Der unvermeidliche Morgen fügt den Heimatliedertross endlich wieder zusammen. Satt und zufrieden grinst Pichelstein übers geduschte Gesicht. Abends soll "The Big Chicken", das Örtchen Großhennersdorf, im Dreiländereck nahe der tschechischen Grenze erreicht werden. Das hat Zeit; Kultur und steuerfreie Zigaretten müssen her, Makarios und Stev besprechen die Straßenlage.
An den schiefen Türmen von Pirna vorbei, dringt der Nissan ins Eldorado des Elbsandsteingebirges vor. Stev hat die Weite im müden Blick, Makarios gibt Rauchzeichen in den Pausen. Der CD-Player spielt eine Dresdener Radioshow "Drei Dutzend anderes Dunkel". Ins Auto dringt gusseiserne Melancholie. Im Herbst zuvor lag fast die komplette Sächsische Schweiz unter der Elbknute und ersoff. Man nannte es "Jahrhundertflut", obwohl das Jahrhundert gerade erst begonnen hatte. Mittlerweile liegt die alte Erbtante Elbe samt Nebenflussgezweig zwar wieder brav im Bettchen, doch wer Richtung Schmilka, einem der tschechischen Grenzübergange, unterwegs ist, mutiert auch heute noch zum Zeitnasszeugen zerstörter Straßen- und Putzhäuserschaft.
Die Festung Königstein ist ein Kulturtrüffel der besonderen Art. Für 4 € fährt der Erwachsene mittels Lastenaufzug sehr viele Ohrendruckmeter hinauf, um auf einem 9,5 ha großen Felsplateau in vergangene Epochen zu blicken, welche für manche Zeitgenossen nicht immer angenehm waren. Um die älteste erhaltene Kaserne Deutschlands, neben dem tiefsten Brunnen Sachsens, unweit der Garnisonskirche, blieb so manchem verurteilten Rechtsbrecher der Kerker erspart. Brachen Frauen das Gesetz des Kurfürsten von Sachsen, indem sie zum Beispiel Neugeborene töteten, kam das "Säcken" zum Einsatz. Die Verurteilte wurde nebst Katzen, Hunden und Schlangen in einen Sack gestopft und mit Stäben solange unter Wasser gehalten, bis endlich Ruhe im Sack war. Männern zerschlug man mittels Wagenrad sämtliche Knochen; war der Henker von Gnade beflissen, landete der letzte Radschlag auf dem Adamsapfel. Hatte der Exekutator Lust auf mehr, band er den Delinquenten an einen Baum, wo alsbald hungrige Raben, Rüsselhunde und Kammmolche über ihn herfielen. Die Vorzüge des Kerkers bekamen lediglich jene Adelskinder zu spüren, welche mit einem "hartnäckigen Gemüth" ihre Blaublutsväter in Rotlichtkerzen verwandelten. Im 19. Jahrhundert saß sogar August Bebel wegen Hochverrates ein; er hatte mehr Glück als der Spion Wilhelm Mentzel, den man 33 Jahre lang, größtenteils am Stück, an eine Wand kettete, ohne dass auch nur ein Friseur in seine Nähe kam. Bei historischem Gulasch, Schwarzbier, Buletten und Kartoffelbrei fühlen sich die Heimatliederreisenden dagegen in der Festungsschenke erheblich besser. Auch verfügen sie über Nagelscheren aus Stahl, wenn auch nicht bei Tisch.
Nach Kultur folgt immer Konsum. So auch heute. Der Nissan steuert die Grenze bei Schmilka an. Anrüchig findet eine sehr blonde deutsche Grenzerin das Passfoto des Doktor Pichelstein, überprüft die Plastikkarte, kann aber leider keinen Vollzug melden. Wie sicherlich bereits in der Nacht zuvor. Nur war sie da wohl außer Dienst. In einem Duty Free Shop der Hit Company, Praha, ersteigern die Russischen Doktoren Rauch- und Trinkwaren, spazieren wieder zurück ins Steuerschergenland BRD und nehmen das "Begegnungszentrum im Dreieck" Großhennersdorf in erschlaffender Fahrt aufs Kimmenkorn, Automatenkaffee an Tankstellen nippend.
Großartig, der Saal. Reichhaltig, das Buffet. Prächtig, der Bühnensound. Übernachtungskammern wie in Öl gemalt. Veranstalter Hansi, der eigentlich Frank heißt, gibt alles, um es den musizierenden Gästen so üppig wie möglich zu bereiten. Tourdoktor Stev fällt abrupt in tiefen Schlaf, Makarios kippt Kaffee, Pichelstein ebenso. Schön ist es, auf gerechter Welt zu sein. Alle Bemühungen, die solche Reisen im Vorfeld mit sich ziehen, werden tausendfach zurückgegeben. Koch Francesco bekommt so viele Restaurantsterne, wie es aus dunkler Nacht regnen kann, dem Publikum gebührt der Dank großer Andacht. Nach letzter Zugabe steht die Mengenlehre vorm wieder erwachten Stev und erwirbt viele Pratajev-Bücher. Eines der spielerisch ganz anderen Konzerte ist zu Ende. Von überwältigender Schönheit gefesselt, musste das Set konsequent langmütig gespielt werden. Stev ist bis zum sehr frühen Morgen davon überzeugt, dass selbst ein Song wie "Schleim am Arm" etwas tief Trauriges vermitteln kann. In Anbetracht der frühen Stunde, des fließenden Absinthes, ist ihm Recht zu geben.
Selbst der sechssprachige mozambiqueanische Koch läuft rot an, schüttelt sich, rennt umher, ist fassungslos, jammert: "Das gibt es in Afrika nicht", meint aber in diesem Zusammenhang vielleicht doch die stoßweise Wirkung des grünen Künstlergetränkes der Herren Rimbaud und Van Gogh. Merke: Absinth musst du nippen / Niemals kippen / Sonst feuert dich der Magen an / Wie es sonst nur Tabasco kann.
Anmerkung von Stev: Habe keine Selbstmordgedanken mehr, ich kann auch wieder herzlich lachen!


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