Historiker lieben die Geschichte nur, wenn sie vorbei ist. Aktuell zieht Doktor Pichelsteins Leben, eingeklemmt zwischen Koffern und Säcken, gerade in raschen Rücksitzzügen vorbei; am vieltriebigen Steuer des heutigen Tourautos sitzt Stev, der freundliche Tourmanager. Für japanische Vierräder wurde einst die linke Autobahnspur erfunden. Stev lächelt am Gaspedal, als gäbe es kein Morgen; gemeinsam mit Doktor Makarios prescht der Nissan auf ausgewuchtetem Gummi gen Dresden. Rasch muss es gehen; Pünktlichkeit ist eine Zangengeburt der Rush Hour. Das wissen nicht nur harte Hebammen.
Vorm Auftrittsort "Bärenzwinger" lauert die Seuche Schilderwahnsinn, gewillt jeden Anreisenden in Sackgassen zu führen, um dort vermutlich dem Bärfraß zum Opfer zu fallen. Psychologische Baustellen, gepaart mit Dresdener Bauarbeiterwitz. Die Idee, den Nissan vorm architektonischen Neutrum der gegenüberliegenden Synagoge zu parken, entlockt dem Zwingerverantwortlichen ein Lächeln: "Und ihr denkt, dass der Mossad die Kiste wirklich nicht vorsorglich in die Luft sprengt?"
Stev stylt den Merchstand schick, Doktoren checken Sounds. Der Mischer ist ein kleiner Mann zwischen 30 und 55, genauer wird es nicht feststellbar. Dick aufgetragene Brillengläser verkünden: Dioptrien sind Sprache - während des Sets wird er vermutlich brillenlos aufwachen und sich fragen, ob er noch da ist. Köstlich muten Leckereien an, vom Verantwortlichen gereicht. Presse- und plakatangekündigt ist der Abend folgendermaßen: Lesung - Makarios (Die Art), darunter: Pichelsteiner Heimatlieder. Nicht Pichelsteiner Eintopf, nein, Heimatlieder. Schöner wäre noch gewesen: Pichelsteiner Heimatlieder aus dem Zittauer Gebirge, was die Kundschaft des Altenheims neben dem Bärenzwinger zu tiefsten Schwärmereien hingerissen hätte. An diesem Abend steht endgültig fest, den Arbeitstitel "The Russian Doctors" spätestens bis zur nächsten Platte besser gleich als Ornament den Werbetreibenden einzubrennen.
Wo Lesung draufsteht, sollen Worte wandeln; Doktor Makarios flechtet die ein oder andere Geschichte Pratajevs ins Set hinein. Als "Pratajev im Dreck", eine jüngst bei Marianowka entdeckte Schrift, welche Pratajev kurz nach Vollendung der "Sorgenphase" (aus welcher z.B. das Sangesstück "Der Arme" entstammt) auf Goldledertapete einer sehr jungen, ostreisenden Moritzburger Fürstin verewigte, erstimmen soll, wähnt der kleine Mann mit den vielen unausgeglichenen Dioptrien, Makarios am Zwingerfirmament. Die Hydraulik der Lichtmischung peitscht aufgeregte weiße Kegel ins Rund, die sich benehmen wie eine Ariane-Weltraumrakete. Der Verkünder pratajevscher Weisheit um einen Kammmolch, den ein frühes Atomkraftwerk veränderte, trägt es mit Grufthumor.
Als Premierestück werden "Lange Haare" gereicht; vieles Publikum freut sich lautstark bis tief in den letzten Akkord hinein. Darunter auch Frau Kern, emsige Spezialistin für Kiew-Reisesoftware, nebst Conigin, deren Ehrenmann die Zugabezeilen aus "Nur ein Traum" in den solchen entführen. Bis er wahr wird und grenzenlose Schönheit als unbezahlbares Parfum verströmt.
Das Taxi bringt Doktor Pichelstein in die Kernsche Privatunterkunft direkt ans Weinfass; Makarios und Stev bleiben - nicht ohne Folgen. So sollen sie es doch hier anmerken.
Anmerkung des Makarios: Wer hätte das geahnt, ein harmlos anmutender Gin-Tonic führt zu einem weiteren und weiteren und das Spiel, welches der Barmann treibt, geht bis gegen 3:00 Uhr. Man schließt Freundschaft, sieht den Tontechniker vom Stuhle kippen, lässt Tourmanager Stev das Auto sicher parken und zieht noch in eine dunkle Neustadtkaschemme, um dann halb 6 in der Frühe abruptes Ausschankverbot zu spüren. Was soll's, man hat ja ein Hotel... Doch dort herrscht noch der Charme von Klassenfahrten vergangener Epochen, die Rezeptionsherrscher befehlen Zimmerkontrolle (allen Ernstes vermutete man im Doktorengemach heimlich versteckte Schwesternschülerinnen, betrunkene Tontechniker und tschechische Zigarettenschmuggler), welche nach nur drei Stunden Schlaf von militärisch ausgebildeten Zimmer-Säuberungs-Kolonnen vollstreckt wurde. Nichts wie weg hier, denn sonst landet man noch wegen hartnäckigem Gemüths in unten von Dr. Pichelstein beschriebener Festung. Und der anmerkende Makarios weiß aus den Frühzeiten des Rock' n Roll, dass die gerechtfertigte Zertrümmerung des Mobiliars zwar eine befreiende Wirkung hat, ansonsten aber ein tiefes Loch in die Tourkasse reißt. Nimm's mit Humor, sagt der Stev ohne e am Ende. Und er hat Recht. Das Wiedersehen mit Dr. Pichelstein beschert einen sächsischen Kaffee und die gewohnte Gastfreundschaft.
Fazit: Dresden ist ´ne wunderbare Stadt, in der wunderbare Menschen wohnen. Einzig das so genannte Jugendgästehaus sollte man meiden, alles andere kann so bleiben...
Anmerkung des Stev: Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen: An diesem denkwürdigen Abend machte ich meine erste Bekanntschaft mit nem Roten Zeuchs (irgendwie schmeckte es nach Anis, war höllisch lecker und Makarios riss mich in letzter Sekunde vom Glas, damit ich keine Überdosis mit einziehe) … wie hieß das denn bloß? … irgendwas mit A-B-S-I-N-T-H…
Nachdem wir im "Bluenote" (ja, so hieß wohl der Laden später in der Neustadt) trotz noch wohlgefüllter Atmosphäre (ca.12 Leute waren noch da!) keine Drinks mehr erhielten, zogen wir Pfannkuchenmampfend (sooo frisch hatte ich noch nie einen gegessen!) gen Taxi.
Irgendwie hatte ich dann später im "Hotel" das Gefühl, nicht sonderlich willkommen zu sein, lustigerweise waren wir aus dem Computer bereits wieder rausgeflogen…
Am Morgen danach das tollste Erlebnis: Ich, angerufen von Dr. Pichelstein, Makarios auf der Toilette verschwunden, durfte, nur unterbehost mit dem Telefon am Ohr, die "nette" Bekanntschaft der Reinigungsfee des Hauses machen welche mich ca. 5min lang darauf hinwies, das wir eigentlich gar nicht mehr hier sein dürften "…Ach und die Betten ziehen sie auch noch ab und tun das Ganze auf den Flur…" TOLL!!! "Darf ich mich auch noch anziehen???"
No comments:
Post a Comment