…während der Mittag danach mit verzerrten olympischen Augenringen beginnt. Pfarrer Mikus sorgt für reibungslosen Transport des operationsfreudigen Doktorenequipments. Die Filmtechnik liegt in vertrauten Händen von Sir Ralf Esche und Tourmanager Stev. Der akkurat geführte Künstlerhof Ostermeyer, umringt von Friedhofsgräbern, wird andächtig durchschritten. Wie kurz kann doch manch hektisch Leben sein. Doch heute, am Tag des 3. Pratajev-Sommerfestes, ist man frei von jeder Hast, hat Zeit und Muße der dörflichen Ruhe am Samstagnachmittag zu lauschen. Michael Mikus baut hölzerne, alternative Kunst in der Dorfkirche auf, die abendeinlädt zum Konzert der gestern noch fiebrig Feiernden. Der Soundcheck klappt entwaffnend. Dort, wo justament sich Mann und Frau das Jawort gaben, wo leicht welke Streublumen sich an Schuhsohlen laben, wo Kerzenschein zum Lichte quillt, nun ein wohlig Pratajevlied die Stille killt. Weihrauch fein umschwirrt Gitarren, schöner noch als russische Zigarren (…)
Sehr Gutes schwant ebenso beim Blick ins rittergütige Landschulheim, der Schola Oecologica, von Dreiskau-Muckern. Herr und Frau Doktor Pichelstein werden mit weiteren Gästinnen in geräumigen "Behinderteneinheiten" untergebracht. Diese Schmetterlingszimmer verfügen über riesige Betten nebst Waschraum, in dem nur nicht der rote Knopf am Elefantenklogitter gedrückt werden darf. Durch das so ausgelöste "Hupsignal", wie es die Anweisung gelbschwarz verrät, würden die Gäste aus dem Nachbaretablissement geweckt werden. Da es sich bei jenem Kamillezimmer 11 um das der Herren Shöenfelt und Cingl handelt, ließ man es auch viel später bleiben.
Der Drachenbootfanclub Dresden, unterwandert von Frau Doktor Pichelstein, bereitete sich daheim mit verwegenen Kosakenschnittchen aus Schmalzspeck an Wodka-Knoblauch aufs Sommerfest vor, verteilt die Leckereien nun sehr russisch gewandet despektierlich weiter an jeden neuen angereisten Gast. Kolchosnik Jörg versucht sich während der Überflussverteilung des frischen Raketa-Knoblauchs in der wieder entdeckten Kunst der Wrangler-Armee-Rekrutierung.
Zu viele sind es; rasch gehen vor allem Speck und Wodka zur Neige. Wolken am Himmel werden mit Gruftrufen vertrieben, die grauweißen Himmelsdiversanten verziehen sich ohne Guss. Fanclubvorsitzende Sandra Natascha lässt Doktor Pichelstein drei Hauptgewinne aus dem letzten Gewinnspiel des Starken Freundes ziehen, bevor die Katzenfellhutträgerin zum Aufbau des Merchstandes schreitet. Und irgendwann gegen später, als noch Hamburger, Münsteraner und weitere Gäste in Wohnmobilen, Biberfängerautos und Fahrrädern das Gelände erreichen, beginnt das Konzert mit Phil und Pavel in der Dorfheiligkeit. Im trunkenen Kirchenschiff bei Kerzenschein; vorm Altar leuchtet violetgrüner Schimmer zur Retrogeschichte in akustischer Musik um Phil Shöenfelts "Dead Flowers for Alice".
Die "Fesselnde Klage über das harsche Weib", wie die LVZ heuer auf Seite 19 zur frischen Doctors CD titelt, steht als zweiter Punkt der pratajevschen Abendentwaffnung bevor. Doktor Pichelstein lockt die pausend Rauchenden mit einigen Detailakkorden in die Kirche zurück; Doktor Makarios hält Bühnenwache am Taufbecken. Es folgt das, was zu erwarten ist: Ein perfektes Konzert voller Liebe ins pratajevsche Detail, voller russischer Tragödien, ohne laute E-Gitarren, goutiert mit großem Applaus und als bereits alles zu Ende sein scheint, betritt zum Höhepunkt Frau Doktor Pichelstein als Rotarmistin die Gralsstätte und singt ihn zum ersten Mal rundblickgerecht live, den originalen Russen im Keller.
Die Laudatio auf den fast 40-minütigen Film "Der Wirt und Ich - Pratajev im Teehaus Protnik" hält Doktor Pichelstein im Atelier des Künstlerhofes, welches, wie die Cordhose eines beleibten Bauern, zu platzen droht. Der Film muss deshalb zweimal aufgeführt werden. Ralf Esche mischt am Rackpult mit anrührendem Ernst den Ton, was nicht leicht ist, da das Publikum zur wahren Heiterkeitsquelle übersprudelt. Einige Schauspieler sind anwesend; der anfangs noch schwer als Brad Pitt getarnte Andreas Krause (S.W. Pratajev) erhält bis tief in die Nacht hinein den größten Beifall. Ebenso Stevs "Hund von erbärmlicher Gestalt", welcher sich mittels gewonnenen Hundekampfes noch sehr russisch seines Widerparts aus dem Hause Ostermeyer beißbellend entledigt.
Am Schwenktopf überm Feuer blubbert leckere Soljanka, schweinernes Fleisch wird in Semmeln verpackt, große Verbrüderungen verlaufen sich in warmer Abendluft und man erkennt: Heute, das ist ein großer Teil, wofür man lebt. Was schön ist, was gut ist, was zu Tränen rührt. Und weinen sollen die andern.



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