Saturday, September 02, 2006

Zerkautes Bifi

23. Januar 2004, Jena/Cafe Wagner 
Ein vegetarischer Sprung in den Pfeffertopf

Stev St. Pauli ist mittlerweile nicht nur als freundlicher, sondern auch als emsiger und pünktlicher Tourmanager bekannt. Um 15 Uhr steht der Nissan startbereit vor Doktor Pichelsteins Praxis für Lungenschizophrenie; über den pflichtigen Kosmos-Umweg schleppender Instrumenteabholung nähert man sich gemeinsam der vereisten UpArt-Büroeinfahrt, heißen Pulverkaffee im Visier, den Doktor Makarios in der Zwischenzeit liebevoll herrichten konnte. Zwei knappe Stündchen später, die Mix-Mp3-Scheibe aller je von der Band "Fliehende Stürme" erdachten Songs, läuft bereits zum zweiten Mal, werden erste Monster aus Jenaer Glas am Autobahnrand erspäht. Der unrettbare Plattenvorort Lobeda muss durchfahren werden. Architektonischer Schmucklosschmock mischt sich mit gepflegt verratzter Backsteinoptik. Doch nur hier, denn sonst ist Jena eine sehr schöne Stadt, in der alles nur eine Spur zu klein geraten ist. Winterliche Kernberge umschließen die thüringische Metropole; es hat den Anschein, als trügen sie dunkle Anzüge mit weißen Kavalierstüchlein. 

Im Steigenberger MAXX Hotel an der Stauffenbergstraße 59 will sich ein Mädchen aus Bomberjacke als Küchenhilfe an der Rezeption bewerben. Sehr schwarz gewandete Doktoren kommen ihr zuvor; die gesponserten Codeschlüssel gibt es nur gegen Cash. Im hölzern schmucken Renommee des MAXX-Hotels residiert eben ein gesundes Faible für Misstrauen, wohl sicher nicht ohne Grund. Man befindet sich schließlich in Thüringen. 

Im Café Wagner kocht bereits ein Dampfkessel vorfreudlicher Emotionen, als Stev im Nissan gegen 19 Uhr The Russian Doctors zur Wagnergasse 26 lenkt. Laut fliehen die Stürme, schnell ist der Wagen entladen, sind große Dürste gelöscht. Herr Eddy vom veranstaltenden Majorlabel stellt das Thekenpersonal vor; Doktor Makarios kennt es bereits aus vergangenen Auftritten und verwandelt das in Studentenkreisen heiß beliebte Café in ein Land des Lächelns. Selbst die Schneeflocken an den Fenstern frieren hin zu schön trunkenen Mustern. Die Bühnentechnik erweist sich als gerade ausreichend. Lange tüfteln Russische Doktoren und der Micha-Mischer am Gesamtkunstwerk Bühnensound. Nur aufs gemeinsame Ausrichten der Scheinwerfer wird wegen aufkommender Hungrigkeit verzichtet. Wie gut, dass eine Gitarre auch blind gespielt werden kann; bevor Doktor "Stevie Wonder" Pichelstein die Sonnenbrille auf der Bühne absetzt, müssen schon ganz andere Dinge passieren. 

Erweist sich auch die vorm Auftritt dargebotene Mahlzeit als vegetarischer Sprung in den Pfeffertopf, wird das Konzert ab 21:00 zum Höhepunkt des noch aktuellen Tages. Die Empfindungswelt der ca. 50 Besucher, des somit schon vollen Cafés, wird gestreichelt durch Doktor Makarios' weichen Bariton tausender russischer Seelen, während Doktor Pichelsteins unruhige Hände mal brutal, mal sanftpfötchenhaft über verschiedene Gitarrenhälse huschen. Das heutige Programm setzt sich aus Klassikern und gestern erstmalig im 40-Liederblock uraufgeführten Stücken zusammen. Der Titel "Jeder Schluck ist ein guter Schluck", fügt sich nahtlos in die alkoholische Periode des Sets ein. Als zur letzten Zugabe "Gelber Schnaps" ertönt, hält der Wirt bereits solchen am Tresen für die Doktoren bereit.


Stev wird am Merchstand derweil von neuen Fans umringt. Dauert nach manchen Konzerten der Kauf von Pratajev-Produkten an einzelne Russlandspezialisten oft länger als die herkömmliche Produktion, so bedarf es diesmal weniger aufwendiger Verkaufsgespräche. Viele sind sich einfach sicher, Pratajev bereits in der 1. Klasse gelesen zu haben und freuen sich nun über frisch herausgebrachte Nachschlag- und Hörwerke des Puschkin von Miloproschenskoje. Das Onlinemagazin "Irrturm" lädt ein zum Diktiergerät-Interview. Ein Münchener Punker aus dem Jenaer Szeneadel fragt sozialpädagogische Löcher in die Konzerteure. Dann gehört das Bühnenbild zur gestapelten Nissanlogistik und ein Taxi fährt über den Umweg zur Tankstelle das MAXX-Hotel an. 

Um all die mühevoll zerkauten Bifi-Spezialitäten auch ja über Nacht verdauern zu können, kippen Stev und Doktor Pichelstein in weiser Voraussicht einige Gläschen Tonic-Gordons-Gin aus der Minibar.

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