Beim Bücken“), älteres Volk, leicht beschwingt, wippt mit den Füßen und – wenn man genauer zuhört – wird sogar bis zur „Schnapsbar“ mitgesungen.

Die zauberhafte Regie gibt das Zeichen: Plätze besetzen fürs Fußballspiel. Und mit dem letzten Ton beginnt fast schon die Nationalhymne Russlands. Eine der schönsten, weltmusikalisch betrachtet, Hymnen schwermütiger Musikgeschichte.

27. Juni 2008 – Dresden/Elbhangfest, Gare de la Lune
Der Elbhang wird volljährig, Teil I (158)
Unter Hufeisennasen 




Ein Himmel wie im sozialistischen Mai, die Sonne bekocht Wolkenfitzel und beschlagen dämmern russische Doktoren auf zum nächsten Kapitel Elbhangfest. Der Stau beginnt diesmal nicht erst am Blauen Wunder, nein, die A14 ist dicht, kurz hinter Leipzig. Macht aber nichts; Doktor Makarios weist den Umweg über die alte Heimatstadt Grimma. Immer wieder schnellt die Erinnerung, mittels Zeigefinger, hervor: „Da, wo jetzt der Kreisverkehr ist, da hat mich mal ein Motorrad überrollt…“ Natur pur, umrahmt von einer Autobahn, gelbgrüne Idylle am Nachmittag und beide Doktoren mittendrin. Aus den Boxen der „Grüne Apfel“ von EA 80, Snackpapiere, Colaflaschen und Senftüten säumen den Boden. Leicht klappert ein Gitarrenständer vor sich hin; er weiß, was ihn erwartet: Drei Elbhangfesttage, zwei Auftritte am Gare de la Lune und jede Menge Zeit, es sich darin gemütlich zu machen.

Das Tourauto parkt in der Einfahrtschneise; Ruhe ist gefragt, ein erstes Bier vom Fass und gleich eines danach. Die Elbe platscht ans Ufer, Ausflugsdampfer ziehen Kursbahnen, genau wie lebensmüde Ruderer ihre Schnuten. Kein Wehr fängt die bepaddelten Holzsärge ein und schickt sie, aus andromedianischen Höhen, in die hechtsuppige Tiefe des Weltkulturerbes zurück. Doktor Pichelstein wird Weizen-Testbiertrinker, bevor zum Soundcheck auf die Gartenbühne geladen wird. Ein Abend, wie ein sehnsüchtiger Werbespot im umschwirrten Grünen, zieht auf. Grillstände werden mit halben Schweinen beliefert, unaufhörlich rollen Bierfässer heran. Lange Schlangen bilden sich, egal ob vorm Frauenklo, an den Ausschänken oder – eben – vor den schweinernen Grillständen. Die Rockys ertönen als Vorband und gut 1000 Menschen vor der Bühne wissen, warum sie nicht woanders sind. Großenhains Klosterfrau schenkt doktorisierten Kräuterschnaps aus eigenem Anbau her; Mimik und Gestik wollen beide zugleich „lecker“ sagen, geraten darüber indes in einen verzerrten Klinsch. Bert Rock, unversehrter Frontepigone der Dresdner Kapelle, fotografiert die Klatschparty zu Füßen, hindert mit der rechten Hand im sauberen Fluss einen tschechischen Elbedampfer bei der Weiterfahrt. Die Cover-Konzertscharade beginnt und dauert großzügig lange. Doktoren trinken aus Bechern, warten ab - bis sich erste Fledermäuse letzte Junikäfer schnappen. Ja, die beflügelte Brutart der Kleinen Hufeisennase ist bedroht. Eine unaufschiebbare Wirkung der Waldschlösschenbrücke macht sie tot, berichten und gerichten klagende Naturschützer. Gibt man ihnen einmal recht, nun, dann wird die fertige Brücke eben wieder abgerissen. So könnte es passieren.

Mit der letzten Zugabe der Rockys, nebst Ankündigung, dass nun die Gruppe Karat auftreten wird, ertönt fast schon das Intro der Doktoren. Doktor Pichelsteins Kreislauf schießt von Null auf 120, schraubt noch hier, stimmt noch da. Letzter Sprung vorm ersten Song, hinein ins weiße Leibchen. Und: „Ich hab noch einen Rotarmisten im Keller“, singen die Textsicheren ganz vorne mit. Über Veterinärlieder zu Fetisch,- Tier,- und Landweisen halten alle Saiten. Doktor Makarios’ Setpausen beschränken sich auf den ein oder anderen raschen Flaschenschluck. Noch gut 400 Menschen harren bis zum Schlussakkord aus, treiben Zugaben voran, bis sie endlich reißt, die erste Stahlsaite. Es ist die dicke A und mit genau so einem Ausdruck in den Gesichtern, reichlich entrückt, verabschieden sich russische Doktoren im angesichtlichen Schweiße.

Doktor Pichelstein wird am Bühnenrand, ärztlicherseits, chirurgischer Gerstensaft verordnet bis gereicht. Dr. Makarios signiert CDs und am Merchstand ist der Teufel los. Obwohl die eigens engagierte Verkaufsfee eher güldenen Engelsflair verströmt. Bis morgens um vier trinkt sich hernach die Nacht ins Helle; Familie Österreicher vom Elbhang um die Ecke sei dafür grüßend aller Herren Dank ausgesprochen. 

