24. Januar 2004, Cottbus/Bühne 8
Lehnen Sie sich
nicht an den Faltbalg/Jena, fahren Sie lieber nach Cottbus/Sibirien
Das Übernachten in gesponserten Hotels hat einen winzigen
Nachteil. Dauernd muss um spätestens 10:00 in aller Fetischfrüh aufgestanden
werden. Ab 11:00 gibt es im Speisesaal zumeist kein Frühstück mehr. Und wer
will das schon. Ein Mobiltelefon sorgt für den nötigen Augenöffnerdrill; kurze
Zeit später gibt es gebratenen Speck an Rührei, Lachsröllchen und all das, was
ein Hotelleben mit dem Hang zum Personal auf Reisen eben ausmacht. Sitzt man
vor diesen Köstlichkeiten, ist die Freude groß. Erinnerungen werden wach von
Rastgelagen in überfüllten Backstageräumen, gewürzt mit Hundgeruch und
kristallisiertem Urinstein. Den Mantel wagt man nicht auszuziehen, aus Angst am
Morgen danach einen Hautarzt konsultieren zu müssen.
Die von einem Schelm von Werbetexter gestaltete
Begriffsumsetzung „JeNAH-Verkehr“ bringt die Heimatliederreisenden dem Tourauto
ein großes Stück näher. Im Vorfeld gibt es die ein oder andere Verwunderung
darüber, wie jener Schienenverkehr seine Reisenden überhaupt ans Ziel bringen
kann, wenn jeweils kurz vor der Abfahrt - aus einer kleinen Teufelei heraus -
die Linie 3 zur 4 wird und umgekehrt. Weiterhin darf angemerkt werden: In den
Jenaer S-Bahnen ist es sehr verboten, sich an den „Faltbalg“ zu lehnen. Was
aber ist ein Faltbalg? Ein gebückter, alter Mann, gezeichnet von der
Alzheimer-Krankheit? Oder ist ein Faltbalg das runzelige Frühgeborene einer
hoffnungslosen Alkoholikerin aus Jena-Lobeda?
Die Fliehenden Stürme singen „Ich hab all meine Gläser
zerschlagen / Jetzt trink ich aus der Flasche“. Eine gute, eine
Teehaus-Protnik-Lösung, wie sie im Buche steht. Der Mp3-Tonträger läuft seit
gestern zum zwölften Mal. Zur Landschaft in und um Cottbus passt das Stück
„Schneetreiben“, denn die Lausitz wird nicht nur an diesem Tag eiskalt von der
Zunge Sibiriens geschleckt. Im Winter hat der Cottbusser draußen nichts zu
lachen; jedes schiefe Grinsen gefriert ihm zur endlosen Lippenstarre. Ein
sicherlich verwandtes Phänomen des „Verzerrten Mundes“ aus den Medizinischen
Schriften Pratajevs.
Laut Vertrag sollen die Russischen Doktoren ab 17 Uhr in
der Bühne 8, einem von Studenten betriebenen Theaterkeller in der Jamlitzer
Straße 9, zum Soundcheck erscheinen. So spät ist es noch nicht; Fahrer Stev
bugsiert den Nissan in Stadtnähe, eine wärmende Gaststätte steht im
Wunschranking ganz oben. Der Cottbusser Altmarkt gleicht dem Städtchen
Wladiwostok in allen Belangen. Nach kurzer, aber entschlossener Suche, füllt
Kellnerin Daniela im „Mosquito“ schaumigen Café latte in Tassenportionen ab und
deckelt den Reisehunger der Gäste an Tisch 8,0 mit vollen Lamm- und
Hühnertellern.
Um 17 Uhr ist niemand an der Bühne 8. In den
Eingangsbereich eines Studentenwohnheims haben sich Doktor Makarios, Doktor
Pichelstein nebst Stev geflüchtet. Starr vor Kälte, Blaupausen schmauchend, bis
gefühlte drei aspatolinsker Kalenderjahre später, erstes Clubpersonal am
dunklen Abendfirnis auftaucht. Sofort werden den unschuldig Ankommenden
Zehenprothesen mit kaukasisch ornamentierten Nägeln aus Silber in Rechnung
gestellt. Heißgetränke folgen, Leben wird gegeben.
Der Versuch eines Soundchecks verschiebt sich in
studentischer Weile arg nach hinten. Die vertraglich zugesicherte Technik ist
nicht einmal im Ansatz vorhanden. Doktor Pichelstein erklärt den
Verantwortlichen in aller Ruhe die Vorzüge eines Mischpultes, zweier
Frontboxen, einiger Kabel, dreier Mikrofone nebst Ständern usw. „Aber wenn wir
Theater spielen, brauchen wir das doch auch nicht“, entgegnet ein irritierter
Student mit Brille, worauf Doktor Makarios seinem Highspeed-Gitarristen zur
Beruhigung ein Lächeln aus Johanneskräutern und Bachblütenextrakt einschenkt.
Es wirkt. Und außerdem wäre Cottbus nicht Cottbus, wenn sich nicht alles zum
Guten wenden würde. Zwischen 19 Uhr und 21 Uhr spielen sich pannenreiche Szenen
großen Fleißes, aufmunternden Kabaretts und großer russischer Tragödie ab in
jener Bühne 8, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden können.
Nur so viel sei noch gesagt: Eine wunderschöne
Pratajev-Inszenierung mit 2,5-stündiger Laufzeit, allen Hits und einigen
Buchanekdoten konnte vor vollem Haus zum Vortrag gebracht werden. Titel wie
„Als das Eis kam“ oder „Harte Wirtin“ brannten wie Feuer und ließen die kalte
Zunge Sibiriens für einige Stunden vergessen. Zeugnisse frenetischer
Beifallsorgien schlossen sich an und später, im „Hotel Am Theater“ genas Doktor
Pichelstein noch einen Spreewälder Schnaps aus der kontrolliert geplünderten
Minibar, bevor die Seligkeit den Schlaf herbeiführte und die letzte, sehr junge
Studentin sich auf den Weg nach Hause befahl.
No comments:
Post a Comment