Dichter Nebel des Grauens, The Fog, weht über das betonierte Antlitz des Todes; Ilmenau, oh Ilmenau, wie sollen wir Dich unbeschadet, ja schwach beleuchtet finden? Und dabei gilt schon der recht doppelzüngige Zaubersatz: "Wir haben einen Hänger." Tourmanager St. Pauli bekommt ihn bei jedem Ansatzüberholmanöver ums Steuer geblasen. Andreas (Pratajev-Gesellschaft Chemnitz-Zwickau) zählt heute zu den Getreuen; der wieder genesene Nissan rattert, der Anhänger bleibt linientreu. Ilmenau wird an einem nassen Mittwochabend aus der Wetter-Bredouille heraus erreicht, genauer: der technische Universitäts-Campus von Ilmenau. Stev, der rechten Leitplanke nie ganz abgeneigt, erfährt den Habitus eines Helden, überhäuft mit schmatzenden Menisküssen.
Das Uni-Areal gleicht in Konsistenz und Masse dem mallorcinischen Städtchen El Arenal; jedem Wohnblock kam ein hübscher Keller nebst Ausschank zuteil. "BI-Club" neben "BJ-Club", neben "BK-Club" usw. Einfache Technikstudenten in Thüringen haben für lästige Fantasie wenig übrig. The Russian Doctors spielen im "BI". Was wiederum recht schön klingt.
Mit eigener Anlage unterwegs, dauern Aufbau und Soundcheck höchste Negativrekorde. Von Arbeit gezeichnet, begeben sich die Pratajevreisenden in den Backstagebereich, loben den technischen Koch, das Ambiente, den Saft aus Gerste. Die Starke Freundin Sandra eilt umher. Um 23 Uhr drängelt sich nicht gerade das Publikum der Nachfahren revolutionärer Mp3-Entdeckung im Club. Einige sind ob der rätselhaften Texte Pratajevs schier verunsichert. Als blickten sie auf der Bühne in kleine, singende Spielzeug-Bin-Laden-Maschinengewehre. Denn: Russische Poesie kann man eben nicht rational im Satz des Pythagoras erfassen; Technikstudenten ticken ganz anders. Und brauchen Whisky, um davon runter zu kommen. Wie gut, dass es welchen gibt.
Stev filmt für "Mircoles", die von ihm in Co-Produktion gegründete Filmfirma mit Sitz in Leipzig. Vor allem werden heute Doktorenschuhe in Taktaktion abgelichtet. Warum das so ist, mag mit dem Videospiel zum Song "Beim Bücken" in Verbindung stehen.
Beifall tost, "Die Wumme" soll letzte Zugabe sein, Andreas stimuliert whiskeygetränkte Techniker am Merchstand; Hintergründe über das Wesen Pratajevs münden immer wieder in seinem Lieblingslogo: "Vier Köpfe, fünf Meinungen". Doktoren sieden nach Konzertschluss im Schweiß, noch ganz andächtig von der Zwischenrede der Starken Freundin; gab es doch während des Sets unverhoffte Ilmenauer Pratajev-Aufklärungen am Mikrofon. Technikstudentin Olga aus Südtirol wischt ein paar Tränen: "Ich kenne Dostojewski, Puschkin wuchs mir früh ans Herz. Wer aber war dieser S.W. Pratajev?"
Gegen vier in der Früh liegt der Heimatliedertross einige Fußnoten Nebel weiter brav in Zimmer 55. Einer über dem anderen. In zwei Etagenbetten der städtischen Jugendherberge von Ilmenau. Gegen 11 wird geweckt; nicht, wie befürchtet, durch eine Verwandte der Dresdener Herbergsfurie, die heißspornig Tür- zu Brennholz zerhämmert. Jener harsch Klopfende erweist sich als BI-Mann. Es treibt ihn an Stevs Schlüsselbund; der Nebel-Nissan behindert die frische Bierlieferung der Firma Becks. Unten, an der Rezeption, schicken freundliche Gesichter die Herren Makarios, Pichelstein, Stev, Andreas ins nachträglich bereitete Frühstücksgebiet. Zurück fährt man über den schönen Umweg Eisenberg nach Leipzig, dorthin, wo es auch im November schön sein kann. Obwohl Dunkelheit ab 16:00 der hohen sächsischen Selbstmordrate sicherlich gut zur gesteingesichtlichen Statistik steht.
Wenige Stunden zuvor fand die Leipziger Polizei gleich zwei Selbstexekutanten in Hinterhöfen. Einer fiel Gesicht voran, ein anderer hatte zu tief ins Pillenglas geschaut. So etwas ist schon einen Schwermut wert.
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