29. Juni 2008 – Dresden/Elbhangfest, Gare de la Lune
Wer den Nachmittag verschläft. Der Elbhang wird volljährig, Teil II (159):

Gut und lecker riecht der Elbhang; manches bleibt nicht unprobiert zu diesem 18., kilometerlangen Treiben. Stände säumen bunt das hut- und blumenumrankte Soziotop. Doktor Pichelstein schleppt eine frisch besaitete Gitarre gefühlte Ewigkeiten zur Parkbühne des Gare de la Lune; Doktor Makarios weilt kurz hinter tschechischen Gardinen; Kippen kaufen und die Bestellliste ist lang. Das heutige EM-Endspiel gegen Spanien ist in aller kauenden Munde, Doktoren ficht das noch nicht an; der Sound wird gewartet im bestens befüllten Grün. Vorab spielte ein Straßenmusiker gecoverte Weisen von Led Zeppelin bis Neil Young, die Stimme dabei mit einem Delayeffekt bestückt. Ein guter Tipp für alle O’Nash’s der bänkelnden Sangeswelt. Nico Biberowitsch und Gefolge vertreten diesmal Großenhain; wobei hier nun wirklich der allerjüngste Besucher eines Russian-Doctors-Konzertes ever gezählt werden darf: Kieran, geb am 22.05. dieses Jahres, was schon einen großartigen Schnaps wert ist. Herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle und so viel sei bereits jetzt verraten: Zwar konnte Kieran noch keinen einzigen Pratajev-Text auswendig mitsingen, andererseits kamen auch keine Proteste. Nein, genauer betrachtet wurde der Nachmittag feist und eingemummelt verschlafen

Behütet von knallgelber Sonne, unterm blauen Wolkendach, steigen erste Pratajev-Weisen in den Himmel. Doktor Makarios schürft tief in des Meisters’ Schatzkiste und erntet, bis über die Zugaben hinaus, tosenden Applaus. Doktor Pichelsteins Ansporn fürs heftige Vertrimmen der Speed-Gitarre ist gewiss dem frühen Tag zuzuordnen, dem Ausschlafen, der Nacht, wer weiß das schon? Erneut brilliert es sich am Merchstand bestens. Junipollen fegen heugemäht daran vorbei und erschöpfen so manchen Taschentuchvorrat. Dann legen sich gordische Knoten (was immer so ist) um eingepackte Gitarrenkabellagen, wird noch ein letztes Mal angestoßen, fährt der Tourwagen im Schritttempo durch die enge Unordnung streunender Hundertschaften vorbei - bis die letzte straßenumspannte Flagge mit den Insignien des Elbhangfestes 2008 passiert ist.

Nun kann das Endspiel kommen; danach ist erst mal Ebbe im Fußballland angesagt. „Eine Wattwanderung im Würmerdreck“, sagen sie dazu an der Nordsee. Doch nein, Doktoren lieben die Ostsee, und müssen da immer wieder hin. 

02. August 2008, Pirna / Hoffest
Eine Reise mit den Doctors ist nun einmal keine Apothekenrundfahrt (160)

So ein Glück. Ganz Deutschland versinkt im Unwetter, Keller pumpen sich leer, nur in Pirna scheint die Sonne arg geschickt um ein paar tschechische Wolkenzipfel herum. Darunter ist’s heiß, schwül und trocken. Genauer gesagt: Die Lange Straße 36 mit ihrer Hutbühne, dem knisternden Soljanka-Holzgrill, nebst prächtigem Getränkestand, den eigens dafür verantwortlichen, frohgemuten +punkt ingeneuren lädt zur Einkehr, zum Mochito, zum ersten Bier. Gar nicht so einfach da noch an den schindenden, schweißtreibenden Bühnenaufbau denken zu müssen. Während Doktor Makarios auf Pensionsschlüsselsuche geht, regeln Shiva und Doktor Pichelstein den Rest. Es soundet mundgerecht vor sich hin - von gar nicht fern sieht man eine überschminkte Mädchengang auf dem Weg zum ersten Getränk. Heute sind die Erlebniszellen aktiviert, Pirna feiert ein offizielles Hoffest. Die Hutbühne darf das nicht, was der Sache keinen Abbruch beschert. 

Aus Großenhain trifft die Klosterfrau ein, ayurvedischen Kräuterschnaps reicht sie in die Runde und mancher wundert sich. Soll man sich das klebrige Nass nun einverleiben oder doch besser als Riechöl verwenden? Aber eine Reise mit den Doctors ist nun einmal keine Apothekenrundfahrt. Hier wird zwar geheilt und manch schlimme Krankheit besungen, doch letztlich ist entscheidend, was dazu auf den Tisch kommt. Doktor Pichelstein genießt mal ein regionales, mal ein globalisiertes Bier, dann geht es – soljankasatt – auf die Bühne, diesmal gar mit zwei Scheinwerfern ausgeleuchtet. Und wieder könnte der Anfangssatz „So ein Glück“ bemüht werden – die Reihen sind geschlossen, irgendwann passt niemand mehr ins eckige Rund. Viele Gesichter lassen sich aus den letzten Jahren wieder erkennen. Zum Beispiel die nette Frau aus der ersten Reihe, die sich stets beim Tote-Katzen-Song beide Ohren zuhält. Pratajevs textliche Ironie wiegt eben manchmal schwer. Doch Brutaliusmus sieht anders aus; nach den Katzen geht’s um einen Tierarzt, wie er nicht sein sollte – und es wird weitergeklatscht. Insgesamt lange, sehr lange. Mit nur kurzer Unterbrechung. Dann sind etwa 70 Prozent des gesamten Repertoires tatsächlich gespielt, die Hemden nass, die Pusten aus. CDs und Plakate werden signiert und die Klosterfrau sammelt sinnvolle Weisheiten dazu. 

Fast hätte Doktor Pichelstein noch von einem verlockend dreinschauenden Marmorkuchen mit Kerze obenauf genascht. Aber nur fast; so dreht sich die Welt am nächsten Mittag noch um die eigene Achse. Der Tourbus rauscht über die Autobahn. Das Frühstück gelangt, umspült vom türkischen Kaffee, lecker in den Mund. Und all das nicht umgekehrt.         

09. August 2008, Königstein/Stadtfest
Königstein bei Lichte (161)

Ein Schicksal des Doktor Makarios ist es, dass viele Dinge, die er im Werk Pratajevs entdeckt, irgendwann einmal auf ihn selbst zurückfallen. Welche das genau sind, wollen wir gar nicht beschreiben. Vermutlich hadern viele Forscher, Fälscher und genauere Betrachter des Lebenswerks Pratajevs mit solcherlei Dingen. Innerhalb der vereinsumtriebigen Gesellschaft wird deshalb gerade über eine „Selbsthilfegruppe der Pratajevgeschädigten“ debattiert. Den Vorsitz soll das wahlschweizer Ehrenmitglied Herr K. übernehmen.

