Saturday, September 02, 2006

Auf dem Polenmarkt

08.Novemberr 2003 - Bad Muskau/Turmvilla

Der gesamtherbstliche Spreewald ist heute geschlossen. So etwas kann man nicht vorhersehen; hungrig umkurvt der Heimatliedertreck unbewohnte Kleinstwege zwischen Berlin und Cottbus, auf der Suche nach einem idyllischen Waldrestaurant am entenschnatternden Wasser. Eine Stunde und mehr dauert die Odyssee. Jedes Restaurant wird zum final geschlossenen Endziel eines Hinweisschilderwaldes und damit hat es sich auch. Fazit der Hungersnot im Tourauto: Ist die letzte Spreewaldgurke gepflückt / Der letzte polnische Saisonarbeiter sich hat gebückt / Dann ist es aus mit Hirsch und Braten / Wanderer, iss Kirchenoblaten / Bevor du verhungerst / Und länger noch im Spreewald rumlungerst. 

Am kargen Nachmittag fallen die in Not geratenen russischen Hungerdoktoren über das städtische Gasthaus "Zur alten Mühle" in Lübbenau her. Kein plätschernd' Wasser ringsherum, nirgends prächtige Landschaft, dafür Steaks aus Rump und Hüfte an der Dammstraße 2a. Weiter geht's bis nach Bad Muskau, ein hübsch verschlafenes Nest an der polnischen Grenze. Selten lernen Einheimische dieser Orte so genannte "neue Leute" kennen. Damit das nicht immer so bleibt, sorgen sie stets rasch für Nachwuchs und früh für viele Kinder.




Das Soziokulturelle Zentrum "Turmvilla" im Muskauer Park ist ein Hort der Andacht. Verglichen mit dem "Schokoladen" am Tag zuvor in Berlin, haben es Makarios und Pichelstein heute mit Anmut und Grazie architektonisch sanierter Schönheit zu tun. Zwar haben die Bad Muskauer nun in den letzten Jahren doch nicht so viele konzertfähige Kinder bekommen, wie erwartet, läuft "Wetten, dass???" im Fernsehen, hat man Tags zuvor in polnischen Schnapswannen gebadet - die Gesetze einer provinziellen Kneipenkultur sind eben relativ. Trotzdem darf dem Abend nichts nachgetragen werden. Der weinreiche Lachs auf erlesenem Blattspinat geht über in süßliche Tropfen bester Getränke, etwa 30 Bad Muskauer füllen Tische mit sich, das Konzert wird zum wohligen Klangkörper. Erhabener Applaus ist die schöne Folge. Kleinste Berührungen von Gitarrensaiten verzuckern und werden ein Fall für den Konditor. Der Chor der Weisen erhebt sich zu einer einzigartigen Sangesbotschaft im Geiste Pratajevs. Nach dem Konzert werden die außerirdischen Makarios und Pichelstein aktive Gasthörer an den Tischen der Bad Muskauer und bekommen bis zum liebevoll gerichteten Pensionsgemach jede Menge Orden der Freundschaft verliehen. 

Edelvoll und samtig satt gefrühstückt steht am nächsten Tag "Kurzvisite" auf dem operierenden Polenmarktprogramm der russischen Doktoren. Das dort reichhaltige Angebot, etwa zwanzig Meter jenseits der Noch-EU-Grenze, funktioniert wie die Lockware bunter Herrenmagazine: Wo Sex draufsteht, ist er selten drin. Bezieht man diesen Merksatz auf litauische Zigaretten mit dem Aufdruck: Prince Danmark, kommt man bei Versuchsgenuss zu einem sehr ähnlichen Schluss. 

Über Weißwasser, Stadt des Glases und des Sports, Stadt tiefer Braunkohleareale nebst Kraftwerkanlagen, führt ein verhangener, braungrauer Novembermittag vorbei an potemkinschen Dörfern, heim in die Leipziger Freiheit der Liebe. 

PS: Vorsicht, rasende Autofahrer! Wegen unmittelbarer Nähe zum Nachbarland hat man sich das Aufstellen von Tankstellen bis hin nach Bautzen weiträumig gespart. Wer nun aber steuerlich und "Geiz ist geil" günstiger betankt werden möchte, muss lange Wartezeiten bei der Ausreise in Kauf nehmen. Nur fragen Sie mich nicht, ob es tatsächlich Kraftstoff ist, der Ihnen auf diese Weise eingeschenkt wird.

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