07. November 2003 – Berlin/Schokoladen
Warum
nur sind die allermeisten Autofahrer nicht in der Lage, ihr Gefährt zu
beherrschen, respektive in einem angemessenen Geschick über Autobahnen zu
rasen, das niemandem weh tut? Nein, sie bringen vornehmlich sich und andere um,
verteilen blutige Körperteile über die Fahrbahn und bekommen zum Dank dafür ein
Kreuz mit auf den Weg gestellt. Die A9 bei Zörbig lässt das alles vermuten. Tote
Autofahrer im Wind sind kein Spaß nicht; die Piste ist gesperrt, Makarios und
Pichelstein nehmen den Landweg über die „Straße der Chemiker“ in Wolfen.
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Der heutige Pratajev-Pokal wird in
Mitte ausgetragen, im „Schokoladen“ an der Ackerstraße 169. Ein Club, 1881 von
der Steinmetzfamilie Zeidner erbaut, in den 40er Jahren böses Heim
uniformierter Hitlerkinder, Schokofabrik bis 1971, besetzt 1990, Wiegenkneipe
des Social Beat 1993, seitdem geschätzt, geehrt, geliebt. Atmosphäre eben, wie
sie nur Berlin hat. Dies als ärztliche Expertise für den heutigen Auftritt der
russischen Doktoren vor vollem Haus.
Es
heißt zwar, dass jeder Mensch nach dem Eintrag ins Einwohnermelderegister der
Stadt Berlin seine Freundlichkeit für immer verliert, heute aber ist alles
anders. Nur ein einziger, strenger Hauptstadtblick namens Kuno[1]
bleibt forsch und fordernd, den übrigen ist ein fröhliches Carpe Diem! zu
entnehmen, als Makarios und Pichelstein die Pratajev-Bühne anheizen, bis sie
nach allen Zugaben im Schweiße des Glücks donnernd gen Tischstehrund verlassen
wird. Wo CD-Autogramme gegeben werden, wo der (einst/jetzt erneut) bei „Sandow“
angestellte Kai-Uwe Kohlschmidt, Doktor Pichelstein den flüssigen,
hochprozentigen Sinn des Konzertierens näher bringt: „Du musst den Wirt immer
fordern. Nicht ein Glas Schnaps bestellen, nicht zwei, nimm immer die ganze
Flasche“. Wo der Libus-Filmemacher Ronald Klein plötzlich im Alter von Jim
Morrison weilt, wo Tim Siebert Promomaterialien seiner Band „Krankheit der
Jugend“ verteilt, wo Michael Mikus vor
einem gut gefüllten Alternative-Art-Portmonee die Runde schwankend verlässt, wo
Hörspielautor Kai Grehn von einer kürzlichen Silberhochzeit berichtet, auf der
Pratajev-Songs mit K.U. Kohlschmidt zum Besten gegeben wurden, wo Matthias
Penzel, Rolling-Stone-Redakteur, auf seine baldige Jörg-Fauser-Biographie
anstößt und so weiter. Gut drauf - und gewiss auch gut drunter - sind sie alle.
Dann soll es Zeit sein, auch russische Doktoren müssen schlafen. Das Gemach,
ein Stockwerk über dem „Schokoladen“, diente schon vielen reisenden Musikern
als Ruhestätte. Den Lakenschweiß jedenfalls, den riecht man bis heute.
Es
vergnügte sich, das soll noch erwähnt werden, außerdem eine amerikanische
Ausflugsgruppe in der Konzertmenge. Eine aufrichtige Berlinerin diente ihnen
als Übersetzungsorgan. Vertonte Pratajev-Texte wie „Schlotternde Knie“,
„Schlips aus Lurch“ oder „Der Rotarmist“ stießen dabei auf ungemeinen Zuspruch
unter den Amerikanern: „What? She had a Rotarmist in her cellar? Great!“
[1]
Kuno gehörte einst dem
frühen Die-Art-Tross, u.a. als Lichtmischer, an. Überlieferte Kuno-Taten können
ganze Bücher voller Lach- und Sachgeschichten füllen. Heraus ragt jene, als er
nach einem Die-Art-Konzert mit einem Fernseher in der Hand den zuständigen Hotelbesitzer
zur morgendlichen Räson bringen wollte. O-Ton: “Raus aus dem Zimmer – oder ich
werfe das Ding aus dem Fenster“. Vorausgegangen war ein Streik der
Hotel-Putzfrauen, die sich darüber beschwert hatten, dass reinigende Flurarbeit
auf sie wartete.
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