Betrachten wir nun aber den ersten Auftritt der Doktoren in Königstein und zwar bei Lichte. Denn während sich dunkle Wolkenkorsos von Leipzig nach Dresden verorten, scheint die Sonne überm Bühnenort im schönsten Glanz. Das diesjährige Stadtfest zu Königstein besteht aus einem Bratwurst-Rummel und einem Konzert der Russian Doctors – letzteres in Höhe und Breite ausgerichtet vom Wirt des Gasthauses Schräger’s. Nicht nur kulinarisch ein Höhepunkt der Gegend zwischen Pirna und Tschechien. Wer also einem Reisetipp der Doctors folgen möchte: Unbedingt in die Kirchgasse wandern, dort, wo die Turmglocken ihr stündliches Spiel treiben. Wer zuviel besten Rotwein und zartestes Wild, leckeren Fisch usw. vernaschte, lässt sich hernach, noch mit einem Obstler verwöhnt, bequem in angeschlossene Pensionsbetten fallen und genießt beste Aussichten. Für Makarios und Pichelstein gilt das alles insgesamt etwas später; zunächst wird eine Wespe betört, eine katerkampfgezeichnete schwarze Katze am Bühnenrand ausgemacht, ein recht hübscher Wildbahnkäfer XXL  ins Gras gesetzt und der Sound gecheckt. Die Bänke und Tische füllen sich, mancher Heißhunger auf Wurst vom Grill wird rasch zum Schweigen gebracht.

Das Intro läuft und eine Menge Stadtfestvolk lässt sich durch Pratajevs Weisen anlocken. Die trinkfeste, fröhliche Schicksalsgemeinschaft bilden: Junge Menschen, der schulischen Kreidezeit gerade entronnen, Rentner in wandernswerter Einheitskluft, durchaus bekannte liebe Frankenberger und Fährschiffer von der anderen Flussseite sowie alle anderen, für deren Kommen die Doktoren sich bedanken. Nun haben viele von Euch also auch eine Halbgötters-CD zuhause. Das ist sehr löblich. Bis zum nächsten Mal und über alle Zugaben hinaus grüßen Doktor Makarios und Doktor Pichelstein, winkend von der Schnapsbar mit dem glasverpackten Schluck in der Hand.

PS: Der Katze geht es nach wie vor gut und das Konzert war uns ein Genuss

06. September 2008, Zerbst / k6
Beste, russische Verhältnisse (162)

Wie schnell doch so was gehen kann. Knappe zehn Meter vorm Tourauto, kurz vor den Dessauer Autobahnabfahrten, wird Crash-Geschichte geschrieben. Das regennasse Drehbuch verhilft ausgerechnet dem Unfallverursacher zur Flucht nach vorn, während rechts wie links blechknallende Autos über die A9 schießen. Eines kommt, fahrerhälftig gekürzt, an der Mittelleitplanke zum Stehen, ein anderes unmittelbar vorm Bremspedal des Doktorenautos. Glück gehabt – vorher auf der rechten Spur den langsameren Weg gesucht. Man denkt vermutlich viel zu oft, das Leben geht so mirnichtsdirnichts einfach weiter. Und bumm, hängt es bereits am spinnenden Faden.

Erst als beide Crashfahrgemeinschaften einigermaßen wohlauf über die Autobahn torkeln, das erste Warndreieck steht, setzt der Tourwagen seine Fahrt Richtung Zerbst fort. Adrenalindurchpeitschte Doktoren erreichen schließlich Zerbst und baden in Euphorie, als wahrlich russisches Catering gereicht wird. Es gibt jede Menge Fisch, heiße Suppe, viel Kaffee und eiskalten Schnaps erst kurz vorm Zupfkuchengelage. Einige Zeiten später und so gewollt: Vom Jargon des hier beschriebenen Schicksals mehr als geheilt.


Das k6 wird immer schöner, immer rustikaler, immer russischer. Sogar die Technik spielt bei diesem Vergleich mit und lupt zunächst im Argen, was ihr gönnerhaft fein ausgetrieben wird. Dafür - und für die baldige Rückverbringung eines später vergessenen Sangesmikros - gebührt Techniker Sven alle Ehrenmitgliedschaft in der feinen Pratajev-Gesellschaft.

Viel ist davon die Rede, von Pratajev, unserem großen, beinahe vergessenen Dichtkunsthelden des 20. Jahrhunderts. Makarios liest dem Auditorium Anekdoten, Geschichten, Leviten und Lyriken vor. Pratajevs epischer Atem schwebt über dem Rund; selbst die Schnapsbar bleibt davon nicht verschont. Doktor Pichelstein vertieft sich in die Almanach-Reihe „Haus aus Stein“. Kein geringerer als Wladimir Petrowitsch Uschakow, Figur des fiesen, dichterischen Plagiatwerks, findet hier groß angelegte Beachtung. Von destilliertem Nacktschneckenschnaps ist die sonore Rede, von allerlei mongolischem Unsinn, bis der erste Konzertblock durch den Raum fegt und mit ihm all die verdienten Weihen schließlich im Schnaps münden. Nach einem weiteren Block folgt der Film „Der Wirt und Ich – Pratajev im Teehaus Protnik“,  während draußen der Regen kämpferische Plattitüden von sich gibt. Da muss noch keiner der Anwesenden durch, viel zu russisch, viel zu feierlich ist’s im k6.  

Die Schnapsbar in der Doktor-Leber-Straße
19. September 2008 – Wismar, Tiko 

Bereits am Vortag beginnt die Reise - unter einem Zwischenstopp bei Amadis in Potsdam. Dort, wo die ARTigen Konzertfäden gesponnen werden. Unter 120 km/h muss der vorbehaltlich TüV-geprüfte Bus, enorme Kaugummikilometer vorher, fahrbahntauglich beladen werden. Und unter wonnefeiner Herbstsonne lassen sich frühabendliche Klöpse, harte Eier, Thermokaffeegüsse an geschmiertem Gebäck so genussvoll vertilgen wie damals, als ein Picknickkorb noch unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Reisegruppe war. Vor allem dann, wenn Brandenburg durchfahren werden muss - kulinarische Katastrophenlandschaft vor dem hungrigen Herrn, nur gesegnet durch folgende Hoffnung: Madame Mecklenburg-Vorpommern liegt vorne mit ihrer brüstenden Ostsee, ihren perlenden Stränden, unfertigen Autobahnen, Landstraßen mit recht eindrucksvollen Mähpanzern drauf, ihren reichen Fischplatten und z.B. ihrer Insel Poel. Dorthin zieht es beide Doktoren, zum Zwischenstopp vorm Wismarer Konzerttag. In den Schwarzen Busch, der in erster Linie durch eine Kurklinik überregionale Berühmtheit gewann. Gute Vorsorge, reichliche, flüssige Rehabilitation sind des Glückes Unterpfand – beide Buschkneipen sind bei Ankunft bereits knapp verriegelt. Der voraus gestellte Lidl-Besuch im Nachbarort egalisiert indes alle Sorgen. 

