Saturday, September 02, 2006

Theater in Cottbus

24. Januar 2004, Cottbus/Bühne 8
Lehnen Sie sich nicht an den Faltbalg/Jena, fahren Sie lieber nach Cottbus/Sibirien 

Das Übernachten in gesponserten Hotels hat einen winzigen Nachteil. Dauernd muss um spätestens 10:00 in aller Fetischfrüh aufgestanden werden. Ab 11:00 gibt es im Speisesaal zumeist kein Frühstück mehr. Und wer will das schon. Ein Mobiltelefon sorgt für den nötigen Augenöffnerdrill; kurze Zeit später gibt es gebratenen Speck an Rührei, Lachsröllchen und all das, was ein Hotelleben mit dem Hang zum Personal auf Reisen eben ausmacht. Sitzt man vor diesen Köstlichkeiten, ist die Freude groß. Erinnerungen werden wach von Rastgelagen in überfüllten Backstageräumen, gewürzt mit Hundgeruch und kristallisiertem Urinstein. Den Mantel wagt man nicht auszuziehen, aus Angst am Morgen danach einen Hautarzt konsultieren zu müssen.

Die von einem Schelm von Werbetexter gestaltete Begriffsumsetzung „JeNAH-Verkehr“ bringt die Heimatliederreisenden dem Tourauto ein großes Stück näher. Im Vorfeld gibt es die ein oder andere Verwunderung darüber, wie jener Schienenverkehr seine Reisenden überhaupt ans Ziel bringen kann, wenn jeweils kurz vor der Abfahrt - aus einer kleinen Teufelei heraus - die Linie 3 zur 4 wird und umgekehrt. Weiterhin darf angemerkt werden: In den Jenaer S-Bahnen ist es sehr verboten, sich an den „Faltbalg“ zu lehnen. Was aber ist ein Faltbalg? Ein gebückter, alter Mann, gezeichnet von der Alzheimer-Krankheit? Oder ist ein Faltbalg das runzelige Frühgeborene einer hoffnungslosen Alkoholikerin aus Jena-Lobeda?

Die Fliehenden Stürme singen „Ich hab all meine Gläser zerschlagen / Jetzt trink ich aus der Flasche“. Eine gute, eine Teehaus-Protnik-Lösung, wie sie im Buche steht. Der Mp3-Tonträger läuft seit gestern zum zwölften Mal. Zur Landschaft in und um Cottbus passt das Stück „Schneetreiben“, denn die Lausitz wird nicht nur an diesem Tag eiskalt von der Zunge Sibiriens geschleckt. Im Winter hat der Cottbusser draußen nichts zu lachen; jedes schiefe Grinsen gefriert ihm zur endlosen Lippenstarre. Ein sicherlich verwandtes Phänomen des „Verzerrten Mundes“ aus den Medizinischen Schriften Pratajevs.

Laut Vertrag sollen die Russischen Doktoren ab 17 Uhr in der Bühne 8, einem von Studenten betriebenen Theaterkeller in der Jamlitzer Straße 9, zum Soundcheck erscheinen. So spät ist es noch nicht; Fahrer Stev bugsiert den Nissan in Stadtnähe, eine wärmende Gaststätte steht im Wunschranking ganz oben. Der Cottbusser Altmarkt gleicht dem Städtchen Wladiwostok in allen Belangen. Nach kurzer, aber entschlossener Suche, füllt Kellnerin Daniela im „Mosquito“ schaumigen Café latte in Tassenportionen ab und deckelt den Reisehunger der Gäste an Tisch 8,0 mit vollen Lamm- und Hühnertellern.

Um 17 Uhr ist niemand an der Bühne 8. In den Eingangsbereich eines Studentenwohnheims haben sich Doktor Makarios, Doktor Pichelstein nebst Stev geflüchtet. Starr vor Kälte, Blaupausen schmauchend, bis gefühlte drei aspatolinsker Kalenderjahre später, erstes Clubpersonal am dunklen Abendfirnis auftaucht. Sofort werden den unschuldig Ankommenden Zehenprothesen mit kaukasisch ornamentierten Nägeln aus Silber in Rechnung gestellt. Heißgetränke folgen, Leben wird gegeben.

Der Versuch eines Soundchecks verschiebt sich in studentischer Weile arg nach hinten. Die vertraglich zugesicherte Technik ist nicht einmal im Ansatz vorhanden. Doktor Pichelstein erklärt den Verantwortlichen in aller Ruhe die Vorzüge eines Mischpultes, zweier Frontboxen, einiger Kabel, dreier Mikrofone nebst Ständern usw. „Aber wenn wir Theater spielen, brauchen wir das doch auch nicht“, entgegnet ein irritierter Student mit Brille, worauf Doktor Makarios seinem Highspeed-Gitarristen zur Beruhigung ein Lächeln aus Johanneskräutern und Bachblütenextrakt einschenkt. Es wirkt. Und außerdem wäre Cottbus nicht Cottbus, wenn sich nicht alles zum Guten wenden würde. Zwischen 19 Uhr und 21 Uhr spielen sich pannenreiche Szenen großen Fleißes, aufmunternden Kabaretts und großer russischer Tragödie ab in jener Bühne 8, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden können.

Nur so viel sei noch gesagt: Eine wunderschöne Pratajev-Inszenierung mit 2,5-stündiger Laufzeit, allen Hits und einigen Buchanekdoten konnte vor vollem Haus zum Vortrag gebracht werden. Titel wie „Als das Eis kam“ oder „Harte Wirtin“ brannten wie Feuer und ließen die kalte Zunge Sibiriens für einige Stunden vergessen. Zeugnisse frenetischer Beifallsorgien schlossen sich an und später, im „Hotel Am Theater“ genas Doktor Pichelstein noch einen Spreewälder Schnaps aus der kontrolliert geplünderten Minibar, bevor die Seligkeit den Schlaf herbeiführte und die letzte, sehr junge Studentin sich auf den Weg nach Hause befahl.



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