16. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Im März letzten Jahres entstanden im Midas-Studio, in Leipzigs Stadtteil Plagwitz, erste Heimatlieder, die später zur Platte „Heimatlieder für Heimatlose 2“ gekürt wurden. Russische Doktoren schrieben damit Geschichte, so viel ist aus heutiger Sicht kolossal klar. Und was Darwin, Rousseau oder Schopenhauer vor langbärtiger Zeit in der Musik als „leidenschaftliches Sprechen“ oder „kollektiven Arbeitsrhythmus ausmachten, wird im Februar 2004 fortgesetzt. Im Midas-Tonstudio, in dem alles zu gold gemacht wird, was nicht bei drei auf der Traverse ist.
Impressario Veit Kirsch begrüßt um 18 Uhr die Doktoren mit küchenpsychologischem Handschlag. In den nächsten Tagen und Nächten liegt es an ihm, Pratajevs Werk ad extremum zu führen. Mit kompositorischer Strenge wurde das Songmaterial in den letzten Tagen bearbeitet. Der Masterplan muss aufgehen. Ein Satz, süß wie Leipziger Kräppelchen. Bis zum Backlash um 0:00 erschallen die Gitarren, von denen man wie eh und je nicht weiß, wer da wen spielt. Die Gitarren den Doktor Pichelstein oder umgekehrt. Während Doktor Makarios erste Stimmen und Gruftrufe einsingt, dass der umstehenden Vitacola ehrfürchtig die Kohlensäure entrinnt.
17. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Einen Orientierungssinn kann man Doktor Pichelstein im Punkto Autofahrt nun wirklich nicht nachsagen. Gesperrte Straßen, die es in Leipzig derweil zu Hauf gibt, führen den Golf zunächst in die Irre, und das obwohl Doktor Makarios verkehrsordinarisch den Überblick behält. So schallt es: „Links, links, wir müssen nach links“ in Richtung Lenkrad, doch Doktor Pichelstein lenkt gefühlig nach rechts. Eine halbe Ewigkeit kostet diese ungebremste Bewunderung der Industrieruine Plagwitz. Doch auch Mischer Veit, den man sich als typisch geniales Kellerkind verstellen darf, zu dessen Accessoires niemals Kalender und Uhr gehören, überzieht die Stunde der Marx’schen Utopie: Jedem nach seinen Bedürfnissen.
Letzte Grundspuren werden gitarristisch verlegt, Doktor Makarios singt famos wie Pratajevs Lesart es zu dichten vermochte. Die Midas-Enkalve wird zum leidenschaftlichen, ja eloquenten Dom. Kurz vor 23 Uhr reicht es; Regenschauer müssen draußen herunter gekommen sein. Nirgends bellt noch ein hungriger Künstlerateliershund, denn Industrieruinen-Umfeld ist in überschätzter Irrenhand. Was will man von einem alten Fabrikgelände auch anderes erwarten? Für die einzig wahre Pratajev-Kultur muss der Protagonist eben erst ins goldverwandelnde Kellergewölbe gelangen.
18. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Das Schattenvolk der Phryger, dessen Sagenkönig Midas einst war, verstand es um ca. 700 vor Chr. gut und gerne zu leben, liebte die Ausschweifung und aß an dreibeinigen Tischen den Leichenschmaus. Etwa 2700 Jahre später öffnet Doktor Pichelstein im Midas-Tonstudio den goldigen Kühlschrank und fällt um. Giftig konservierte Milchdämpfe - einer von Robert Baldowski um 720 vor Chr. gemolkenen Feldziege - hauchen jedes Leben aus. Doktor Makarios gelingt es durch schnelles Rauchen mindestens dreier Zigaretten auf einmal, seinen Gitarrengoldfinger Pichelstein wieder ans Leben unter gesunder Luft zu gewöhnen. Benommen geht es in den Aufnahmeraum, den „Veterinären aus Murmansk“ weitere wohlige Klangkörper einzuverleiben.
Thomas Gumprecht und Conne aus Weimar zu Wissmut spielen bis tief in die Nacht Takes ein. Mischer Veit the Kirsch, immer bemüht, auch ja die glücklichste Bewältigung der Obsession seiner Opfer hinter der Sichtscheibe heraus zu graben, erfindet dafür Sätze wie: „Da waren aber noch „Zischlautabnormalitäten“ in der Tonspur.“ Oder: „Deine Spur klappert äußerst unbehaglich“, worauf Bassist Conne sich auf das Wesentliche seines Tun beruft: „Bass ist Bass.“
Noch immer konnte sich Veit the Kirsch nicht dazu durchringen, eine Urinente neben die Hightech-Thronmischung zu platzieren. Völlig unverständlich, wie Doktor Makarios findet. Auch Doktor Pichelstein bemängelt die Zeitschindung einer Blasenentleerung mittels Korridorfußweg bis zur Keramik und zurück. Denn: Aufnahmeleiter sollten ihren Arbeitsplatz bestenfalls gar nicht verlassen.
Anmerkung des Makarios:
Vergessen wollen wir nicht, dass dieser Mittwoch uns viele liebe Gäste in das sagenumwobene Gewölbe führte. Zwei Hunde, einen Tourbegleiter und Videokünstler Namens Stev, einen künftigen Wissmut-Groover und (ach der Glückliche) Schatz des Wissmut-Cover-Girls Michi, Namens Shiva, ein sehr dunkelhaariges und heimatliedererfahrenes Mädchen Namens Tina (ja ja, „Die Schöne Welt“) und einen der bewundernswertesten Fotokünstler und Lichtmaler, den das Alte Europa hervorgebracht hat, Namens Jörg. Letzterer wird uns allen zur uneingeschränkten Freude das Album der Russian Doctors fotografisch aufwerten, und wenn man weiß, was für schöne Arbeiten unter www.art-of-visions.de zu sehen sind, weiß man auch, dass uns ein an Pracht und Noblesse nicht zu überbietendes Werk erwartet. The Russian Doctors wissen, dass nur das Beste gut genug ist.
19. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Nach drei Abenden und Nächten Studio regiert ein gewisser Tunnelblick die Arbeitenden im Kellergewölbe. Der seitliche Zeitplan ist nicht ganz einzuhalten, doch man hat das Ziel vor Augen, nur wunderschön muss es werden, da sind sich die Beteiligten einig. Heute wird Doktor Pichelstein hart ran genommen. Sieben Stunden Gitarren im Aufnahmeraum am Stück, die nur mit würdiger Zähigkeit eines arktischen Pinguins zu meistern sind, der lediglich mit einem Zungenpelz bekleidet dem Eise trotzt.
Gitarristen sind im Grunde ihres Tuns Menschen, die immer „Ich“ sagen, wobei dieses Ich große Bedrohung für den Rest der musischen Umgebung beinhaltet. Man muss sie zügeln und loben und sanft am Schlawittchen packen, wenn es nicht anders geht. Doktor Pichelstein ist da natürlich völlig anders. So gelingt die zoologische Versitzplatzung vor der Scheibe des Mischraumes im Midas-Studio zur willfährigen Prognose. Abgerechnet wird bekanntlich erst beim Mischen und Mastern der Songs in genau vier Tagen.
Doktor Makarios verlässt gegen 19:45 das Studio für einskommafünf Stunden dienstlich gen Moritzbastei; Stev St. Pauli begleitet ihn zur Preisverleihung an aufstrebende Nachwuchskünstler. Mischer Veit betreibt das Reglerkartell kleiner Schnitte, die Empore des Titelsongs der Heimatlieder III-CD „Gefesselt“ erhält gefühlige Gitarrensoli. Der eher akustisch geplante Track „Biber“ wird zur Punkhymne. Und genau so stellt man sich das Szenario bereits während eines Auftritts in Leipzigs Agitprop Korrektzentrum „Conne Island“ vor: „Der nächste Song ist gegen Biber!“
Gitarristen haben autodidaktische Ideen- oder meinetwegen Vorbilder. Lange bevor Doktor Pichelstein auf Thomas Gumprecht traf, schlug sich die erhörte Beigeisterung im Kauf eines Chorus-Effektgerätes früh nieder. So erhält der Song „Schleim am Arm“ beispielsweise einen Hauch der letzten DIE ART-Platte „Last“ mit auf den Weg in Veits Mischung.
Um ein Uhr in der Nacht enden die Aufnahmen, alle Gitarren sind gespielt. Stev und Doktor Pichelstein trollen sich in großer Nibelungentreue ins Puschkin und kippen Cocktails, belgisches Kirsch- resp. Köstritzerschwarzbier und je einen Zungenpelzwhisky. Weil es draußen an der Luft eines Fellmantels bedarf oder zumindest der Würde eines Pinguins.
23. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Elfenhaft turnen sehr junge Schwesternschülerinnen durchs Studio; die Tracks „Ich könnte ja, doch ich will es nicht“ und „Biber“ emanzipieren sich nach dem Lex Pratajev zur streng gelüstvollen Zeremonie. Stevs Kamera gerät in Schräglage, Veits Mischapparaturen verpartnern die Choräle mit Doktor Makarios Stimmgemarkung zu Jubelnummern. Sekt wird getrunken, bis tief nachts im Musik-U-Boot Midas die Lichter erlöschen. Bleibt noch ein letzter Studiotag, dann ist es vollbracht. Das enge Zeitkorsett schnürt, doch genügend Luft bleibt, um auch ja jede Poesie, jeden Glanz, jedes Enfant Sensible aus den einzelnen Songs herausspringen zu lassen.
24. Februar 2004 / Midas-Tonstudio
Wie gerne man auch ins Studio geht, um lang gespielte Songs in raspeldünne Tonträgerrillen zu pressen, damit neue entstehen können - irgendwann kollern alle beteiligten Extremisten dem edlen Finis, dem Licht am Ende des Tunnels von Dürrenmatt entgegen. Abgelenkt von einigen Trial-and-Error-Computerabstürzen der Langmutmarke Midas schiebt sich die Verleihung des Goldenen Betonmischers an Veit the Kirsch bis in frühe Morgenstunden hin. Die Heimatlieder III-CD ist - lange nachdem die Nacht vom Himmel fiel - im Schmuckkasten. Ebenso weite Teile der widerveröffentlichten Heimatlieder I. Besuchsgrafiker Michael Blümel, Leipzigs Meister gordischer Strichknotenbilder, staunt nicht schlecht.
Hinzugemastert werden in den nächsten Tagen Livesongs der Secret-Roxanne-Sessions zu Weimar. Großes wurde in den letzten Tagen vollbracht; nun liegt es am Mischermann, wann die beiden Werke im UpArt-Büro wieder anzuhören sind. Erst einmal reicht es den Herren Doktoren. Zwischen geduckten Wohnhäusern, aus denen erste Bäcker Richtung Teig springen, gibt man sich ergeben die Hand.
Wenige Stunden später klingelt Doktor Pichelsteins Wecker. Ab 9:00 Uhr droht Visite in der Praxis für Lungenschizophrenie, die Surfgitarren auf „Schnaps und Weiber“ lebwohlen im Ohr. „Ein großer Baum frisst viel Wind“, sagt das jiddisch-russische Sprichwort, „heult wie ein Schwein, quiekt wie ein Wolf.“





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