Wismars innerstädtische Bahnübergänge sind ein Novum. Besonders der mit den vielen Güterzügen. Zur besten Nachmittagszeit - alle Familienkombis gefüllt mit Vorräten und rücksitzigen Kindern, die aussehen, als sei gerade sämtliche Schokolade abgeschafft worden - fällt die rote Beschränktheit im 3-Minuten-Takt. Doktoren harren der Dinge und warten 10 Minuten. Motor an und fünf Meter weiter. Schranken fallen erneut. Wer hier keinen Kickstart drauf hat, bleibt auf der Strecke. Wie viele Waggons waren es gerade? 54, mindestens. Die Rangierbahnen ausgenommen; was für ein Heidenspaß muss das für einen Lokführer sein. Schließlich wendet Doktor Pichelstein, gibt Gummi und braust anderweitig zum Ziel, dem Tiko in der Dr.-Leber-Straße 38.

Die heutige Schnapsbar steht also an der Dr.-Leber-Straße. Wie passend. Die Gastfreundlichkeit im Club ist herrlich unbegrenzt; hier wohnt und arbeitet man. Ein Kollektiv, begnadet, und dass es sogar nicht rein vegetarisch zugeht, können beide Doktoren lecker unterstreichen. Schließlich müssen sowohl Dr. Makarios als auch Dr. Pichelstein mit der eiweißhungrigen Blutgruppe O vorlieb nehmen. Die gestattet nun mal keine reinen Gemüsesüppchen zur Erbauung. Ach, viel mehr noch kann übers Tiko geschrieben werden, über Hasenzucht und feines Publikum, doch belassen wir es mit einer Danksagung an dieser Stelle. Für alles in Pratajevs Sinne. Gespielt wird, gelesen wird auch. Keine Pause, reichhaltige Zugaben, reißende Gitarrensaiten. Ein METchen tritt der Pratajev-Gesellschaft bei. Funktion: Marcelladenherstellerin. Dann fällt der erste Gast krachend auf den Holzboden, wird überstolpert vom nächsten. Doktoren prosten sich glücklich zu und weil der Weg in die Kasematten nur ein Stockwerk höher liegt, ist der holden Anstrengung bald genüge getan. Zum Frühstück werden sich einige wieder sehen, doch das liegt in einer anderen, fühlbar weit entfernten Zeitfuge. Naseweiche, reißfeste Taschentücher säumen das Rund.   
  
20. September 2008, Schwerin / zeppelin CLUB
Der Wurm des (Led) zeppelin (164)

Es geht in die Pilze. Doktor Makarios am Bastkorb voran, irgendwo an der Landeshauptstadtautobahn. Wie Hänsel und Gretel pirschen sie durchs Unterholz, russische Doktoren, den Schnaps noch im Kopf, nicht in der Hand. Da! Eine Lichtung, ein See! Ein Käfer! Ein Pilz, ein ganz giftiger und einer, von dem keiner so genau weiß, warum Klopapier drauf liegt. Da gehen die Menschen doch tatsächlich in den Wald und machen hinein. Wer also weiterhin gehäkelte Klopapierumpuschelungen hinter Autoheckscheiben toll findet, sollte sich überlegen, was deren Besitzer widerliches im Schilde führen. Doktor Pichelstein wirft sich schließlich wild entschlossen auf eine Decke und liegt am Wegesrand. „Schlagt die Ständerpilze, wo ihr sie trefft“, hören derweil die Wildschweine dem anderen Doktor zu.


Auf dem Schweriner See kreist viel Federvieh Brotkrümeln hinterher, drum herum finden vermutlich gerade die Paralympics für Rollstuhlaltenheimer statt. Eingemummelte Greise ziehen Schnuten; den sehr jungen Schwesternschülerinnen hinten dran gefällt’s auch nicht. Touristenbusse kurven allerorten und im Freisitz an der Strandperle beziehen beide Doktoren Posten bei Würzfleisch, Milchkaffee und soderprobtem Weißwein. Der Menschenzoo ringsherum verlangt nach Aufmerksamkeit und eine redenschwangere Feier zum Achtzigsten wird in die Perle, nach drinnen, verlegt. Omi ist kalt in der Sonne. Wenig später trifft Werder zum Fünfzunull in München. 
Schwerin, das muss an dieser Stelle endlich erwähnt werden, ist eine wunderschöne Stadt. Ein Mix aus Erfurt, Rostock und vielleicht Görlitz. Von Erfurt übernahmen die Verkehrsplaner das geschickt eingefädelte Einbahnstraßensystem. Das Ziel des heutigen Konzertes liegt im Wurm, Schwerins Meile für den besonderen Geschmack. Dort residiert der zeppelin CLUB. Nahe kommt der Tourbus dem Geschehen, doch nie nah genug. Immer wieder führt die Einbahn um den Schweriner See herum. Doktor Makarios’ Navi ruft sie unablässig in den Abend hinein, die berühmten zwei Worte: Bitte wenden, bitte wenden. Und dann ist das Ziel erreicht; werden dem Wirt und dem Langen die Hände dankbar feucht geschüttelt. Rasch muss es gehen mit dem Soundcheck; doch wer – als Musiker – schon mal das Vergnügen des Langen an der Technik hatte, der weiß: Jetzt ist alles gut, nichts geht schief. Bisschen Anspielen, drehen, wenden, Licht aus und fertig. Man schnitze bitte alle Mischer aus diesem Profiholz. 

