Saturday, September 02, 2006

Seltsames Thüringen

16.Oktober 2003 - Erfurt/Engelsburg

Vier Konzerte am Thüringer Stück. "Na dann wollen wir mal, " sagt ein russischer Doktor zum Anderen. Die mit insgesamt vier Gitarren - nebst weiterem LineUpArt - überladene rote Karosse schiebt sich durch den Abendverkehr zur Autobahn. Der Herbsthimmel blendet gülden durch schmutzige Scheiben hinein, Makarios erholt sich von unrühmlichen Klängen aus dem Proberaum neben seinem Büro und schmaucht steuerlose polnische Prinzen aus Dänemark. Pichelstein spricht seinem alten "F6-Bitte-Song" aus dem Jahr 1996 zu, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Bezeichnung "F6" im Psychiatriegenre der ICD-Krankheiten unter den Mantel der "Persönlichkeitsstörungen" fällt.

Thüringen, ein weiterer Landstrich aus dem Schwarzbuch der Autofahrerei, ist nicht nur als Sterntalererlebnis für Kulturbeflissene wahrzunehmen. Nein, mitten im Nirgendwo, außerhalb der großen Städte, vegetieren Menschen, resistent gegen progressiven Lifestile, umspült von Gebirgen, Pyramidenbergen und Schlössern, Zuckerrüben- und Weinanbau. Im Oktober scheint überall Kirmes zu sein. Bettlaken hat man aufgespannt, Strohballenpuppen mit Mohrrübennasen und Bierdeckelaugen lungern am Kopfsteinpflasterrand auf schäbigen Sofas herum und halten mit verschmierter Fingerfarbe bemalte Laken fest umschlungen. Kirmes. Ein Konsens-Overkill der Superlative. 




Erfurt wird erreicht, das malerische, einstmals fliegerbombenverschonte Hauptstädtchen des Landes. Durch schmale Einbahngassen in verkehrter Richtung sucht sich der Heimatliedertross sein Ziel, die Engelsburg, den heutigen Auftrittsort. In Erfurt geht es - nicht nur mental - ähnlich zu wie im niedersächsischen Braunschweig. Wirft man ein Kaugummi auf die Straße, eine Zigarettenkippe hinterher, verrichtet der Gassihund im Stadtgebiet das, was er muss, leert man dann noch einen Aschenbecher darauf aus, liegt man in naher Zukunft mit 300 € im Ordnungsstrafensoll. Schon jetzt schicken sich ABM-Kräfte an, Drecksündern rote Karten zu zeigen. An jeder Straßenecke greifen Schilder der Marke "Erfurt soll sauber bleiben" den gesunden Menschenverstand heftig an. Wenn man weiß, was aus Braunschweig in den letzten Jahren wurde, ahnt man Schlimmes und wendet sich knallhartem Alkoholismus zu. Pratajev schrieb einst folgende, von Makarios und Pichelstein vertonte Gedichtzeilen: "Und hoffentlich muss ich nicht brechen / Das könnte sich / Wenn es die Mädchen sehen / Ganz bitterböse rächen". Und wer darum wohl in Zukunft ins Erfurter Wohnzimmer hinein bricht / Dem wird sicher noch anderes gebrochen / Wenn die ABM-Kraft hat's gerochen.




Doch nun zum eigentlichen Abend. Die Bühne steht, der Sound verblüfft, in der Engelsburgkneipe hatte man vorher große Stärkung erfahren, Natascha vom Starken Freund mit solchem widmet sich den Künstlern, Herr Nüchterlein glänzt durch frohe Anwesenheit, Kautsch-Moderator André Kudernatsch tut es ihm gleich. Publikum steht herum und trinkt. Gut so. Buntes Bühnenlicht hoher Traversen macht es allerdings unsichtbar. Auf Makarios' Frage: "Ist noch jemand da?" schallt es froh und klatschend und johlend zurück. Das Set dauert lange, sehr lange, im Schweiße der scheinenden Werfer werden Traditionen erhalten. Zum Beispiele diese: Immer dann, wenn der Starke Freund anwesend ist, zerstören sich prumskieske Gitarren wie von selbst. Eine nach der anderen. Bis Makarios, Pichelstein und Kudernatsch sicheren Fußes die Bar des Museumskellers um dreizehn Ecken hinabsteigen, sich eines Tisches bemächtigen, der lange nicht verlassen wird. 

Am Ende ist es die vierzehnte Ecke, mit der Kudernatsch draußen an frischer Herbstluft kollidiert und bis zur Pension Spittelgartenstraße 6 läuft ein Erfurter Taxameter auf Hochtouren.

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