Saturday, September 02, 2006

Nicht ein Glas Schnaps bestellen, nicht zwei, nimm immer die ganze Flasche

 07. November 2003 – Berlin/Schokoladen

Warum nur sind die allermeisten Autofahrer nicht in der Lage, ihr Gefährt zu beherrschen, respektive in einem angemessenen Geschick über Autobahnen zu rasen, das niemandem weh tut? Nein, sie bringen vornehmlich sich und andere um, verteilen blutige Körperteile über die Fahrbahn und bekommen zum Dank dafür ein Kreuz mit auf den Weg gestellt. Die A9 bei Zörbig lässt das alles vermuten. Tote Autofahrer im Wind sind kein Spaß nicht; die Piste ist gesperrt, Makarios und Pichelstein nehmen den Landweg über die „Straße der Chemiker“ in Wolfen. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Der heutige Pratajev-Pokal wird in Mitte ausgetragen, im „Schokoladen“ an der Ackerstraße 169. Ein Club, 1881 von der Steinmetzfamilie Zeidner erbaut, in den 40er Jahren böses Heim uniformierter Hitlerkinder, Schokofabrik bis 1971, besetzt 1990, Wiegenkneipe des Social Beat 1993, seitdem geschätzt, geehrt, geliebt. Atmosphäre eben, wie sie nur Berlin hat. Dies als ärztliche Expertise für den heutigen Auftritt der russischen Doktoren vor vollem Haus. 

Es heißt zwar, dass jeder Mensch nach dem Eintrag ins Einwohnermelderegister der Stadt Berlin seine Freundlichkeit für immer verliert, heute aber ist alles anders. Nur ein einziger, strenger Hauptstadtblick namens Kuno[1] bleibt forsch und fordernd, den übrigen ist ein fröhliches Carpe Diem! zu entnehmen, als Makarios und Pichelstein die Pratajev-Bühne anheizen, bis sie nach allen Zugaben im Schweiße des Glücks donnernd gen Tischstehrund verlassen wird. Wo CD-Autogramme gegeben werden, wo der (einst/jetzt erneut) bei „Sandow“ angestellte Kai-Uwe Kohlschmidt, Doktor Pichelstein den flüssigen, hochprozentigen Sinn des Konzertierens näher bringt: „Du musst den Wirt immer fordern. Nicht ein Glas Schnaps bestellen, nicht zwei, nimm immer die ganze Flasche“. Wo der Libus-Filmemacher Ronald Klein plötzlich im Alter von Jim Morrison weilt, wo Tim Siebert Promomaterialien seiner Band „Krankheit der Jugend“ verteilt, wo Michael Mikus vor einem gut gefüllten Alternative-Art-Portmonee die Runde schwankend verlässt, wo Hörspielautor Kai Grehn von einer kürzlichen Silberhochzeit berichtet, auf der Pratajev-Songs mit K.U. Kohlschmidt zum Besten gegeben wurden, wo Matthias Penzel, Rolling-Stone-Redakteur, auf seine baldige Jörg-Fauser-Biographie anstößt und so weiter. Gut drauf - und gewiss auch gut drunter - sind sie alle. Dann soll es Zeit sein, auch russische Doktoren müssen schlafen. Das Gemach, ein Stockwerk über dem „Schokoladen“, diente schon vielen reisenden Musikern als Ruhestätte. Den Lakenschweiß jedenfalls, den riecht man bis heute.

Es vergnügte sich, das soll noch erwähnt werden, außerdem eine amerikanische Ausflugsgruppe in der Konzertmenge. Eine aufrichtige Berlinerin diente ihnen als Übersetzungsorgan. Vertonte Pratajev-Texte wie „Schlotternde Knie“, „Schlips aus Lurch“ oder „Der Rotarmist“ stießen dabei auf ungemeinen Zuspruch unter den Amerikanern: „What? She had a Rotarmist in her cellar? Great!“   
      

 


[1] Kuno gehörte einst dem frühen Die-Art-Tross, u.a. als Lichtmischer, an. Überlieferte Kuno-Taten können ganze Bücher voller Lach- und Sachgeschichten füllen. Heraus ragt jene, als er nach einem Die-Art-Konzert mit einem Fernseher in der Hand den zuständigen Hotelbesitzer zur morgendlichen Räson bringen wollte. O-Ton: “Raus aus dem Zimmer – oder ich werfe das Ding aus dem Fenster“. Vorausgegangen war ein Streik der Hotel-Putzfrauen, die sich darüber beschwert hatten, dass reinigende Flurarbeit auf sie wartete.   











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