Omas Achtzigster in der Strandperle dürfte sich langsam dem Sterbchen zuwenden; der Club füllt sich, Doktoren kippen Kräuterschnaps nach herzlicher Sättigung. „So ein Lamm, so wunderschön wie heute“, singt Doktor Pichelstein in der Merchecke, wo die Schönheit Augen macht. Denn einem Blumentopf gelüstet es, Doktor Makarios Haupt zu fällen, verfehlt es aber knapp. Das Intro läuft, der ganze Wurm erschüttert, im zeppelin ist kaum noch Platz. Tische und Stuhlreihen biegen sich im Holze. Ein heftig tosendes Ostmeerkonzert wird noch lange unvergessen bleiben, mit all seinen Zugaben, gerissenen Saiten und Schnapsbarsolis. Der Abend eines Geburtstags, von dem es schlimme Bilder gibt, hinten in der Ecke. Noch weit gefühlt entfernt liegt ein neuer Tag versteckt, den man lieber auch hier verbracht hätte. Und nicht, wie es kommen musste, auf regennassen Rüttelstreifen in der Testphase einer Baustellenautobahn. Mit dem Weitblick auf eine nullsternige Autobahnraste, die gerade von vier Reisebussen gleichzeitig heimgesucht wird. Mit dem Nahblick auf einen einzigen Klomann, völlig verzweifelt, Schweiß im Genick.           

10. Oktober 2008, Mühlhausen / Kulturfabrik 
Die schwankenden Pfade oder:
Jägermeisteraufstand hinter den sieben Bergen (165)

Viele fertige Kilometer Autobahn besitzt das Land, ein einziges Dahinrauschen ist’s. Von A nach B über C nach D. Fährt man hingegen durch Thüringen, gelten noch die Kirmesgesetze des 30-jährigen Krieges. Warum eine halbe Stunde vor Nordhausen die uns bekannte Zivilisation komplett eingestellt wird, war den Mansfelder Schiefhälsen, tief unten im Kupferberg, bereits in alter Zeit Rätsel genug. Muss man jedes Dorf von innen sehen? „36 Kilometer Südharzautobahn sofort“, ruft Doktor Pichelstein am Steuer, Kreisverkehre im Blick, Heumännchen am Stolperrand. Die Blechlawine schleift sich durch enger werdende Gassen. Dann kommt nur noch Wald. Finstrer Wald, sonnendurchfluteter Wald, nebliger Wald. Serpentinen hoch und runter; hinter den sieben Harzbergen liegt schließlich Mühlhausen. Endlich Zivilisation, das süße Pflaumenmussland Thomas Müntzers ist erreicht. Zum Klerus mit Nordhäuser Doppelkorn (ist eh von Rotkäppchen geschluckt worden). 

Die hiesige Kulturfabrik ist eine Oase, ein kleinodiger Fluchtpunkt. Draußen schweigt nur Mühlhausen. Und wer nicht gerade therapeutisch wertvolle Kleinkunstabende (Ikebana und Gitarre, Schreibkurs und Betroffenheitslyrik) besucht, wer RENFT, Tonstein oder eben die Russian Doctors einem WG-Kochkurs, verbunden mit der erotischen Frage „Wer macht eigentlich den Abwasch?“ vorzieht, der folgt dem Clubmotto ins Herbstglück. Es lautet: Die Tage werden kürzer, aber die Nächte bleiben lang. Chef Siggi führt durchs Haus; die Schnitzel dampfen, der Sound checkt sich durch eine Punkerhand, spiegelverkehrt. Dialog: „Kannst du die Gitarre über die Monitore laufen lassen?“ -  „Im Prinzip schon. Nur das Mischpult steht verkehrt herum. Da weiß ich gar nicht, was ich drehe“. Einige kräftige Rückkopplungen später füllt sich die Fabrik mit Arbeitern und Teilzeitkräften; der Ausschank fließt. Doktoren begrüßen ihre froh erwartete Bonner Kommunikationszelle; schwankende Pfade bahnen sich von den Tischen zur Theke und zurück. Das Konzert beginnt, unerschrocken gehen beide Doktoren zu Werke, im Schlingerkurs durch Pratajevs durstigen Themenpark. 

Während der Schnapsbar-Pause geschieht es dann, das knallorangene Wunder von Mühlhausen. Der sukzessive Jägermeisteraufstand beginnt. Eine Traube leicht bekleideter Heidi-Klum-Nachhilfeschülerinnen und Schüler, bewaffnet mit Baustellensirenen und Trillerpfeifen, buhlen ums schüttere Rampenlicht. Umkreist davon führt ein karnevaleskes Hirschplüschkostüm holzfällerhafte Veitstänze auf. Geduldsspiele werden an bereits Betrunkene verteilt, bedruckte Oranje-Hemden, wohin das Auge blickt. Gut genug, um damit von Zeit zu Zeit vielleicht den Ölstand zu prüfen. Das Publikum agiert geschockt; wie in hilfloser Trance lassen sich gestandene Mehrjährige gefährliche Jägermeisterdosen aus Laborgefäßen einflößen. Immer wieder. Solange, bis neuerlich schwankende Pfade gebahnt werden. Sie führen zum Klo. Und wer dort ankommt, hört nur noch aus der Ferne das zweite Set der Russian Doctors.

Wohl denen, die sich im Nachgang gepflegt um eine prickelnde Rosé-Sektflasche scharen, die selbst in der Pension „Zum ewigen Rath“ mittelalterliches Mühlhausen verströmt. Sie haben es sich verdient.     

11. Oktober 2008, Fürstenwalde / Club im Park  
Die kalte Axt der Klofrau (166)

Keine weiteren Autofahrten mehr von shakespearhafter Tragik; ein unterschwelliges Motto im Tourauto – während Doktor Makarios an weit zurückliegende, letzte Mahlzeiten gemahnt. Rasch wurde das Land der Frühaufsteher überfahren, schließlich Brandenburg erreicht, jenes kulinarische Niemandsland, offensichtlich aber zumindest perspektivhungrig. Autobahnschilder erzählen davon. Wobei noch eingeworfen werden sollte, dass jenes „Land der Frühaufsteher“ genauso gut auf Alexander Wolkow gefußt sein könnte. Durchs Sachsenanhaltinische mögen sie streunen, der Scheuch, der eiserne Holzfäller, Elli, der Hund Totoschka, der feige Löwe. Verfolgt von Säbelzahntigern, geflügelten Affen, im Geiste einer bösen Hexe Gingema. So stellen wir uns mal das Land der Frühaufsteher anno 2008 vor.

Perspektivhungrig steuern beide Doktoren die letzte Autobahnraste vor Fürstenwalde an. Wie sich im Verlaufe des Besuches herausstellen sollte, eine Option unterster Kanone. Zunächst wird gerade der Kaffeeautomat entkalkt; die Offerierung zweier Tassen Milchkaffee gerät zur Farce. „Gehen sie mal in die Tankstelle, hier kann ich gerade nur Filterkaffee machen“. Nein, Doktoren lassen sich da lieber erst vom Duft der Klostein-Örtlichkeiten verführen. Kaffee ist doch Kaffee. Und eine Klofrau eine Angestellte eines Subunternehmers, die dafür Sorge zu tragen hat, dass der WC-User nicht in den Pullerpfützen seines Vorgängers matschend zu Fall kommt. Hier pfützt es ungemein; keine Schneeschmelze kann dafür zur Verantwortung gezogen werden. Als es beide Doktoren wieder ins Wesentliche der Raststätte zurückzieht, schwingt die kalte Axt der Klofrau nackenbedrohlich nieder. „Sie müssen DAS bezahlen“. Wobei eine nähere Umschreibung des Synonyms ausbleibt. Doktor Pichelstein steuert stoisch einen Fettstand an. Doktor Makarios zahlt besser; wer weiß, was es sonst für einen Aufstand gegeben hätte. Die Raste ist beinahe leer; Zeugen für eine mögliche Bluttat wären – post mortem - schwer zu finden.

Am Fettstand sind die Bockwürste alle und der sattsam bekannte Satz, dass es noch welche an der Tankstelle geben müsse, reicht jetzt. Die Ersatz-Bestellung fällt bratwürstig, klopslastig aus. Als der Filterkaffee endlich in die Kassentassen fließt, sind die Cholesteringranaten den herbstlichen Außentemperaturen gleichgestellt; aus der Wurst spritzt eine seltsame Mischung kalten, wässrig-gelben Fettes. Nichts wie raus hier mit Senf am Revers.

Groß ist das Glück, als der Club im Park erreicht wird. Schön finster gelegen, mitten im Wald. Ein streunender Elchbulle, verfolgt von polnischen Wolfsrudeln, wäre nicht weiter wunderlich gewesen. Stattdessen baut sich im Club die Technik auf, die Belegschaft begrüßt russische Doktoren. Eine lange, verwinkelte Schnapsbar lädt zum Bleiben ein. Zwar läuft gleich das Gruppenspiel zur WM, Deutschland gegen Russland, doch – umso schöner – das Publikum schart zwar nicht in Massen herbei, doch für einen heftigen Konzertabend wird’s reichen. Im Raucherbereich trifft man sich auf Pratajev-Anekdoten; Doktor Pichelstein lässt sich die Fußballzwischenstände liebreizend durchsimsen. Podolski und Ballack trafen bereits ins Eckige. Das Konzert startet mittels Intro; Gitarrist und Sänger sind gulaschsuppengedopt. Hinein in die Welt des bekanntesten aller unbekannten russischen Landdichters. Dem Club im Park gefällt’s und von den Wänden blickt Madame Historie zurück. Die ART waren vor etwa 20 Jahren auch schon hier; schöne Erinnerungen, hinter Glas gebannt.

Eine Musikschullehrerin, fasziniert vom Akkordverhalten des Doktor Pichelstein, drückt gegen Ende Hand auf Hand; Doktoren zieht’s mit dem Taxi in die Pension, gegenüber von Lothar Biskys-Bürgerbüro. Noch ein letzter, brennender Schnaps an der Bar, dann ein „Tschüss“, ein „Bis Bald“ und bis zum nächsten Jahr.         

06. November 2008 - Berlin/Halford
Buntmetall (166)

Die Busfahrt zum Tourauftakt nach Berlin gleicht zu ungefähren Teilen einem Kinobesuch des frischen 007-Films. A9nige Autos brennen, Sirenen heulen - während vorher, am Schkeuditzer Kreuz, zwei LKW bereits krachend’ Buntmetall über die Fahrbahnen verteilt hatten. Links wie rechts werden Doktoren rasant überholt, es scheint fast so, als dränge es jene Harakiris unbedingt noch in die morgige Ausgabe des TV-Magazins „Brisant“. Immer Wochentags, ab 17 Uhr 15: Die schönsten Crashboulevardleichen zuerst, dann die Leute mit den Hackebeilchen und  tiefgekühlten Kindern, Feuerwehrmänner als Brandstifter - kulminierend in markerschütternden „Prominews“, z.B. über die dickste Tochter des Entertainers Roberto Blanco, die sich – aufgrund fehlender, väterlicher Zuneigung, so der O-Ton – für ein Feigenblättchen nackich machte.


Später am Abend stößt Doktor Makarios noch auf ein Plakat mit dem Titel: „Aufstieg und Fall des Barack Obama“. Auf der einen Bildseite erkennt man den neuen Hoffnungsträger der restlichen Welt, auf der anderen Seite verrichtet Roberto Blanco sein Lächelgeschäft. Wie dem auch sei - bestenfalls erholt man sich vom Boulevardschmus, wenn direkt veranschlusste Vorabendserien gleich mit konsumiert werden. Denn: „Forbidden Love goes straight to your heart and your soul loosing control, oho…” Wie schön, wie wahr und sanftmütig ruht die Politik der ruhigen Hand am Pichelstein-Steuer. Doktor Makarios an der Bockwurst schaltet sich durchs Radio-Resterampenprogramm. Die Navi-Kassette wird nicht ins Tapedeck geschoben; Wege nach Friedrichshain finden sich wie im Schlaf. Der Regen zittert, bevor er die Frontscheibe erreicht. O2,- und H4-World erstrahlen im nassen Glanz. Nette Idee von gegenüber. Obwohl Doktoren sicherlich eher zu einem Spiel der Berliner Eisbären gehen würden – und nicht in die vermutete Hartz-IV-Welt.  


Kurz vor sieben steht der Bus vorm Halford; sogar ein Parkplatz findet sich später und das in erster Reihe. Glück muss jeder russische Doc haben, soll er auch - im Club spannt sich ein heftig’ Laken voll von metalliger Geräuschkulisse. Schnell ein Bier und noch ein ganz großes, dann sind die Koffer ausgepackt, stimmt sich der Sound, umringt vom fleißigen Bühnenverantwortlichen. Wenn man nicht streng aufpasst, wird aller gut gemeinter Überfluss in ein ominöses „Dahinten“ verbracht. Doktor Pichelstein erkämpft sich indes alles zurück; die Koffer mit den Ersatzsaiten, Batterien, Stimmgeräten und Kabeln darf er beim Auftritt in der Nähe behalten. In wenigen Minuten starten die „Dört Poetry Sessions“ – eingebettete Doktoren im Dichterkreis aus Tilman Birr und Florian Günther. Letzterer ist und bleibt Berlins einziger Bukowski feat. Jörg Fauser. Also Berlin, pass besonders gut auf diesen deiner Dichter auf.

Durchs Set des Abends führt Mr. H. Lautmaler. Auch als Getränkeverantwortlicher eine Markengröße, als späterer Herbergsvater und Früharbeiter ebenso. Es macht Spaß auf der Bühne und vieles lässt sich veraussichten. Unterm Irrlicht der Thekenbeleuchtung scheint es ein Gesellschaftstreffen der Pratajev-Gesellschaft zu geben; Schnaps, Bier und weitere Leckereien verorten sich ins Leibhaftige. Direkt vor der Bühne räkelt sich der dunkelhäutige Po einer sehr jungen Dame mit weißen Stiefeletten auf Migrationshintergrund und wackelt mit dem Barhocker. Zusammengehalten wird der Po nur durch einen orangefarbenen Stringtanga, dessen obere Schnüre ungefähr dort zusammentreffen, wo bei sehr jungen Damen sonst BHs vermutet werden. Doktor Makarios widmet diesem Anblick sofort die Lieder „Gefesselt“, „Beim Bücken“ und „Bebende Brust“. Doktor Pichelstein schaut lieber weg und konzentriert sich auf die Saitenfinger.  Zur Linken ist es etwas ruhiger, teure Blicke treffen aufeinander und spiegeln sich im Swimmingpool-Cocktail. Dann ist das letzte Lied gespielt, sind Zukunft und Gegenwart vereint. Eine buntemetallene Judas-Priest-DVD wird eingelegt, Sack- und Aschejacken werden verteilt, Biermarken werfen Runden. Mrs S. Lautmaler führt die Doktorengilde zum letzten Inspirations-Spiritus an den heimischen Küchentisch. Morgen wird ein Schreibtisch erwartet, einer, an dem wohl viel gesessen werden soll. Soviel Zeit muss sein.

Zuletzt ein Dank an beide Lautmaler und bis zum nächsten Mal und Jahr, denn dieses hat bald Sendeschluss.  

07. November 2008, Pirna / Uniwerk
Bis zum letzten Schluck: Elend und Pichelstein allein im Bus (167)

Erstmals spielen die Doktoren heute außerhalb der jährlichen Hoffest-Sessions, im pittoresken Uniwerk, nur wenige Meter Kopfstein vom sonstigen August-Geschehen entfernt. Der Herbst benimmt sich an diesem Freitag wie es nasse Hunde tun, schüttelt sich, pullert überall hin und kläfft in den Wind. SZ online schreibt: „Pirna. Hier braucht es echte „Russian Doctors“. Sie hypnotisieren, fesseln und verschleppen das Publikum. Kurze, knackige Songs werden auf dich einprasseln. Lass auch du dich von „The best of the Halbgötters“ verarzten und sei am 7. November vor Ort im Pirnaer Uniwerk. Los geht’s 20 Uhr.“

Zunächst einmal lockt ein örtlicher Kartoffelsack; auch als Gasthaus und Pension bekannt, in der sich wallendes Servicepersonal wie bei Madame Tussaud aufführt. Doktoren staunen nicht schlecht; eine Mittvierzigerin posiert mit einem Strauß Erika in der Art von Michelangelos Fresken, rückt dann aber doch die Zimmerschlüssel raus, gönnt Makarios und Pichelstein Zwischendusche, Kurzruhe und Schickmache vorm 167. Konzert der Historie. Einige Augenaufschläge später spricht der Konzertverantwortliche im Bus bereits navigierende Worte; das Uniwerk öffnet den Hinterhof und alles sieht so aus, als wäre man in Prag, als würde Franz Kafka gleich stockschwenkend zum Schnapse eilen. Groß ist die Bar, lang dauert der Soundcheck nicht. Im Backstage stapelt sich belegtes Gebäck, heiß begehrt auch von zwei sehr jungen Pirnaerinnen. Doktoren geben gerne ab. Der Bus steht zu diesem Zeitpunkt mit angezogener Handpedalbremse auf einem nassen Kopfsteinberg, dem einzigen freien Parkplatz der Altstadt, schräg gegenüber einer Polizeistation. Doktor Pichelsteins Sorgen, da jemals wieder heile runterzukommen, ertränken sich mit Wodka und tschechischem Gerstensaft. Das philosophische Leben im Hier und Jetzt genügt als Affirmation unter solchen Umständen, also: „Prost, Doktor Schnittecht - hinein, auf die allerfeinste, frisch gestanzte Die-Art-LP“.

Zwei Intros, 35 Pratajev-Weisen, zwei Ersatz-Saiten auf zwei Erlenholzgitarren, eine Pause, ungefähr 5-10 Zugaben, eine gefühlte Flasche Wodka (eingeteilt in Saftglasmengen), eine Flasche Cola, darunter eine Handvoll verkaufter Halbgötter-CDs und sehr viele wundgeklatschte Hände errechnen die Bilanz des weiteren Abends. Nicht zu vergessen: Ein Gäste-Pullover, unbrauchbar, weil angespieen. Ein Gäste-Sturz, nicht so schlimm, weil wieder aufgestanden. Schnapsbarpersonal, hält sich geschlossen am Tresen fest, Kühlschrank leer, weil ausgetrunken. Schafft es doch noch auf ein paar Beck’s in den Keller, während im Discosound die Lichter lila schimmern und zwei Musikerinnen, die eine spielt Blockflöte, die andere Cello, Doktoren zeigen, wie sich Hüften schwingen lassen. Auf dem Tanzparkett im Uniwerk zu Pirna. Doktor Pichelstein bettet das Haupt aufs Sofaeck und lässt sich gerne darauf ein, das letzte grüne Nachtfläschchen einfach stehen zu lassen. Für eine kurzkuschelige Nacht im Kartoffensack um die Ecke.

Wenige Stunden später ist das Hier und Jetzt ein entschieden anderes. Kurz vor Frühstücksschluss reicht es gerade noch für Restbestände. Und kaum dafür, den mittlerweile auch noch eingekeilten Bus aus schwieriger Lage geschickt zu befreien. Während draußen der Regen an die beschlagenen Scheiben zimmert, hocken Elend und Pichelstein gemeinsam in der Fahrerkabine und warten auf ein Wunder. Schräg gegenüber der Polizeistation. Nur nicht auffallen an diesem Samstagmorgen. Doch, so wie es die Toten Hosen seit Jahren singen: „Es kommt die Zeit, in der das Wünschen wieder hilft (…)“, oder anders: „Die Saale wieder steigt“, geschieht es. Die Tür des anliegenden „TÜV – Betriebsärztlicher Dienst“ öffnet sich. Eine weniger junge Krankenschwester rutscht ihren Kombi zur Seite und der Rückrollschrägweg ist frei. Die Bremse bockt, der Kopfstein knirscht, leicht kippelt’s, die Räder drehen durch; am Uniwerk wird die Backline verladen und Doktor Pichelsteins Verabschiedung gleicht einer wachsweichen Erleichterung.

08. November 2008, Chemnitz / difranco
Herr B. aus C. wird rund (168)

Ausgezeichnet. In Chemnitz scheint die Sonne, der FC spielt im Stadion um die ritterliche Pensionsecke, beide Doktoren erhalten Frühbucherrabatt und schicken sich an, in diesem Sinne zu ruhen. Es ist mittlerer Nachmittag, ein Wartburg knattert draußen vorbei. Doktor Pichelstein wird sanft belehrt, dass diese Autos zu DDR-Zeiten fast ausschließlich für Parteifunktionäre gebaut wurden. 20 Jahren später trägt die am Steuer sitzende Funktionärsbraut deutliche Spuren von Fettlebe mit sich; auf dem Rücksitz ringen drei Michelin-Männchen-Kinder nach Luft und auf dem Beifahrersitz thront ein Norma-Samstagseinkauf. Chipstüte nach oben.

So wird geruht, die Eröffnungswoche eines neuen Döners an der Hainstraße genutzt, jede Menge Ayran auf den toten Katzenkater gekippt, auf MDR-Info läuft die Bundesliga. Mit dem Abpfiff des Spieltages beginnt der Anpfiff für die Doktoren. Rein in die Schuhe, die Mäntel, in den Bus. Im difranco scheint bereits Kerzenlicht, wartet ein Haufen feinster Anschlussneigetechnik und die fehlenden Teile werden prompt aus dem Subway to Peter geliefert. Denn: Herr B. aus C. wird rund, so das interne Motto. Obwohl der 40. Geburtstag schon ein paar Erdumdrehungen her ist. 

Der Soundcheck gelingt; das Buffet wird hochgrazilen Schachverstandes angezehrt, Gäste tröpfeln ein, ganze Reisegruppen sind darunter. Die Kellnerin läuft sich heiß. Und dann kommt sie aus der Küche, die Suppe. Wie sehr sehnte man sich in den letzten Tagen nach Suppe. Jenes Bindemittel, wie beziehungseifriger Sex wirkend, dampfend, köstlich, grün sogar. Noch ein Nachschlag und ein Echolob auf diese Suppe. „Im November muss es Suppe sein, im Dezember dann ein Schwein“, soll S.W. Pratajev einmal gesagt haben. Was Suppe betrifft, irrt Murphys Law gewaltig. Denn: Suppe ist, wie sie sein soll. Da gibt es kein Vertun.

Das Konzert beginnt mit einem Wunschreigen für beide anwesenden Nachwuchskünstler. Wobei nicht ausgelassen werden darf, dass der Erbe des Herrn B. aus C. sich „Gefesselt“ wünscht. „Nun gut“, spricht Doktor Makarios ins Mikro, „aber nicht weitersagen“. Eigentlich müsste die nächste CD der Doktoren eine Kinderliederplatte werden, mal schauen. Wo selbst neulich in der 9. Leipziger Grundschule das Stück „Biber“ Teil des Musikunterrichtes wurde und nun für eine Aulavorführung den Eltern vorgesungen werden soll. Neben Klassikern wie „Let it be“ und vermutlich „Suck my dick“ von Lil’ Kim. 

Reich werden die Doktoren in den knappen Songpausen mit Schnaps beschenkt, nur sind die Gläser dieses Abends gottseidank etwas kleiner. Es wird geschluckt und gesungen, leicht getanzt und geschwungen. Die Pause kommt, am Tresen sagt die Klosterfrau aus Großenhain nur noch: „Ich lauf jetzt nach Hause“, was die restliche Reisegruppe der Gegend ein wenig besorgt zur Kenntnis nimmt. Sei’s drum – das zweite Set startet mit neuem Intro, die Bühnen-Anrainer horchen auf bis zum Schluss, den Missen aus Bautzen, Chemnitz, Frankenberg usw schlottern bald die Kniee. Eine heftig’ E-Gitarre spielt den „Wanderer“, das ARTige „Heimatlied“, „Sie sagte“ – allenthalben zagt es zunächst, dann werden die Zugaberufe lauter und auch wenn die Saiten auf den pichelsteinschen Gitarren heute nicht reißen, liegt das vermutlich nur an der guten Importware der Firma Musikhaus thomann. Kräftiges Durchjubeln ist die nachhallende Folge, dann wird nur noch gesessen, was gut ist, was sehr gut ist an diesem Tag, der nicht nur in seiner Suppenspeisung Höhepunkte erfuhr. Dafür, und für alles andere, gilt der Dank Herrn B. aus C. Seit heute ist er zudem Ehrenmitglied der Pratajev-Gesellschaft auf Lebenszeit.          





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